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AG München, Beschluss v. 17.06.2022 – 853 Ls 467 Js 181486/21
Titel:

Vorlagebeschluss wegen Bedenken hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit des geänderten Strafrahmens des § 184b Abs. 1 StGB

Normenketten:
GG Art. 2, Art. 12. Art. 100 Abs. 1
StGB § 176 Abs. 1, § 184b Abs. 1 Nr. 1
Schlagworte:
Freiheitsstrafe, Angeklagte, Hauptverhandlung, Beamter, Strafaussetzung, Widerruf, Internet, Beamte, Kinderpornographie, Strafrahmen, Gutachten, Kind, Einstellung, Strafe, minder schwerer Fall, Einstellung des Verfahrens, gesetzliche Regelung
Rechtsmittelinstanz:
BVerfG Karlsruhe vom -- – 2 BvL 11/22
Fundstelle:
BeckRS 2022, 27963

Tenor

Das Verfahren wird ausgesetzt. Die Akte wird gemäß Artikel 100 I Grundgesetz dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von § 184 b I Nr. 1 StGB.

Gründe

1. Allgemeines
1
Die Strafvorschrift des § 184 b I StGB wurde durch das 60. StÄG abgeändert und gilt seit 01.07.2021 in der neuen Fassung. Demnach beträgt der Strafrahmen für Verbreitung kinderpornographischer Inhalte Freiheitsstrafe von 1 bis zu 10 Jahren. Ein minder schwerer Fall ist nicht enthalten. Die Verbreitung kinderpornographischer Schriften wurde zum „Verbrechen“ herauf gestuft.
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Die Tatsache, dass ein minder schwerer Fall nicht enthalten ist und daher die Mindeststrafe von 1 Jahr für den denkbar „harmlosesten“ Fall zu verhängen ist begegnet verfassungsrechtlichen Bedenken bzgl der Artikel 2 und 12 Grundgesetz. Im übrigen begegnet die Strafvorschrift keinen Bedenken.
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Auch die durch das 60. StÄG seit 01.07.2021 geltenden Mindeststrafen für den Besitz kinderpornographischer Inhalte gemäß § 184 b III StGB und für den sexuellen Missbrauch von Kindern nach § 176 I StGB - jeweils Mindeststrafe von 1 Jahr - begegnen den gleichen verfassungsrechtlichen Bedenken. Auf diese Vorschriften wird auch eingegangen - weil diese eng mit dem Verbreiten kinderpornographischer Schriften verbunden sind. Hierzu wird unter Ziffer 2 ein Beispielsfall erläutert.
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Der Unterzeichner ist seit 2005 als Amtsrichter mit der Bearbeitung von Fällen aus dem Bereich Kinderpornographie befasst, wobei es sich um eine Spezialzuständigkeit handelt. Im Jahr werden etwa 75 Fälle bearbeitet. Wegen der Vielzahl der bearbeiteten Fälle und der damit einhergehenden Erfahrung war der Unterzeichner bereits am 13.10.2014 als Sachverständiger vor den Rechtsausschuss des Bundestages zur Anhörung geladen.
2. Verstoß gegen Art. 2 des Grundgesetzes - Übermaßverbot
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§ 184 b I StGB verstößt gegen das Übermaßverbot und greift daher verfassungswidrig in das Grundrecht auf freiheitliche Entfaltung der Persönlichkeit gemäß Art. 2 II GG ein.
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Ausgangspunkt der Änderung der Strafrahmen im Sexualstrafrecht waren einige spektakuläre Fälle der Kinderpornographie bzw des sexuellen Missbrauchs von Kindern. Der Gesetzgeber sah sich in der Pflicht, die geltenden Strafvorschriften im Bereich des Kinderschutzes zu verschärfen. So wurde neben § 184 b StGB insbesondere auch der sexuelle Missbrauch von Kindern gemäß § 176 I StGB abgeändert und ebenfalls zum Verbrechen hoch gestuft mit einem Strafrahmen von 1 Jahr bis 15 Jahre Freiheitsstrafe.
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Der Gesetzgeber ist bei der Änderung aus Sicht des Unterzeichners weit über das Ziel hinaus geschossen. Mit Blick auf gravierende Fälle wurden nicht nur die jeweiligen Höchststrafen erhöht, sondern auch die Mindeststrafen. Dies führt zu nicht mehr hinnehmbaren Ergebnissen bei der Bearbeitung derjenigen Fälle, die nicht gravierend oder durchschnittlich, sondern relativ unerheblich/außergewöhnlich „harmlos“ sind. Für diese Fälle fehlt eine gesetzliche Regelung - insbesondere ein minder schwerer Fall mit reduzierter Mindeststrafe.
Beabsichtigte Wirkung:
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Das Ziel des Gesetzgebers - einen bestmöglichen Schutz der Kinder vor sexuellen Übergriffen zu erreichen - wird durch die Neuregelung weiterhin ermöglicht, aber nicht effektiv verbessert.
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Dieses Ziel wurde auch durch die zuvor geltenden Strafrahmen erreicht. Im Bereich der Kinderpornographie soll deren Ausbreitung insbesondere im Internet verhindert werden. Ein Ziel, dass bei einem weltweit existierenden Phänomen „Kinderpornographie im Internet“, mit einer räumlichen Beschränkung auf das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland, bereits aus der Natur der Sache heraus als reduziert anzusehen ist.
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Der Unterzeichner ist seit nun 17 Jahren auf dem Gebiet der strafrechtlichen Sanktion von Kinderpornographie tätig. Sämtliche Wiederholungstäter im Lauf der letzten 17 Jahre wurden daher ebenfalls von ihm bearbeitet. Es steht hierbei die gesicherte Erkenntnis, dass nur in wenigen Ausnahmefällen die Täter erneut im Bereich Kinderpornographie straffällig werden. Demnach waren die in der Vergangenheit ausgeurteilten Strafen grundsätzlich geeignet, die Täter vor erneuter einschlägiger Straffälligkeit abzuschrecken.
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Hierbei ist neben der jeweils ausgesprochenen Strafe zu bedenken, dass nicht nur die Strafe „Wirkung“ auf den Täter entfaltet. Auch der Ablauf des Strafverfahrens ist für den Täter in aller Regel einschneidend. Für den Täter beginnt das Verfahren im Normalfall mit einer Durchsuchung seiner Wohnung und/oder seines Arbeitsplatzes. Das soziale Umfeld wird hierbei in vielen Fällen informiert - z.B. die Ehefrau oder der Arbeitgeber. Bei der Durchsuchung werden alle (!) Speichermedien des Täters - Handy, PC, Laptop, etc - sichergestellt bzw beschlagnahmt. All diese Geräte werden über Monate hinweg von einem Sachverständigen untersucht. Allein die Tatsache, dass der Täter auf einen Schlag aller seiner Verbindungsmöglichkeiten im Bereich der Sozialen Medien „beraubt“ wird ist ein nicht zu unterschätzender Faktor für die Frage, ob der Täter vergleichbares Handeln in Zukunft erneut riskieren wird.
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Letztlich ist auch die Verfahrensdauer - geschätzt etwa 1 Jahr bis zur Hauptverhandlung - zu berücksichtigen. Eine beschleunigte Verfolgung scheitert an den faktischen Gegebenheiten: die Speichermedien müssen durch den Sachverständigen überprüft und ein Gutachten hierzu erstattet werden.
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Für den Fall der Verurteilung tritt neben die Strafe die Kostenfolge des § 465 I StPO. Der verurteilte Täter hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Hierunter fallen insbesondere die Kosten des Sachverständigen. Je nach Anzahl der untersuchten Speichermedien und der gefundenen Kinderpornographie-Dateien bewegen sich diese Kosten im Durchschnitt bei 3000 bis 6000 Euro. In einem Fall wurden dem Angeklagten fast 20.000 Euro Gutachterkosten auferlegt.
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Jedenfalls im Bereich der Fälle, die einen minder schweren Fall darstellen - so er denn gesetzlich geregelt wäre - bedarf es daher keiner Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr.
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Zudem gilt folgende Überlegung:
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Es steht zu befürchten, dass der rechtskundige Angeklagte zu der Überzeugung kommt, dass es bei der Mindeststrafe von 1 Jahr „auch schon egal ist“ - und sich der gewünschte Effekt der Reduzierung von Kinderpornographie im Internet in sein Gegenteil verkehrt. Der Angeklagte wird weitere kinderpornographische Inhalte aus dem Internet herunter laden und es nicht bei wenigen Dateien sein Bewenden lassen. Er befeuert damit weiter den „Markt“ statt davon abgehalten zu werden.
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Nachteilige Wirkungen für den Angeklagten:
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Auf der anderen Seite steht jedoch ein Eingriff in die persönliche Freiheit des Angeklagten, der für die „harmlosen“ Fälle außer Verhältnis steht:
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Bei einer Mindeststrafe von 1 Jahr ist die Strafaussetzung zur Bewährung gemäß § 56 II StGB nur noch in Ausnahmefällen möglich. Es müssen „besondere Umstände“ in der Tat oder der Person des Angeklagten vorliegen.
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Weil es sich bei § 184 b I StGB nun um ein „Verbrechen“ handelt ist eine Einstellung des Verfahrens nach den §§ 153 und 153 a StPO nicht mehr möglich. Diese Vorschriften gelten nur für „Vergehen“. Auch der Wegfall dieser Möglichkeit, relativ harmlose Fälle ohne Verurteilung zu lösen, erscheint nicht mehr verfassungskonform.
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Es sei an dieser Stelle ein „harmloser“ Beispielsfall geschildert, der tatsächlich so verhandelt wurde, aber durch den Unterzeichner um den Aspekt der Kinderpornographie „erweitert“ wurde. Das tatsächlich stattgefundene Verfahren (Tatvorwurf sexueller Missbrauch von Kindern) wurde nach § 153 a StPO eingestellt.
Der Fall:
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Der Angeklagte, der zur Tatzeit 22 Jahre alt war, hatte eine 13jährige in sexuell bestimmter Weise geküsst. Der Kuss fand auf der Geburtstagsparty des Mädchens statt. Man feierte in den 14. Geburtstag hinein, der Kuss erfolgte jedoch noch vor Mitternacht, so dass das Mädchen zu diesem Zeitpunkt noch 13 Jahre alt war - und der Angeklagte dies wusste. Der Angeklagte beging hierdurch einen sexuellen Missbrauch eines Kindes. Der Angeklagte und das Mädchen waren sodann in einer 4jährigen Beziehung und heirateten, als die dann junge Frau 18 Jahre alt war. Sämtliche sexuelle Handlungen des Paares nach dem 14. Geburtstag waren alle einvernehmlich und daher straflos. Nach zwei weiteren Jahren erfolgte die Strafanzeige durch die nun 20 Jahre alte Frau, die sich nun in einem emotional geführten Scheidungsverfahren mit dem Angeklagten befand.
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Der Angeklagte war im Prozess geständig und nicht vorbestraft. Das Verfahren wurde daher völlig zurecht nach § 153 a StPO eingestellt. Nach nun geltender Rechtslage hätte der Angeklagte zu einer Freiheitsstrafe von mindestens 1 Jahr verurteilt werden müssen. Ein Absehen von Strafe nach § 176 II StGB wäre zwar grundsätzlich möglich. Jedoch wäre zu prüfen, ob der Altersunterschied von immerhin 8 Jahren noch von der Vorschrift erfasst wird. Dies erscheint fraglich. Auch dürfte der unterschiedliche Entwicklungsstand/Reifegrad zwischen der fast 14jährigen und dem 22jährigen vermutlich nicht gering sein.
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Dieser Fall wird nun noch hypothetisch ergänzt durch den Aspekt der Kinderpornographie:
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Ein weiterer Gast macht mit seinem Handy auf der Geburtstagsfeier ein Foto von dem Kuss. Er stellt hierdurch gerade Kinderpornographie her und besitzt diese fortan - man sieht, wie ein Erwachsener ein Kind in sexuell bestimmter Weise küsst. Dieser Gast muss nur wissen, dass man auf dem Foto sieht, wie eine 13jährige in sexuell motivierter Weise geküsst wird. Hiervon darf ausgegangen werden.
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Wenn nun dieser Gast sein Foto in einer eigens für die Party gegründeten Whats-App-Gruppe einstellt - gegebenenfalls noch versehen mit dem Text: „ein Kuss kurz vor dem 14. Geburtstag!“ - so verbreitet er hierdurch Kinderpornographie.
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Dieser Gast müsste ebenfalls zu einer Freiheitsstrafe von mindestens 1 Jahr verurteilt werden - wegen Herstellung, Verbreitung und Besitz kinderpornographischer Inhalte.
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Alle Teilnehmer dieser Wh-A.-Gruppe besitzen zudem nun ein kinderpornographisches Bild. Wenn sie dieses nicht sofort löschen und wissen, dass man auf dem Bild den sexuell bestimmten Kuss eines Kindes sieht, machen sie sich ebenfalls strafbar und erhalten eine Freiheitsstrafe von mindestens 1 Jahr wegen Besitz kinderpornographischer Inhalte nach § 184 b III StGB.
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Durch eine Verurteilung zu mindestens 1 Jahr Freiheitsstrafe ergeben sich für die Angeklagte weitreichende Konsequenzen. Selbst für den Fall der Strafaussetzung zur Bewährung gilt diese nun als erheblich vorbestraft und riskiert bei weiterer Straffälligkeit den Widerruf der Bewährung. Selbst wenn die Bewährung nicht widerrufen wird, so orientieren sich dennoch die möglichen zukünftigen Verurteilungen an der Tatsache, dass die Angeklagte nicht mehr straffrei, sondern erheblich vorbestraft ist.
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Die Verurteilung wird in das polizeiliche Führungszeugnis aufgenommen. Eine Bewerbung auf eine Arbeitsstelle, bei der die Vorlage dieses Zeugnisses erforderlich ist, ist aussichtslos.
3. Verstoß gegen Art. 2 des Grundgesetzes - Schuldprinzip
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Jedenfalls der Strafrahmen des § 184 b III StGB - Freiheitsstrafe von 1 Jahr bis zu 5 Jahren - erscheint wegen des knappen Spielraums verfassungsrechtlich bedenklich. Dies trifft zwar nicht für den hier streitgegenständlichen Fall des Verbreitens zu, wird aber dennoch kurz erwähnt.
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Der Unterzeichner kennt einen ähnlich knappen Strafrahmen - bei Freiheitsstrafe - nur im Bereich des Waffenrechts. Sowohl § 51 I WaffG als auch § 22 a I Nr. 6a KrWaffG enthalten aber einen minder schweren Fall.
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Es stellt sich bei einem derart knappen Strafrahmen die Frage der Verhältnismäßigkeit. Der denkbar „harmloseste“ Fall dürfte der nicht vorbestrafte, geständige Angeklagte sein, der allenfalls einige wenige kinderpornographische Inhalte - z.B. Posing-Bilder von leicht bekleideten Kindern - besitzt. Er verbreitet diese nicht, sondern besitzt sie heimlich. Dieser muss mit einer Freiheitsstrafe von mindestens 1 Jahr bestraft werden.
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Demgegenüber stünde der denkbar „krasseste“ Fall: Der vielfach einschlägig vorbestrafte Angeklagte, der bereits viele Jahre im Gefängnis verbracht hat, unbelehrbar ist und den Sachverhalt nicht einräumt. Dieser Angeklagte besitzt eine Vielzahl - ca. 1 Million - kinderpornographische Inhalte, wobei diese überwiegend schweren sexuellen Missbrauch von Kindern in Video-Clips darstellen. Hinzu kommen Folter-Videos an Babys und Kleinkindern, Fäkal-Videos und dergleichen Abartigkeiten. Dieser Angeklagte bekäme dann ebenfalls eine Freiheitsstrafe, die sich eher an der Höchstgrenze 5 Jahre orientieren würde.
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Der Unterzeichner erachtet diesen engen Strafrahmen als nicht geeignet, um auf die völlig unterschiedlichen Angeklagten angemessen reagieren zu können. Es kann bei dem „harmlosen“ Fall im Gegensatz zum „krassen“ keine ausreichend milde Sanktion erfolgen, die im Verhältnis steht.
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Auch das Verhältnis zu einem „normalen“ Fall erscheint nicht ausreichend herstellbar. Hierunter wäre der Täter zu verstehen, der nicht nur einige wenige kinderpornographische Inhalte besitzt, sondern viele. Dennoch wäre dieser Angeklagte nicht vorbestraft und umfassend geständig. Er würde daher mit einer Bewährungsstrafe rechnen können. Im Ergebnis eine nahezu Gleichbehandlung mit dem „harmlosen“ Fall, der auch eine Bewährungsstrafe bekäme. Die Gesetzesänderung läuft daher auf das Ergebnis hinaus, dass nahezu alle Täter eine Freiheitsstrafe zwischen 1 und 2 Jahren erhalten werden, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wird. Wenn sie nicht vorbestraft und umfassend geständig sind.
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Kombiniert mit der oben bereits geschilderten Kostenfolge (die enormen Sachverständigenkosten) und den belastenden Gang des Verfahrens (in aller Regel eine Durchsuchung beim Angeklagten) dürfte die „Sanktionswirkung“ auf den Angeklagten nahezu identisch sein - jedenfalls aus dessen subjektiver Sicht.
4. Verstoß gegen Art. 2 des Grundgesetzes - Freiheitsrecht
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Sinn von Strafe ist nicht nur die Abschreckung weiterer potentieller Täter - Generalprävention - sondern auch das Einwirken auf den jeweiligen Täter i.S.d. Spezialprävention. Die dritte Säule des Strafzwecks - Schuldausgleich - ist im Fall der Kinderpornographie zumeist nicht gegeben, weil die Opfer anonym bleiben und keine eigentliche Beziehung zwischen Täter und Opfer besteht. Die Inhalte werden schlicht aus dem Internet herunter geladen oder in Foren ausgetauscht.
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Im Fall des Besitzes oder des Verbreitens kinderpornographischer Schriften handelt es sich nach der Erfahrung des Unterzeichners in den meisten Fällen um männliche Angeklagte, die ein durchaus „solides“, „normales“ Leben führen und fest in die Gesellschaft integriert sind. Die Täter sind überwiegend Einzelgänger mit einer Fehlentwicklung ihrer Sexualität, für die sie nichts können. Die Täter leiden zumeist an ihren pädosexuellen Neigungen - und würden diese niemals tatsächlich ausleben. Aber im anonymen Internet leben sie diese Sexualität aus - in der irrigen Annahme, hierdurch keinem Kind zu schaden. Dass die Täter durch ihr Handeln den Markt „anheizen“ ist ihnen zumeist nicht bewusst.
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Ob für den „durchschnittlichen“ Fall des Verbreitens oder des Besitzes kinderpornographischer Inhalte bereits eine Freiheitsstrafe erforderlich ist erscheint angesichts der weitreichenden Folgen für den Angeklagten - und den zuvor geschilderten Neben-Effekten des Strafverfahrens - bereits bedenklich.
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Für die immer wieder vorkommenden „harmlosen“ Fälle erscheint ein Einwirken auf den Täter mittels Freiheitsstrafe von mindestens 1 Jahr nicht erforderlich, sondern begegnet großen Bedenken.
5. Verstoß gegen Art. 12 des Grundgesetzes
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Jede Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mindestens 1 Jahr hat weitreichende berufliche Konsequenzen. Zunächst durch die bereits aufgezeigte Aufnahme der Verurteilung in das polizeiliche Führungszeugnis.
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Bislang konnten die relativ harmlosen Fälle - die jedenfalls in der Praxis des Amtsgerichtes nicht selten vorkommen - durch eine Einstellung des Verfahrens nach den §§ 153, 153 a StPO so geregelt werden, dass keine Eintragung in das polizeiliche Führungszeugnis erfolgte. In vielen Fällen - dem Unterzeichner fehlen hierzu Erkenntnisse über die Anzahl - erfolgte noch nicht einmal eine Anklage zum Gericht, sondern die Staatsanwaltschaft stellte die Verfahren bereits nach §§ 153, 153 a StPO ein.
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In all diesen Fällen erfolgt nun eine Anklage zum Schöffengericht, das für die Bearbeitung von „Verbrechen“ zuständig ist.
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Noch gravierender wirkt die gesetzliche Neuregelung für alle Berufstätigen, die ein sogenanntes „erweitertes Führungszeugnis“ gemäß § 30 a BZRG vorlegen müssen. 2010 wurde das „erweiterte Führungszeugnis“ eingeführt. Es erteilt Auskunft über Personen, die in ihrer beruflichen oder ehrenamtlichen Tätigkeit mit Minderjährigen in Kontakt kommen - sei es in der Beaufsichtigung, Betreuung, Erziehung oder Ausbildung. Das betrifft beispielsweise Erzieher, Lehrer, Nachhilfelehrer oder auch Leiter von Jugendgruppen. Hier erhalten Sie alle Informationen rund um das erweiterte Führungszeugnis.
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Es stellt sich - gerade unter dem Gesichtspunkt der Resozialisierung des Angeklagten - die Frage, ob für die harmlosen Fälle tatsächlich eine Einwirkung auch auf dessen berufliche Existenz unumgänglich ist.
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Extrem wirkt sich die zwingende Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mindestens 1 Jahr auf alle Beamten aus. Diese verlieren nach § 41 I Nr. 1 BBG oder den vergleichbaren gesetzlichen Vorschriften der Bundesländer mit dem Tag der Rechtskraft des Urteils ihre Beamtenstellung. Es besteht fortan kein Anspruch mehr auf Besoldung/Versorgung.
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Gerade diese sehr weitreichende Konsequenz kann durch eine Regelung eines minder schweren Falles in ein angemessenes Verhältnis gebracht werden. Der Beamte kann - im Rahmen eines Disziplinarverfahrens - eine eigenständige Prüfung durch den Dienstherren bzw die Verwaltungsgerichte erreichen, ob er weiterhin als Beamter tätig sein darf. Er verliert nicht automatisch mit der Verurteilung seine Stellung als Beamter. Überspitzt formuliert: Ist wirklich jeder Beamte, der im Bereich der Kinderpornographie strafrechtlich in Erscheinung trat - aber eben in relativ harmloser Weise, etwa durch den Besitz nur einiger weniger Bilder - sofort aus dem Dienst zu entfernen?
6. Bezug auf den angeklagten Fall
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Die Angeklagte ist nicht vorbestraft und umfassend geständig. Sie handelte aus Empörung über das zuvor erfolgte Handeln eines 8jährigen Kindes - und schoss mit ihrer Art damit umzugehen völlig über das Ziel hinaus.
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Die von der Verteidigung aufgeführten rechtlichen Erwägungen iSe rechtfertigenden Notstandes überzeugen nicht. Auch ein Tatbestandsirrtum i.S.d. § 16 StGB dürfte nicht vorliegen. Ein eventuell vorhandener Verbotsirrtum nach § 17 S. 1 StGB wird an der Vermeidbarkeit scheitern. Aber gegebenenfalls wird eine Milderung nach § 17 S. 2 StGB in Betracht kommen.
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Die Angeklagte handelte - sicher - ohne pädosexuellen Hintergrund.
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Im Vordergrund ihres Handelns steht vermutlich eher die „Bloßstellung“ des Kindes gegenüber anderen Eltern - nicht das Verbreiten kinderpornographischer Inhalte.
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Die gesetzliche Wertung ist jedoch genau umgekehrt. Das Bloßstellen wird durch § 201 a StGB sanktioniert - mit einem Strafrahmen von Geldstrafe bis zu 2 Jahre Freiheitsstrafe. Demgegenüber steht das Verbreiten des kinderpornographischen Bildes mit Freiheitsstrafe von 1 bis zu 10 Jahren.
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Die derzeit geltende Fassung des § 184 b I StGB wird dem Unrechtsgehalt des Handelns der Angeklagten nicht gerecht. Es fehlt ein minder schwerer Fall.