7.
Befugnisse der Sicherheitsbehörden
7.1
1Anordnungen im Sinn von Art. 7 Abs. 1 sind Anordnungen für den Einzelfall sowie Verordnungen, das heißt allgemein verbindliche Gebote und Verbote, die für eine unbestimmte Zahl von Fällen an eine unbestimmte Zahl von natürlichen oder juristischen Personen gerichtet sind und gleichbleibend gelten. 2Eine sonstige Maßnahme ist die Regelung eines Einzelfalls ohne vorausgehende Anordnung durch unmittelbaren Zugriff der Behörde auf eine Person oder Sache (vergleiche Art. 7 Abs. 3, sogenannte Tatmaßnahme).
7.2
1Gesetzliche Ermächtigung im Sinn von Art. 7 Abs. 2 ist die Befugnisnorm in einem Spezialgesetz oder im Dritten Teil des Landesstraf- und Verordnungsgesetzes. 2Anordnungen für den Einzelfall im Sinn von Art. 7 Abs. 2 können mit den Mitteln des Verwaltungszwangs nach den Art. 29 ff. VwZVG vollstreckt werden, wenn die Anordnung unanfechtbar geworden oder die sofortige Vollziehung nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) angeordnet ist.
7.3
Insbesondere folgende Spezialvorschriften gehen den Anordnungen nach Art. 7 Abs. 2 vor:
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Art. 12, 15 in Verbindung mit Art. 24 Abs. 2 Satz 1 des Bayerischen Versammlungsgesetzes (BayVersG),
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§ 41 Abs. 1 und 2 des Waffengesetzes,
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§ 15 Abs. 2, §§ 35, 51 Satz 1, § 56a Abs. 7, §§ 57, 59, 60d, 70a der Gewerbeordnung (GewO),
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§§ 5, 12, 19 des Gaststättengesetzes (GastG),
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Art. 16, 18b des Bayerischen Straßen- und Wegegesetzes (BayStrWG),
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§ 24 der Ersten Verordnung zum Sprengstoffgesetz (1. SprengV),
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Art. 16 des Bayerischen Pressegesetzes,
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§ 16 Abs. 3 des Gesetzes zur Ordnung des Handwerks,
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§§ 20, 24, 25, 25a des Bundes-Immissionsschutzgesetzes (BImSchG),
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§ 16 Abs. 1, § 17 Abs. 1 bis 3, § 28 Abs. 1 und 2, § 29 Abs. 1, § 30 Abs. 1 und 2, §§ 31, 39 Abs. 2 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG),
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§ 5, § 24 Abs. 3, § 38 Abs. 11 des Gesetzes zur Vorbeugung vor und Bekämpfung von Tierseuchen,
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§ 16a des Tierschutzgesetzes (TierSchG),
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§ 49 Abs. 5 des Gesetzes über die Elektrizitäts- und Gasversorgung,
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§§ 71 bis 73 des Bundesberggesetzes,
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§ 39 Abs. 1, § 40 Abs. 2 des Kreislaufwirtschaftsgesetzes (KrWG),
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Art. 20, 21, 22, 26 Abs. 1, Art. 27 Abs. 2 des Bayerischen Abfallwirtschaftsgesetzes,
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Art. 19 Abs. 5, Art. 23, 24 Abs. 2, Art. 26 Abs. 2, Art. 28 Abs. 3, Art. 29 Abs. 1, Art. 61 LStVG,
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Art. 57, 74, 75, 76 der Bayerischen Bauordnung (BayBO),
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§ 3 Abs. 2, § 17 Abs. 8 des Bundesnaturschutzgesetzes (BNatSchG),
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Art. 6 Abs. 2, Art. 12 Abs. 3, Art. 18 Abs. 2, Art. 31, 34 Abs. 3, Art. 35, 38, 54 Abs. 2 des Bayerischen Naturschutzgesetzes (BayNatSchG),
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Art. 58 Abs. 1 Satz 1 des Bayerischen Wassergesetzes (BayWG),
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Art. 12 Satz 1 des Bayerischen Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetzes (BayPsychKHG),
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Art. 14 Abs. 1 des Bestattungsgesetzes,
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§ 21 der Garagen- und Stellplatzverordnung,
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§ 24 der Verordnung über die Verhütung von Bränden (VVB).
7.4
Die Generalklausel von Art. 7 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 normiert Tatbestände, bei deren Erfüllung die Sicherheitsbehörden für den Einzelfall Anordnungen treffen können, beispielsweise zur Abwehr von Gefahren für die dort angegebenen Rechtsgüter.
7.4.1
1Verhüten ist jede vorbeugende Tätigkeit der Sicherheitsbehörden, die darauf gerichtet ist, konkret drohende Handlungen nicht zustande kommen zu lassen, die Gefahren für die öffentliche Sicherheit und/oder Ordnung verursachen. 2Unterbinden meint die Fortsetzung einer bereits begonnenen, aber noch nicht abgeschlossenen Handlung verhindern. 3Beseitigen bedeutet einen Zustand aufheben, beenden oder die ihn verursachende Handlung rückgängig machen. 4Sachwerte, deren Erhaltung im öffentlichen Interesse geboten erscheint, sind im Privateigentum oder im Eigentum des Staates oder anderer juristischer Personen des öffentlichen Rechts stehende bewegliche Sachen oder Grundstücke, die aus überwiegendem Allgemeininteresse vor Zerstörung zu schützen und zu erhalten sind.
7.4.2
1Primäre Aufgabe der Sicherheitsbehörden ist die Verhütung oder Unterbindung von Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten. 2Hierfür räumt Art. 7 Abs. 2 Nr. 1 die notwendige Befugnis ein. 3Dem Gesetzeswortlaut zufolge kommt es dabei nicht auf ein Verschulden des Betroffenen an; das Gleiche gilt für die Bekämpfung von verfassungsfeindlichen Handlungen im Sinn von Art. 7 Abs. 5. 4Art. 7 Abs. 2 Nr. 2 enthält die Befugnis, durch solche Handlungen verursachte Gefahrenzustände zu beseitigen. 5Art. 7 Abs. 2 Nr. 3 enthält eine allgemeine Befugnis zur Gefahrenabwehr oder Störungsbeseitigung, wenn Leben, Gesundheit oder Freiheit von Menschen konkret gefährdet oder verletzt sind. 6Diese existentiellen Schutzgüter (vergleiche Art. 1, 2 GG, Art. 100 ff. BV) genießen absoluten Vorrang gegenüber anderen Rechten. 7Zu ihrem Schutz räumt Art. 7 Abs. 2 Nr. 3 den Sicherheitsbehörden eine generalklauselartige Befugnisnorm ein. 8Ihr Anwendungsbereich erstreckt sich von der Beseitigung drohender Felsstürze über das Verbot von Veranstaltungen, den Erlass von Aufenthalts- und Kontaktverboten und die Anordnung von Meldeauflagen bis zur Unterbringung von Obdachlosen durch Beschlagnahmeanordnungen (vergleiche Nr. 7.6.3). 9Art. 7 Abs. 2 Nr. 3 befugt darüber hinaus zur Gefahrenabwehr oder Störungsbeseitigung, wenn Sachwerte bedroht oder verletzt sind, deren Erhaltung im öffentlichen Interesse, das heißt im Interesse der Allgemeinheit, geboten erscheint. 10Die Erfordernisse der Notwendigkeit, der Geeignetheit und der Verhältnismäßigkeit bleiben unberührt. 11Art. 7 Abs. 2, insbesondere Nr. 3, stellt einen allgemeinen Auffangtatbestand dar, der dann Anwendung findet, wenn spezielle Rechtsvorschriften nicht in Betracht kommen (vergleiche Nr. 6.2 und 7.3).
7.5
In Fällen in denen eine Anordnung nach Art. 7 Abs. 2 nicht möglich, nicht zulässig ist oder keinen Erfolg verspricht, kommt Art. 7 Abs. 3 in Betracht.
7.5.1
1
Art. 7 Abs. 3 sieht ein unmittelbares Tätigwerden der Sicherheitsbehörden vor, wenn Maßnahmen nach Abs. 2 nicht möglich, nicht zulässig oder nicht erfolgversprechend sind (sogenannte Tatmaßnahme). 2Eine Anordnung nach Art. 7 Abs. 2 ist dann nicht möglich, wenn tatsächliche Gründe entgegenstehen, so zum Beispiel wenn eine verantwortliche Person nicht vorhanden, nicht bekannt oder nicht feststellbar ist. 3Eine Anordnung nach Art. 7 Abs. 2 ist nicht zulässig, wenn ein Handeln, Dulden oder Unterlassen verlangt wird, das einen Gesetzesverstoß darstellt. 4Einer Anordnung können auch privatrechtliche Verpflichtungen des Normadressaten (zum Beispiel Verträge) und sonstige öffentlich-rechtliche Gründe (zum Beispiel Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, vergleiche Art. 8) entgegenstehen. 5Unzulässig und zudem nicht erfolgversprechend ist eine Anordnung auch, wenn ein Handeln, Dulden oder Unterlassen verlangt wird, das für den Betroffenen objektiv oder subjektiv unmöglich ist oder für diesen ein unzumutbares Opfer bedeutet (zum Beispiel Art. 9 Abs. 3 Satz 2). 6Eine Anordnung verspricht auch dann keinen Erfolg, wenn die verantwortliche Person zwar bekannt ist oder festgestellt werden kann, aber nicht so rechtzeitig erreichbar ist, wie es die Abwehr der Gefahr oder die Beseitigung der Störung erfordert.
7.5.2
Unmittelbare Maßnahmen im Sinn von Art. 7 Abs. 3 (vergleiche auch die unmittelbare Ausführung nach Art. 9 PAG) treffen die Sicherheitsbehörden durch eigene Bedienstete und/oder unter Einsatz eigener Sachmittel (zum Beispiel mit Maschinen des gemeindlichen Bauhofs oder mit Geräten der Feuerwehr).
7.5.3
1Sofern sich die Gefahr oder Störung durch die Polizei abwehren oder beseitigen lässt, kann diese von der Sicherheitsbehörde als ausführendes Organ bestimmt werden. 2Die Maßnahme wird von der Polizei im Rahmen einer zugewiesenen Aufgabe im Sinn von Art. 2 Abs. 4 PAG getroffen, bleibt aber ein Verwaltungsakt der Sicherheitsbehörde. 3Rechtsgrundlage für die polizeilichen Maßnahmen ist dabei nicht das materielle Polizeirecht, sondern Art. 7 Abs. 3.
7.5.4
1Die Sicherheitsbehörde kann eine Gefahr oder Störung auch durch vertraglich Beauftragte abwehren oder beseitigen. 2Vertraglich Beauftragte im Sinn von Art. 7 Abs. 3 sind Unternehmer, die aufgrund privatrechtlicher Vereinbarungen (zum Beispiel nach §§ 631 ff. des Bürgerlichen Gesetzbuchs – BGB) von der Sicherheitsbehörde mit der unmittelbaren Ausführung beauftragt worden sind (zum Beispiel Handwerksbetriebe, Sachverständige).
7.5.5
1Für die unmittelbare Ausführung einer Maßnahme nach Art. 7 Abs. 3 werden Kosten (Gebühren und Auslagen) nach den allgemeinen kostenrechtlichen Vorschriften erhoben. 2Kostenschuldner ist der Verantwortliche, soweit sein Tun oder Unterlassen für die Amtshandlung ursächlich war und er dieses Tun oder Unterlassen zu vertreten hat.
7.6
Einschränkungen der Anordnungen oder Maßnahmen auf der Grundlage des Art. 7 Abs. 2 und 3 ergeben sich unter anderem aus Art. 7 Abs. 4.
7.6.1
1Maßnahmen, die Art. 7 Abs. 4 für die Sicherheitsbehörden ausschließt, können zur Abwehr konkreter Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung von der Polizei anhand der polizeirechtlichen Befugnisnormen getroffen werden, auch wenn kein unaufschiebbarer Fall im Sinn von Art. 3 PAG vorliegt. 2In diesem Zusammenhang wird auf das Weisungsrecht der Sicherheitsbehörden gegenüber der Polizei gemäß Art. 9 Abs. 2 des Polizeiorganisationsgesetzes (POG) hingewiesen (vergleiche auch Art. 10 Satz 2).
7.6.2
1Nach Art. 7 Abs. 2 und 3 nicht einschränkbare Grundrechte sind die Freiheit der Person und die Unverletzlichkeit der Wohnung (vergleiche Art. 7 Abs. 4). 2Allerdings lässt Art. 13 Abs. 7 GG zur Abwehr einer gemeinen Gefahr oder einer Lebensgefahr für einzelne Personen Eingriffe und Beschränkungen gegenüber dem Grundrecht der Unverletzlichkeit der Wohnung mit Ausnahme von Durchsuchungen auch ohne besondere gesetzliche Ermächtigung zu. 3Das Grundrecht auf Eigentum kann durch Maßnahmen der Sicherheitsbehörden nach Art. 7 Abs. 2 und 3 eingeschränkt werden (vergleiche Art. 58).
7.6.3
Zur Unterbringung Obdachloser wird auf die Gemeinsame Bekanntmachung der Bayerischen Staatsministerien für Familie, Arbeit und Soziales, des Innern, für Sport und Integration, für Wohnen, Bau und Verkehr sowie für Gesundheit und Pflege über die Empfehlungen für das Obdach- und Wohnungslosenwesen vom 2. Oktober 2023 (BayMBl. Nr. 518, 2024 Nr. 66) verwiesen.
7.7
Verstöße gegen vollziehbare Anordnungen einer Meldeauflage, eines Betretungsverbots oder eines Aufenthaltsverbots können mit Geldbuße nach Art. 7 Abs. 6 geahndet werden.
7.7.1
1Mit dem Gesetz zur Änderung des Polizeiaufgabengesetzes und weiterer Rechtsvorschriften vom 23. Juli 2024 (GVBl. S. 247) wurde Art. 7 Abs. 6 LStVG eingeführt. 2Dieser ermöglicht eine Ahndung von vorsätzlichen oder fahrlässigen Zuwiderhandlungen gegen vollziehbare Anordnungen einer Meldeauflage, eines Betretungsverbots oder eines Aufenthaltsverbots mit Geldbuße bis zu dreitausend Euro.
7.7.2
1Eine Meldeauflage ist eine Anordnung die einen Betroffenen verpflichtet, sich innerhalb eines bestimmten Zeitraums oder zu einem bestimmten Zeitpunkt bei einer bestimmten staatlichen Stelle (zumeist einer Polizeidienststelle) zu melden und sich dort durch ein gültiges Personaldokument auszuweisen. 2Anwendungsbereiche hierfür waren in der Vergangenheit typischerweise Fälle von gewaltbereiten Hooligans etwa bei Fußballspielen. 3Mithilfe der Meldeauflage konnte verhindert werden, dass die Hooligans zu einem Sportereignis anreisen konnten. 4Darüber hinaus kommt die Meldeauflage in Fällen häuslicher Gewalt zur Anwendung. 5Betretungs- und Aufenthaltsverbote untersagen dem Betroffenen, sich innerhalb eines bestimmten Zeitraums oder zu einem bestimmten Zeitpunkt an einen bestimmten Ort zu begeben und sich dort aufzuhalten. 6Anwendungsfälle können zum Beispiel gewaltbereite Personen sein, die von der Teilnahme an einem Volksfest ausgeschlossen werden sollen.
7.7.3
1Die Anordnung muss vollziehbar sein. 2Sie kann zum Beispiel entweder durch die erlassende Behörde für sofort vollziehbar erklärt werden, § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO, oder anderweitig rechtskräftig geworden sein (beispielsweise durch Eintritt der Bestandskraft).