Inhalt

VGH München, Beschluss v. 23.11.2020 – 20 NE 20.2453
Titel:

Betriebsuntersagung für Tattoo-Studios wegen Corona 

Normenketten:
8. BayIfSMV § 12
VwGO § 47 Abs. 6
Leitsatz:
Bei einer Folgenabwägung überwiegt das öffentliche Interesse am Gesundheitsschutz das wirtschaftliche Interesse am Betrieb von Tattoo-Studios, sodass eine Betriebsuntersagung wegen der Corona-Pandemie gerechtfertigt ist. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Corona-Pandemie, Tattoo-Studio, Folgenabwägung
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 21.07.2021 – 20 NE 20.2453
Fundstelle:
BeckRS 2020, 50527

Tenor

I. Die Verfahren der Antragsteller zu 1., zu 6. und zu 18. werden abgetrennt und unter den Aktenzeichen 20 NE 20.2726 (Antragstellerin zu 1.), 20 NE 20.2727 (Antragsteller zu 6.) und 20 NE 20.2728 (Antragstellerin zu 18.) fortgeführt.
II. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
III. Die Antragsteller tragen jeweils die Kosten des Verfahrens.
IV. Der Wert des Verfahrensgegenstands wird für jeden Antragsteller auf jeweils 10.000,00 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
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1. Mit ihrem Eilantrag nach § 47 Abs. 6 VwGO begehren die Antragsteller, den Vollzug von § 12 Abs. 2 der Achten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 30. Oktober 2020 (BayMBl. 2020 Nr. 616) in der Fassung der Verordnung zur Änderung der Achten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 12. November 2020 (BayMBl. 2020 Nr. 639, im Folgenden: 8. BayIfSMV) einstweilen auszusetzen.
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2. Der Antragsgegner hat am 30. Oktober 2020 durch das Staatsministerium für Gesundheit und Pflege die streitgegenständliche Verordnung erlassen, die auszugsweise folgenden Wortlaut hat:
㤠12
3
Handels- und Dienstleistungsbetriebe, Märkte
(1) …
4
(2) Für Dienstleistungsbetriebe mit Kundenverkehr gilt Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 3 und 4. Dienstleistungen, bei denen eine körperliche Nähe zum Kunden unabdingbar ist, sind untersagt (zum Beispiel Kosmetikstudios, Massagepraxen, Tattoo-Studios). Abweichend von Satz 2 sind Dienstleistungen des Friseurhandwerks unter den Voraussetzungen des Satzes 1 zulässig. …“
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Die 8. BayIfSMV ist seit 2. November 2020 in Kraft und tritt mit Ablauf des 30. November 2020 außer Kraft (§ 28 Satz 1 8. BayIfSMV).
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3. Die Antragsteller, die jeweils Tattoo-Studios in Bayern betreiben, tragen zur Begründung ihres mit Schriftsatz vom 31. Oktober 2020 gestellten Eilantrags vor, die ausnahmslose Betriebsuntersagung für Tattoo-Studios sei ein unverhältnismäßiger Eingriff in ihre Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG, zudem werde der Gleichbehandlungsgrundsatz verletzt, weil Friseurbetriebe ohne hinreichenden sachlichen Grund von der Untersagung körpernaher Dienstleistungen ausgenommen seien. Den Friseurbetrieben sei auch keine größere „Systemrelevanz“ als TattooStudios beizumessen, da jedenfalls im Hinblick auf den eng befristeten Geltungszeitraum der Verordnung ein vorübergehender Verzicht auf Friseurdienstleistungen ohne weiteres vertretbar sei. Nicht nachvollziehbar sei zudem, dass Ladengeschäfte unabhängig von ihrem jeweiligen Sortiment keinen Einschränkungen unterlägen.
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4. Der Antragsgegner tritt dem Eilantrag entgegen. Er verweist zur Begründung u.a. darauf, dass dem Normgeber bei der Festlegung, welche Gesellschafts- und Wirtschaftsbereiche geschlossen würden oder geöffnet blieben, ein Einschätzungsspielraum zustehe, den der Antragsgegner nicht überschritten habe. Die Differenzierung des § 12 Abs. 2 8. BayIfSMV zwischen Friseurhandwerk und anderen körpernahen Dienstleistungen wie z.B. Kosmetikstudios sei sachlich begründbar. Der Friseurbesuch sei - anders als der Besuch eines Tattoo- oder Kosmetikstudios - unaufschiebbar und dem täglichen Bedarf der Bevölkerung auch in hygienischer Hinsicht zuzuordnen. Außerdem komme es beim Tätowieren zu großflächigen Hautverletzungen, die zu einem erhöhten Infektionsrisiko führten.
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5. Auf Anfrage des Senats vom 12. November 2020, ob vor dem Hintergrund der Senatsentscheidung vom 11. November 2020 (20 NE 20.2485) an dem Eilantrag festgehalten werde, haben die Antragsteller zu 1., zu 6. und zu 18. mit Schriftsatz ihres Bevollmächtigten vom 18. November 2020 ihre Anträge zurückgenommen.
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6. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.
II.
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Die Verfahren der Antragsteller zu 1., zu 6. und zu 18. sind im Hinblick auf die von diesen erklärte Antragsrücknahme nach § 93 Satz 2 VwGO abzutrennen. Soweit über den Antrag noch zu entscheiden war, hat er keinen Erfolg.
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Die Voraussetzungen des § 47 Abs. 6 VwGO, wonach das Normenkontrollgericht eine einstweilige Anordnung erlassen kann, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist, liegen nicht vor. Die Erfolgsaussichten eines Normenkontrollantrags in der Hauptsache gegen § 12 Abs. 2 (Satz 2) 8. BayIfSMV sind unter Anwendung des Prüfungsmaßstabs im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO (1.) bei der nur möglichen summarischen Prüfung als offen anzusehen (2.). Eine Folgenabwägung geht zulasten der Antragstellerin aus (3.).
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1. Prüfungsmaßstab im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO sind in erster Linie die Erfolgsaussichten des in der Hauptsache anhängigen Normenkontrollantrags, soweit sich diese im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bereits absehen lassen (BVerwG, B.v. 25.2.2015 ‒ 4 VR 5.14 u.a. ‒ ZfBR 2015, 381 - juris Rn. 12; zustimmend OVG NW, B.v. 25.4.2019 - 4 B 480/19.NE - NVwZ-RR 2019, 993 - juris Rn. 9). Dabei erlangen die Erfolgsaussichten des Normenkontrollantrags eine umso größere Bedeutung für die Entscheidung im Eilverfahren, je kürzer die Geltungsdauer der in der Hauptsache angegriffenen Normen befristet und je geringer damit die Wahrscheinlichkeit ist, dass eine Entscheidung über den Normenkontrollantrag noch vor dem Außerkrafttreten der Normen ergehen kann. Das muss insbesondere dann gelten, wenn - wie hier - die in der Hauptsache angegriffenen Normen in quantitativer und qualitativer Hinsicht erhebliche Grundrechtseingriffe enthalten oder begründen, sodass sich das Normenkontrollverfahren (ausnahmsweise) als zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG geboten erweisen dürfte.
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Ergibt demnach die Prüfung der Erfolgsaussichten der Hauptsache, dass der Normenkontrollantrag voraussichtlich unzulässig oder unbegründet sein wird, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten. Erweist sich dagegen, dass der Antrag zulässig und (voraussichtlich) begründet sein wird, so ist dies ein wesentliches Indiz dafür, dass der Vollzug bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache suspendiert werden muss. In diesem Fall kann eine einstweilige Anordnung ergehen, wenn der (weitere) Vollzug vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile befürchten lässt, die unter Berücksichtigung der Belange des Antragstellers, betroffener Dritter und/oder der Allgemeinheit so gewichtig sind, dass eine vorläufige Regelung mit Blick auf die Wirksamkeit und Umsetzbarkeit einer für den Antragsteller günstigen Hauptsacheentscheidung unaufschiebbar ist. Lassen sich die Erfolgsaussichten nicht absehen, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden. Gegenüberzustellen sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die begehrte Außervollzugsetzung nicht erginge, der Normenkontrollantrag aber später Erfolg hätte, und die Folgen, die entstünden, wenn die begehrte Außervollzugsetzung erlassen würde, der Normenkontrollantrag aber später erfolglos bliebe. Die für eine einstweilige Außervollzugsetzung sprechenden Erwägungen müssen die gegenläufigen Interessen dabei deutlich überwiegen, also so schwer wiegen, dass die Außervollzugsetzung - trotz offener Erfolgsaussichten der Hauptsache - dringend geboten ist (vgl. BVerwG, B.v. 25.2.2015 - 4 VR 5.14 u.a. - ZfBR 2015, 381 - juris Rn. 12).
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2. Nach diesen Maßstäben geht der Senat im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bei summarischer Prüfung (vgl. BVerwG, B.v. 25.2.2015 - 4 VR 5.14 - ZfBR 2015, 381 - juris Rn. 14) davon aus, dass die Erfolgsaussichten der Hauptsache offen sind.
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Die Frage, ob die angegriffene Untersagung von körpernahen Dienstleistungen nach § 12 Abs. 2 Satz 2 8. BayIfSMV auf einer ausreichenden gesetzlichen Verordnungsermächtigung beruht, insbesondere den verfassungsrechtlichen Anforderungen an den Parlamentsvorbehalt und das Bestimmtheitsgebot aus Art. 80 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG genügt, war jedenfalls bis zum Inkrafttreten des Dritten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 18. November 2020 (BGBl I S. 2397) nach der Rechtsprechung des Senats als offen anzusehen (vgl. BayVGH, B.v. 11.11.2020 - 20 NE 20.2485 - BeckRS 2020, 30790; B.v. 5.11.2020 - 20 NE 20.2468 - BeckRS 2020, 29302; B.v. 29.10.2020 - 20 NE 20.2360 - juris Rn. 28 ff. zur 7. BayIfSMV, jeweils m.w.N.). Auch nach dessen Inkrafttreten sind die Erfolgsaussichten eines gegen die Untersagung des Betriebs von Tattoo-Studios gerichteten Normenkontrollantrags jedoch bei summarischer Prüfung nicht abschließend einzuschätzen, weil die neue Gesetzeslage bislang ungeklärte Rechtsfragen aufwirft (vgl. etwa Remmert in Maunz/Dürig, GG, Stand 04/2020, Art. 80 Rn. 50).
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3. Die Folgenabwägung zwischen den betroffenen Schutzgütern der Antragsteller - insbesondere ihren Grundrechten auf freie wirtschaftliche Betätigung (Art. 12 Abs. 1 GG) und ggf. das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb aus Art. 14 Abs. 1 GG - mit dem Schutzgut Leben und Gesundheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ergibt, dass die von der Antragstellern dargelegten wirtschaftlichen Folgen derzeit hinter den Schutz von Leben und Gesundheit einer Vielzahl von Menschen zurücktreten müssen (vgl. auch BVerfG, B.v. 11.11.20201 - BvR 2530/20 - juris Rn. 12 ff.; BayVerfGH, E.v. 16.11.2020 - Vf. 90-VII-20 - BeckRS 2020, 31088 - Rn. 41).
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a) Das pandemische Geschehen ist weiterhin sehr angespannt. Nach dem Lagebericht des Robert-Koch-Instituts vom 22. November 2020 (abrufbar unter https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/N ov_2020/2020-11-22-de.pdf? _blob=publicationFile) ist weiterhin eine große Anzahl an Übertragungen in der Bevölkerung in Deutschland zu beobachten. Die Inzidenz der letzten sieben Tage beträgt deutschlandweit 139 Fälle pro 100.000 Einwohner. Der Anteil der COVID-19-Fälle in der älteren Bevölkerung ist weiterhin sehr hoch. Die 7- Tage-Inzidenz liegt in Bayern über der bundesweiten Gesamtinzidenz. In zahlreichen Landkreisen kommt es zu einer zunehmend diffusen Ausbreitung von SARS-CoV-2- Infektionen in der Bevölkerung, ohne dass Infektionsketten eindeutig nachvollziehbar sind. Für einen großen Anteil der Fälle kann das Infektionsumfeld nicht ermittelt werden. Seit Mitte Oktober steigt die die Zahl der intensivmedizinisch behandelten COVID- 19-Fälle stark an, von 655 Patienten am 15. Oktober 2020 auf 3.709 am 22. November 2020. Das RKI schätzt die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland weiterhin als hoch ein, für Risikogruppen als sehr hoch. Nach wie vor gibt es keine zugelassenen Impfstoffe und die Therapie schwerer Krankheitsverläufe ist komplex und langwierig (vgl. Risikobewertung zu COVID-19, Stand: 11.11.2020, abrufbar unter https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.htm l).
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b) In dieser Situation fallen die zu erwartenden Folgen einer Außervollzugsetzung der angegriffenen Norm - insbesondere die mögliche Eröffnung weiterer Infektionsketten durch eine Öffnung von Wettannahmestellen - schwerer ins Gewicht als die (wirtschaftlichen) Folgen ihres einstweilig weiteren Vollzugs (vgl. BayVGH, B.v. 5.11.2020 - 20 NE 20.2468 - BeckRS 2020, 29302 - Rn. 22). Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass die Bundesregierung angekündigt hat, die wirtschaftliche Verluste zumindest teilweise zu entschädigen.
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Gegenstandswertes ergibt sich aus § 53 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. § 52 Abs. 1 GKG. Da die von den Antragstellern angegriffene Bestimmung bereits mit Ablauf des 30. November 2020 außer Kraft tritt (§ 28 8. BayIfSMV), zielt der Eilantrag inhaltlich auf eine Vorwegnahme der Hauptsache, weshalb eine Reduzierung des Gegenstandswertes für das Eilverfahren auf der Grundlage von Ziff. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit nicht angebracht ist.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).