Inhalt

Text gilt ab: 01.10.2021
Gesamtvorschrift gilt bis: 30.09.2026

2. Fakultatives Widerspruchsverfahren (Art. 15 Abs. 1 AGVwGO)

2.1 Abschließende Aufzählung

1Das in Art. 15 Abs. 1 AGVwGO eröffnete Wahlrecht zwischen Widerspruchseinlegung und Klageerhebung setzt voraus, dass der angegriffene Verwaltungsakt nach Inhalt, Gegenstand und Zielsetzung einem der in Art. 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 6 AGVwGO aufgeführten Rechtsbereiche zuzuordnen ist oder ein beamtenrechtliches Leistungs- oder Feststellungsbegehren verfolgt wird (Art. 15 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AGVwGO). 2Die Aufzählung ist abschließend.

2.2 Atypische Vorschriften

Sind in einer Rechtsvorschrift, die einem der in Art. 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 6 AGVwGO aufgezählten Rechtsbereiche zuzuordnen ist, atypische Vorschriften enthalten, die nach Inhalt, Gegenstand und Zielsetzung einer anderen, nicht von Art. 15 Abs. 1 Satz 1 AGVwGO erfassten Regelungsmaterie zuzuordnen sind, kommt bei Verwaltungsakten, die sich auf solche Vorschriften stützen, das fakultative Widerspruchsverfahren nicht zur Anwendung.

2.3 Entscheidungsweg bei Fragen zur Abgrenzung der einzelnen Rechtsbereiche

1Bei Fragen zur Abgrenzung der einzelnen Rechtsbereiche sind zunächst die Begründung des Gesetzentwurfs zur Änderung des Gesetzes zur Ausführung der Verwaltungsgerichtsordnung (Landtagsdrucksache 15/7252, insbesondere S. 10 bis 13) und ergänzend einschlägige Gerichtsentscheidungen heranzuziehen. 2Soweit sich die Antwort daraus nicht zweifelsfrei ableiten lässt, ist die Frage auf dem Dienstweg an die nächsthöhere Behörde beziehungsweise die Aufsichtsbehörde heranzutragen. 3Kann auch auf dieser Ebene keine zweifelsfreie Antwort gefunden werden, ist die Frage an das jeweils fachlich zuständige Staatsministerium weiterzuleiten.

2.4 Anfechtung der Kostenentscheidung

2.4.1 Akzessorietät zur Hauptsache

Kostenentscheidungen werden grundsätzlich nach den gleichen Grundsätzen angefochten wie die Hauptsache.

2.4.1.1 

1Werden die Kosten als Nebensache zur Hauptsacheentscheidung eingefordert, kann der Kostenschuldner die Kostenentscheidung entweder zusammen mit der Hauptsache oder selbstständig anfechten (Art. 12 Abs. 3 des Kostengesetzes). 2In beiden Fällen richtet sich das Rechtsbehelfsverfahren nach den für die Hauptsache geltenden Grundsätzen.

2.4.1.2 

Grundsätzlich gilt auch nichts anderes, wenn die Kosten im Rahmen einer isolierten (nicht mit der Hauptsache verbundenen) Kostenentscheidung geltend gemacht werden (siehe aber Nr. 2.4.2).

2.4.2 Isolierte Kostenentscheidung der Kommunen und Zweckverbände

1Anders verhält es sich jedoch bei isolierten (nicht mit der Hauptsache verbundenen) Kostenentscheidungen der Kommunen (Gemeinden, Landkreise, Bezirke) oder eines Zweckverbands. 2Diese unterfallen dem weiten Begriff des Kommunalabgabenrechts gemäß Art. 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AGVwGO. 3Da Art. 15 Abs. 2 AGVwGO nur zur Anwendung kommt, soweit in Art. 15 Abs. 1 AGVwGO nichts Abweichendes geregelt ist, findet unabhängig von der rechtlichen Einordnung der Maßnahme, für die die Kosten geltend gemacht werden, das fakultative Widerspruchsverfahren Anwendung.

2.5 Anfechtung von Maßnahmen der Vollstreckung

2.5.1 Akzessorietät zum Grundverwaltungsakt

1Maßnahmen der Vollstreckung sind, soweit dagegen im Verwaltungsrechtsweg förmliche Rechtsbehelfe zulässig sind, grundsätzlich der Rechtsmaterie zuzuordnen, der der zu vollstreckende Verwaltungsakt zugehört. 2Sie werden deshalb nach den gleichen Grundsätzen angefochten wie der Grundverwaltungsakt, dessen Durchsetzung erzwungen werden soll.

2.5.2  Art. 26 Abs. 7 Satz 3 des Bayerischen Verwaltungszustellungs- und Vollstreckungsgesetzes (VwZVG)

Diese Grundsätze gelten auch für die Pfändung und Verwertung beweglicher Sachen durch eigene Vollstreckungsbeamte der Kommunen und Zweckverbände sowie für die Pfändung und Einziehung von Geldforderungen und anderen Vermögensrechten durch die Kommunen und durch die für die Bezirke handelnden Regierungen gemäß Art. 26 Abs. 7 Satz 3 VwZVG.

2.5.3 Kosten für Maßnahmen der Vollstreckung

1Werden Kosten für Maßnahmen der Vollstreckung eingefordert, gilt Nr. 2.4. 2Werden die Kosten für eine Ersatzvornahme (Art. 32 VwZVG) durch eine Kommune oder einen Zweckverband mittels eines eigenständigen Verwaltungsakts (isolierte Kostenentscheidung) geltend gemacht, kommt das fakultative Widerspruchsverfahren zur Anwendung (siehe Nr. 2.4.2).

2.6 Aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Klage

Hinsichtlich der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Klage gilt § 80 VwGO, das heißt grundsätzlich haben Widerspruch und Klage aufschiebende Wirkung, es sei denn, die aufschiebende Wirkung entfällt kraft Gesetzes oder behördlicher oder gerichtlicher Anordnung.

2.7 Wahlrecht zwischen Widerspruch und Klage

1 Art. 15 Abs. 1 Satz 1 AGVwGO räumt dem Betroffenen in den aufgezählten Rechtsbereichen ein Wahlrecht zwischen Widerspruchseinlegung mit gegebenenfalls anschließender Klageerhebung und (alternativ!) unmittelbarer Klageerhebung ein. 2Erhebt der Betroffene unmittelbar Klage, entfällt gemäß § 68 Abs. 1 Satz 2 VwGO in Verbindung mit Art. 15 Abs. 1 Satz 3 AGVwGO das Erfordernis der Durchführung eines Vorverfahrens gemäß § 68 VwGO. 3Legt der Betroffene daher nach unmittelbarer Klageerhebung zusätzlich Widerspruch ein, ist dieser unzulässig, kann aber als formloser Rechtsbehelf oder Antrag auf Änderung beziehungsweise Neuverbescheidung behandelt werden.

2.8 Mehrere gemeinsam Betroffene (Art. 15 Abs. 1 Satz 2 AGVwGO)

1Das in Art. 15 Abs. 1 AGVwGO eingeräumte Wahlrecht des Betroffenen zwischen Widerspruchseinlegung und unmittelbarer Klageerhebung besteht uneingeschränkt nur, wenn der Betroffene Einzeladressat des Verwaltungsakts ist. 2Richtet sich der Verwaltungsakt an mehrere Betroffene gemeinsam, kann jeder von ihnen nur dann unmittelbar Klage erheben, wenn alle Betroffenen zustimmen (Art. 15 Abs. 1 Satz 2 AGVwGO). 3Diese Differenzierung soll die Gefahr divergierender Rechtsbehelfe verhindern, die dadurch entsteht, dass gegen denselben Verwaltungsakt von einem Betroffenen Widerspruch, von einem anderen unmittelbar Klage erhoben wird.

2.8.1 Abgrenzung: Verwaltungsakt an einen oder mehrere gemeinsam Betroffene

2.8.1.1 

1Entscheidend ist, ob sich der Verwaltungsakt an einen oder mehrere gemeinsam Betroffene richtet. 2Ein Verwaltungsakt richtet sich an denjenigen, der von seiner Regelung materiell betroffen, das heißt hieraus verpflichtet und/oder berechtigt sein soll. 3Das ist in der Regel derjenige, an den der Verwaltungsakt adressiert ist. 4Anderes gilt etwa bei Bekanntgabe an einen Bevollmächtigten (Art. 41 Abs. 1 Satz 2 BayVwVfG) oder gesetzlichen Vertreter (zum Beispiel Insolvenzverwalter, Testamentsvollstrecker); hier richtet sich der Verwaltungsakt inhaltlich an den Vertretenen. 5An wen ein Verwaltungsakt gerichtet ist, ergibt sich aus dem für den Betroffenen erkennbaren Willen der Behörde (BVerwG, Beschluss vom 25. März 1996, Az. 8 B 48/96). 6Ob der Verwaltungsakt aufgrund des materiellen Rechts an mehr oder weniger Betroffene hätte gerichtet werden müssen, ist insoweit unerheblich. 7Im Zweifel ist die Regelung allerdings so auszulegen, dass der Verwaltungsakt an den gerichtet ist, an den er sich nach materiellem Recht richten muss.

2.8.1.2 

1Ein Verwaltungsakt richtet sich danach an mehrere gemeinsam Betroffene, wenn mehrere Personen nur gemeinschaftlich verpflichtet oder berechtigt werden sollen. 2Dies ist nur in Ausnahmefällen gegeben, etwa wenn an eine Gesamthand (Erbengemeinschaft, eheliche Gütergemeinschaft, BGB-Gesellschaft, soweit sie nicht eigene Rechtspersönlichkeit besitzt) ein Leistungsbegehren gerichtet wird, das nur von der Gesamthand, also nur von allen Gesamthändern gemeinsam, erfüllt werden kann (zum Beispiel Belastung eines der Gesamthand gehörenden Grundstücks). 3In der Regel wird sich ein Verwaltungsakt, der an mehrere Gesamthänder adressiert ist, jedoch an diese als Gesamtschuldner richten, sodass es sich nicht um mehrere gemeinsam Betroffene handelt (vergleiche Nr. 2.8.1.3).

2.8.1.3 

1Nicht an mehrere gemeinsam Betroffene richtet sich ein Verwaltungsakt, der als Allgemeinverfügung oder Sammelbescheid zwar mehrere Personen, aber davon jede Person für sich und damit nicht gemeinschaftlich berechtigt oder verpflichtet. 2Dies ist etwa bei Teilschuldverhältnissen (§ 420 BGB), aber auch bei einer gesamtschuldnerischen Verpflichtung der Fall, bei der die Leistung zwar nur einmal gefordert werden kann, jeder aber (für sich) zur Bewirkung der ganzen Leistung verpflichtet ist (§ 421 BGB). 3Zu beachten ist, dass auch Gesamthänder in der Regel Gesamtschuldner sind (dies ergibt sich im Kommunalabgabenrecht aus § 44 der Abgabenordnung, gilt aber nach den Grundsätzen des BGB auch allgemein, vergleiche §§ 421, 427, 431, § 1437 Abs. 2, § 1459 Abs. 2, § 2058 BGB). 4Demnach richtet sich beispielsweise ein Kommunalabgabenbescheid, der an mehrere oder alle Mitglieder einer Erbengemeinschaft adressiert wird, nicht an mehrere gemeinsam Betroffene im Sinne des Art. 15 Abs. 1 Satz 2 AGVwGO, sondern an mehrere Einzelbetroffene im Sinne des Art. 15 Abs. 1 Satz 1 AGVwGO.

2.8.2 Zeitpunkt der Zustimmung

1Die Zustimmung der anderen Betroffenen, an die sich der Verwaltungsakt gemeinsam richtet, zur unmittelbaren Klage kann vor Klageerhebung eingeholt (Einwilligung) oder erst nachträglich beigebracht werden (Genehmigung). 2Wird ohne Zustimmung der anderen Betroffenen unmittelbar Klage erhoben und kann die Zustimmung auch nachträglich nicht beigebracht werden, entfällt das Erfordernis des Vorverfahrens gemäß § 68 Abs. 1 Satz 2 VwGO nicht, sodass die Klage unzulässig ist. 3Sofern die Widerspruchsfrist noch nicht abgelaufen ist, kann der Betroffene weiterhin Widerspruch einlegen.

2.8.3 Form der Zustimmung

1Die Zustimmung kann sowohl gegenüber dem klagenden (Mit-)Betroffenen als auch gegenüber dem Verwaltungsgericht erklärt werden. 2Gegenüber dem Gericht muss die Zustimmungserklärung schriftlich, elektronisch oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des Verwaltungsgerichts abgegeben werden (§ 81 VwGO analog und § 55a VwGO).

2.8.4 Widerspruchseinlegung und Zustimmung zur unmittelbaren Klageerhebung

Nach dem Sinn und Zweck des Art. 15 Abs. 1 Satz 2 AGVwGO können mehrere gemeinsam Betroffene, an die sich ein Verwaltungsakt richtet, nur einheitlich zwischen den Alternativen „Widerspruchseinlegung mit gegebenenfalls anschließender Klageerhebung“ und „unmittelbarer Klageerhebung“ wählen.

2.8.4.1 

1Erhebt ein Betroffener mit Zustimmung der (Mit-)Betroffenen unmittelbar Klage, entfällt mit der Klageerhebung gemäß Art. 15 Abs. 1 Satz 3 AGVwGO generell, das heißt auch für die zustimmenden (Mit-)Betroffenen, das Widerspruchsverfahren. 2Legt daher ein zustimmender (Mit-)Betroffener nach der Klageerhebung Widerspruch ein, ist dieser gemäß § 68 Abs. 1 Satz 2 VwGO unzulässig.

2.8.4.2 

Hat der (Mit-)Betroffene vor der Zustimmung bereits Widerspruch eingelegt, kann er nicht mehr wirksam der unmittelbaren Klageerhebung zustimmen, es sei denn, er nimmt vor der Zustimmung den Widerspruch zurück.

2.8.4.3 

1Vorsorglich wird darauf hingewiesen, dass der (Mit-)Betroffene durch die Zustimmung nicht zum (Mit-)Kläger wird. 2Das Recht, selbst unmittelbar Klage zu erheben, bleibt unberührt.

2.9 Form des Widerspruchs

1Nach § 70 Abs. 1 Satz 1 VwGO ist der Widerspruch schriftlich, zur Niederschrift oder in einer elektronischen Form im Sinne von § 3a Abs. 2 VwVfG einzulegen. 2Die Einlegung des Widerspruchs mittels einfacher E-Mail genügt diesen Anforderungen nicht. 3Die Übermittlung eines elektronischen Dokuments ist nur zulässig, soweit der Empfänger einen Zugang hierfür eröffnet hat (Art. 3a Abs. 1 BayVwVfG). 4Welche elektronischen Formen im Einzelfall für die Widerspruchseinlegung möglich sind, ist damit davon abhängig, welche konkreten Zugangsmöglichkeiten die adressierte Behörde eröffnet hat. 5Bayerische Behörden sind nach Maßgabe des Art. 3 Abs. 1 Satz 1 und 4, Abs. 2 BayEGovG (beim Vollzug von Bundesrecht im Auftrag des Bundes nach § 2 Abs. 1 und 2 EGovG, vergleiche Art. 1 Abs. 3 BayEGovG) verpflichtet, zumindest eine Zugangsmöglichkeit für eine elektronische Widerspruchseinlegung zu eröffnen, bei einem Anschluss an einen Basisdienst für De-Mail nach Art. 8 Abs. 2 BayEGovG ist jedenfalls eine Zugangseröffnung über eine De-Mail-Adresse obligatorisch. 6Ausnahmen von der Verpflichtung, einen elektronischen Zugang zu eröffnen, ergeben sich nur aufgrund Art. 1 Abs. 2 BayEGovG, wonach Art. 3 BayEGovG für bestimmte Behörden nicht gilt.