39.
Verbot des Mehrfachauftretens (Art. 24 Abs. 3 und 4)
39.1
Prüfungsmaßstab
1Der Bayerische Verfassungsgerichtshof (vgl. BayVerfGH, Entscheidung vom 28. Januar 1993, Az. Vf. 25-VI-92, BayVBl. 1993, 206; BayVerfGH, Entscheidung vom 2. Oktober 1969, Az. Vf. 3-VI-69, BayVBl. 1970, 60 ff.) hat betont, dass die Frage, ob ein unzulässiges Mehrfachauftreten vorliegt, vornehmlich anhand formeller Kriterien zu überprüfen ist. 2Politische Vorgänge, die außerhalb des Wahlverfahrensrechts liegen, dürfen nicht in Betracht gezogen werden. 3Dem Wahlausschuss, der Rechtsaufsichtsbehörde und den Gerichten ist es verwehrt, etwa Ermittlungen darüber anzustellen, ob und welcher Partei oder Wählergruppe eine sich bewerbende Person angehört und von welcher Seite sie unterstützt wird. 4Außer Betracht bleiben muss ferner, ob eine Partei oder eine Wählergruppe die Kandidatur ihrer Mitglieder auf fremden Wahlvorschlägen billigt oder ablehnt oder ob sie Folgerungen aus einer solchen Kandidatur zieht. 5Ein Wahlvorschlag darf auch nicht daraufhin überprüft werden, ob und wie stark das Programm der ihn tragenden Wählergruppe dem Programm einer anderen Partei oder Wählergruppe ähnelt.
39.2
Anwendungsfälle
39.2.1
Zu Art. 24 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1
1Vorbehaltlich Art. 24 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 bis 4 ist es z. B. wahlrechtlich zulässig, dass sich Angehörige eines Wahlvorschlagsträgers oder einer seiner Untergliederungen zusammen mit anderen Wahlberechtigten zu einer Wählergruppe zusammenschließen, um einen eigenen Wahlvorschlag einzureichen.
2Untergliederungen wie Orts- und Kreisverbände können neben dem Wahlvorschlagsträger keinen eigenen Wahlvorschlag mit dessen Organisationsnamen als Kennwort einreichen. 3Auch kann der Name der Untergliederung nicht dem Kennwort des Wahlvorschlagsträgers angefügt werden, da dieser Name dem Wahlvorschlagsträger zuzurechnen ist.
4Nach Art. 24 Abs. 3 Satz 4 ist eine Organisation keine Untergliederung, wenn man in ihr Mitglied sein kann, ohne zugleich Mitglied des Wahlvorschlagsträgers zu sein. 5Nach der Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 3. August 2009 (Az. 4 ZB 08.3169) genügt es für die Annahme einer Untergliederung insbesondere nicht, wenn nur der Vorstand der Organisation Mitglied des Wahlvorschlagsträgers sein muss.
39.2.2
Zu Art. 24 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2
1Unzulässig ist es, wenn sich derselbe Wahlvorschlagsträger in Gruppierungen für verschiedene Gebiete des Wahlkreises aufspaltet, um für diese Gebiete eigene Wahlvorschläge einzureichen (z. B. „X-Partei nördlicher Landkreis“ und „X-Partei südlicher Landkreis“). 2Dem Verbot des Mehrfachauftretens steht nicht entgegen, dass sich für verschiedene Teile eines Wahlkreises verschiedene selbstständige Wahlvorschlagsträger bilden, die das im Kennwort zum Ausdruck bringen (z. B. „Wählervereinigung nördlicher Landkreis“). 3Auch in diesen Fällen müssen die Aufstellungsversammlungen für den gesamten Wahlkreis einberufen werden.
39.2.3
Zu Art. 24 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3
1 Art. 24 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 betrifft zunächst den Fall, dass ein- und dieselbe Aufstellungsversammlung mehrere Wahlvorschläge beschließt. 2Nichts anderes kann aber dann gelten, wenn zwar eine weitere Versammlung zu einem anderen Zeitpunkt stattfindet, die Mehrheit der dort versammelten Wahlberechtigten aber bereits die Mehrheit der anderen Aufstellungsversammlung gebildet hat. 3Das lässt sich anhand der Anwesenheitsliste feststellen. 4Entscheidend für die Eigenständigkeit der Versammlung ist nämlich die durch das Wahlrecht ihrer Teilnehmerinnen und Teilnehmer vermittelte demokratische Legitimation.
5Es ist nicht ausgeschlossen, dass Wahlberechtigte an mehreren Aufstellungsversammlungen teilnehmen, wenn Anhänger einer Partei oder einer Wählergruppe mit ihrem Vorschlag bei ihrer Organisation nicht zum Zug kommen oder andere politische Ziele verfolgen als die Kandidatinnen und Kandidaten auf den Wahlvorschlägen „ihrer“ Partei oder Wählergruppe (BVerfG, Beschluss vom 17. Oktober 1994, Az. 2 BvR 347/93, BayVBl. 1995, 148). 6Mit „ihrem Vorschlag bei ihrer Organisation nicht zum Zug gekommen“ sind diejenigen Wahlberechtigten, die z. B. mit ihrem Vorschlag in der Aufstellungsversammlung unterlegen sind. 7Ihnen muss die Möglichkeit eingeräumt werden, an einer anderen Aufstellungsversammlung teilzunehmen. 8Wahlberechtigte haben es in der Hand, durch neu gebildete Wählergruppen weitere Wahlvorschläge aufzustellen, wenn ihnen das durch Art. 24 Abs. 3 Satz 1 begrenzte personelle Angebot nicht genügt. 9Andererseits ist grundsätzlich nicht nachweisbar, welche konkrete Person überstimmt worden ist, mit ihren Vorstellungen also „nicht zum Zug gekommen ist“, da die Abstimmung in der Aufstellungsversammlung geheim ist. 10Eine diesbezügliche „Meinungserforschung“ wäre auch mit der rein formalen Prüfung von Wahlvorschlägen nicht vereinbar.
11Das Verbot, mehrere Wahlvorschläge in derselben Versammlung aufzustellen, gilt nur für dieselbe Wahl. 12Ein Wahlvorschlagsträger darf in derselben Versammlung selbstverständlich neben dem Wahlvorschlag für die Bürgermeisterwahl einen Wahlvorschlag für die Gemeinderatswahl bzw. neben der Landratswahl einen Wahlvorschlag für die Kreistagswahl aufstellen.
39.2.4
Zu Art. 24 Abs. 3 Satz 2 Nr. 4
1Maßgeblich ist, ob Organe eines Wahlvorschlagsträgers oder seiner Untergliederung einen weiteren Wahlvorschlag beherrschend betreiben. 2Dieses beherrschende Betreiben definiert der Verfassungsgerichtshof (z. B. BayVerfGH, Urteil vom 18. März 1993, Az. Vf. 41-VI-92, BayVBl. 1993, 336 ff.) wie folgt:
„Ein beherrschendes Betreiben liegt nicht schon dann vor, wenn Organe einer Partei oder einer Untergliederung die Gründung einer neuen Wählergruppe anregen, befürworten, billigen oder unterstützen. Hinzukommen müsste vielmehr, dass sie den anderen Wahlvorschlag so maßgebend und bestimmend als ihren eigenen organisieren und gestalten, dass ins Gewicht fallende Einflussmöglichkeiten anderer Mitwirkender auszuschließen sind. Es müsste eine Fallgestaltung vorliegen, die für die Teilnehmer der Aufstellungsversammlung keine Zweifel daran ließe, dass die neue Wählergruppe in Wahrheit nur die Zweitliste einer anderen Partei ohne eigenständige Bedeutung sein soll.“
39.2.5
Zu Art. 24 Abs. 3 Satz 5
1Falls die Wahlleiterin oder der Wahlleiter bei der Prüfung der Wahlvorschläge (Art. 32 Abs. 1 Satz 1) aufgrund der oben genannten Beurteilungsmaßstäbe zur Auffassung gelangt, dass möglicherweise ein unzulässiges Mehrfachauftreten vorliegt, hat sie oder er den Wahlvorschlagsträger (siehe Art. 30 Abs. 2) unverzüglich aufzufordern, sich für den Fall, dass vom Wahlausschuss ein Mehrfachauftreten festgestellt wird, für einen Wahlvorschlag zu entscheiden. 2Die endgültige Feststellung, ob ein Mehrfachauftreten vorliegt, trifft der Wahlausschuss im Rahmen der Zulassung der Wahlvorschläge (Art. 32 Abs. 2).
3Hat der Wahlausschuss die Wahlvorschläge zurückgewiesen, weil er ein unzulässiges Mehrfachauftreten festgestellt hat, kann die Mitteilung des Wahlvorschlagsträgers, für welchen Wahlvorschlag er sich entscheidet (Art. 24 Abs. 3 Satz 5), noch bis zur abschließenden Entscheidung des Wahlausschusses und bis zur Entscheidung des Beschwerdeausschusses erfolgen (§ 47 Abs. 1 Nr. 8). 4Hierüber ist ein Beschluss in einer Aufstellungsversammlung erforderlich.
5Bejaht der Wahlausschuss ein Mehrfachauftreten und liegt eine Erklärung der Wahlvorschlagsträger nicht rechtzeitig vor, sind alle Wahlvorschläge zurückzuweisen, wenn nicht die weiteren Wahlvorschläge bereits wegen sonstiger Mängel ungültig sind (vgl. BayVGH, Urteil vom 7. November 1979, Az. 4.B – 559/79, VGHE, 32, 153).
39.2.6
Untergliederungen von Wahlvorschlagsträgern (Art. 24 Abs. 4)
1Die Wahlleiterin oder der Wahlleiter kann Erklärungen und Unterlagen zu Untergliederungen von Wahlvorschlagsträgern anfordern, wenn sie oder er das für erforderlich hält, um begründete Zweifel am Bestehen einer Untergliederung auszuräumen. 2Wenn keine Mitteilung erfolgt oder keine Unterlagen vorgelegt werden, kann die Anforderung mit den Mitteln des Verwaltungszwangs durchgesetzt werden. 3Werden Zweifel hinsichtlich des Bestehens einer Untergliederung und eines damit möglichen Mehrfachauftretens nicht ausgeräumt, ist dies im Rahmen der freien Beweiswürdigung bei der Zulassungsentscheidung des Wahlausschusses zu bewerten.