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VGH München, Beschluss v. 18.12.2020 – 20 NE 20.2840
Titel:

Corona-Pandemie - Nutzungsuntersagung von Sportstätten (Tanzsport) in Bayern rechtmäßig

Normenketten:
VwGO § 47 Abs. 6
IfSG § 28a Abs. 1 Nr. 8, Abs. 6, § 32 S. 1
BayIfSMV § 10 Abs. 3
GG Art. 80 Abs. 1
Leitsatz:
Ein Abwägung ergibt, dass die zu erwartenden Folgen einer Außervollzugsetzung von § 10 Abs. 3 BayIfSMV - im Hinblick auf die damit einhergehende mögliche Eröffnung weiterer Infektionsketten - schwerer ins Gewicht fallen als die Folgen ihres weiteren Vollzugs für die Rechte der Sportstättenbetreiber, zumal die Ausübung von Individualsportarten weiterhin grundsätzlich zulässig bleibt.  (Rn. 10 – 17) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Corona-Pandemie, Nutzungsuntersagung von Sportstätten (hier: Tanzsport), Betrieb, Dringlichkeit, Bestimmung, Normenkontrollantrag, Nutzungsuntersagung
Fundstelle:
BeckRS 2020, 36261

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 10.000,00 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
1
1. Der Antragsteller, der in Bayern eine Sportstätte zur Ausübung des Tanzsports betreibt, beantragt, einstweilen den Vollzug von § 10 Abs. 3 der Elften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 15. Dezember 2020 (11. BayIfSMV; BayMBl. 2020 Nr. 737) auszusetzen.
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Die angegriffene Regelung hat folgenden Wortlaut:
㤠10
Sport (…)
(3) Der Betrieb und die Nutzung von Sporthallen, Sportplätzen, Fitnessstudios, Tanzschulen und anderen Sportstätten ist untersagt. Abs. 2 und § 18 bleiben unberührt.“
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2. Der Antragsteller trägt zur Begründung seines zunächst gegen die gleichlautende Bestimmung der Neunten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 30. November 2020 gerichteten und mit Schriftsätzen vom 9. und 16. Dezember 2020 auf die jeweils geltende Verordnung umgestellten Eilantrags im Wesentlichen vor, er betreibe eine Sportstätte mit drei Sälen zur Ausübung des (Turnier-)Tanzsport durch seine Mitglieder. Aufgrund der angegriffenen Bestimmung sei der Betrieb einer Sportstätte auch allein oder zu zweit nicht mehr möglich. Damit werde er in seinen Rechten aus Art. 19 Abs. 3 i.V.m. Art. 12 und Art. 3 GG verletzt. Die angegriffene Nutzungsuntersagung sei jedenfalls nicht erforderlich, um die Virusverbreitung einzudämmen, da die getroffenen Hygienemaßnahmen im Bereich der Tanzsportvereine hierfür bereits ausreichend seien. Es würden maximal zwei Personen gleichzeitig trainieren, weitere Personen seien beim Training nicht anwesend. Nach einer Trainingsstunde werde der Raum vor der nächsten Nutzung 15 Minuten gelüftet. Wenn aber schon keine Kontaktmöglichkeiten zu anderen Tänzern bestünden, habe das Verbot der Nutzung von Sportstätten nur noch den Zweck, in der Öffentlichkeit das Bewusstsein über die Gefährlichkeit des Virus zu entfachen oder politische Entschiedenheit zu demonstrieren. Solche Motive seien aber grob unverhältnismäßig, insbesondere gegenüber weiterhin erlaubten Tätigkeiten mit deutlich mehr Kontaktmöglichkeiten. Außerdem sei nicht sachlich zu rechtfertigen, dass er seine Räume seinen (zahlenden) Mitgliedern nicht zur Verfügung stellen dürfe, während die entgeltliche Überlassung von Räumlichkeiten ansonsten zulässig bleibe. Die Dringlichkeit des Eilverfahrens ergebe sich aus einer Austrittswelle seiner Mitglieder seit Beginn der Pandemie; da der Antragsteller gemeinnützig betrieben werde, erhalte er auch keine staatliche Unterstützung.
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3. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.
II.
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Der zulässige Antrag hat keinen Erfolg.
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1. Die Voraussetzungen des § 47 Abs. 6 VwGO, wonach das Normenkontrollgericht eine einstweilige Anordnung erlassen kann, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist, liegen nicht vor. Ein (noch zu stellender) Normenkontrollantrag in der Hauptsache gegen § 10 Abs. 3 11. BayIfSMV hat unter Anwendung des Prüfungsmaßstabs im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO (a) bei summarischer Prüfung bereits keine durchgreifende Aussicht auf Erfolg (b). Unabhängig davon ginge auch eine Folgenabwägung zu Lasten des Antragstellers aus (c).
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a) Prüfungsmaßstab im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO sind in erster Linie die Erfolgsaussichten des in der Hauptsache anhängigen oder noch zu erhebenden Normenkontrollantrags, soweit sich diese im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bereits absehen lassen (BVerwG, B.v. 25.2.2015 ‒ 4 VR 5.14 u.a. ‒ ZfBR 2015, 381 - juris Rn. 12; zustimmend OVG NW, B.v. 25.4.2019 - 4 B 480/19.NE - NVwZ-RR 2019, 993 - juris Rn. 9). Dabei erlangen die Erfolgsaussichten des Normenkontrollantrags eine umso größere Bedeutung für die Entscheidung im Eilverfahren, je kürzer die Geltungsdauer der in der Hauptsache angegriffenen Normen befristet und je geringer damit die Wahrscheinlichkeit ist, dass eine Entscheidung über den Normenkontrollantrag noch vor dem Außerkrafttreten der Normen ergehen kann.
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Ergibt die Prüfung der Erfolgsaussichten der Hauptsache, dass der Normenkontrollantrag voraussichtlich unzulässig oder unbegründet sein wird, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten. Erweist sich dagegen, dass der Antrag zulässig und (voraussichtlich) begründet sein wird, so ist dies ein wesentliches Indiz dafür, dass der Vollzug bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache suspendiert werden muss. In diesem Fall kann eine einstweilige Anordnung ergehen, wenn der (weitere) Vollzug vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile befürchten lässt, die unter Berücksichtigung der Belange des Antragstellers, betroffener Dritter und/oder der Allgemeinheit so gewichtig sind, dass eine vorläufige Regelung mit Blick auf die Wirksamkeit und Umsetzbarkeit einer für den Antragsteller günstigen Hauptsacheentscheidung unaufschiebbar ist (BVerwG, B.v. 25.2.2015 ‒ 4 VR 5.14 u.a. ‒ juris Rn. 12).
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Lassen sich die Erfolgsaussichten nicht absehen, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden. Gegenüberzustellen sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die begehrte Außervollzugsetzung nicht erginge, der Normenkontrollantrag aber später Erfolg hätte, und die Folgen, die entstünden, wenn die begehrte Außervollzugsetzung erlassen würde, der Normenkontrollantrag aber später erfolglos bliebe. Die für eine einstweilige Außervollzugsetzung sprechenden Erwägungen müssen die gegenläufigen Interessen dabei deutlich überwiegen, also so schwer wiegen, dass sie - trotz offener Erfolgsaussichten der Hauptsache - dringend geboten ist (vgl. BVerwG, B.v. 25.2.2015 - 4 VR 5.14 u.a. - juris Rn. 12; Ziekow in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 47 Rn. 395; Hoppe in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 47 Rn. 106).
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b) Nach diesen Maßstäben ist der Eilantrag auf einstweilige Außervollzugsetzung der angegriffenen Bestimmungen abzulehnen, weil ein (noch zu stellender) Normenkontrollantrag bei summarischer Prüfung voraussichtlich keinen Erfolg hätte.
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aa) Im Hinblick auf die Frage, ob die angegriffene Untersagung des Betriebs von Sportstätten durch § 10 Abs. 3 Satz 1 10. BayIfSMV auf einer ausreichenden gesetzlichen Verordnungsermächtigung beruht, insbesondere den verfassungsrechtlichen Anforderungen an den Parlamentsvorbehalt und an das Bestimmtheitsgebot aus Art. 80 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG genügt, wird zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen auf den Beschluss des Senats vom 8. Dezember 2020 (20 NE 20.2461 - juris Rn. 22 ff.), wonach gegen die Verfassungsmäßigkeit des § 28a IfSG jedenfalls im Rahmen des Eilrechtsschutzes keine durchgreifenden Bedenken bestehen.
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Die vom Antragsteller angegriffene Bestimmung des § 10 Abs. 3 11. BayIfSMV steht mit der Ermächtigungsgrundlage der §§ 32 Satz 1, 28a Abs. 1 Nr. 8, 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG in Einklang und erweist sich im Rahmen einer summarischen Prüfung weder als offensichtlich unverhältnismäßig noch als gleichheitswidrig. Hierzu kann im Grundsatz auf die Ausführungen des Senats im Beschluss vom 25. November 2020 (20 NE 20.2567 - juris Rn. 25) betreffend die mit der angegriffenen Bestimmung gleichlautende Vorschrift des § 10 Abs. 3 8. BayIfSMV i.d.F.v. 12. November 2020, BayMBl. 2020 Nr. 639) Bezug genommen werden.
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Die angegriffene Regelung steht in Einklang mit dem Gesamtkonzept des Verordnungsgebers, freizeitbezogene Aktivitäten weitgehend zu untersagen, um damit nicht zwingend erforderliche physische Kontakte zu verhindern und das Infektionsgeschehen abzuschwächen. Die Untersagung der Nutzung von Sportstätten erfolgt, um soziale Kontakte zu reduzieren und so Infektionsketten zu verhindern bzw. zu durchbrechen. Immer dann, wenn Menschen aufeinandertreffen, besteht das Risiko einer Ansteckung. Nach den bisherigen Erfahrungen erscheint die Prognose, dass die Verbreitung des besonders leicht im Wege der Tröpfcheninfektion und über Aerosole von Mensch zu Mensch übertragbaren Virus voraussichtlich nur durch eine strikte Minimierung der physischen Kontakte zwischen den Menschen eingedämmt werden kann (BT-Drs. 19/23944 S. 31), zumindest nachvollziehbar. In der derzeitigen pandemischen Situation eines stark zunehmenden und diffusen Infektionsgeschehens begegnet die Entscheidung des Verordnungsgebers, die Ausübung von Freizeitsport weitgehend einzuschränken, um hierdurch vermeidbare physische Kontakte - die sich nicht nur innerhalb der Sportstätten, sondern auch auf den Wegen dorthin und von dort ergeben können - zu minimieren, keinen durchgreifenden Bedenken (vgl. zur alten Rechtslage BayVGH, B.v. 5.11.2020 - 20 NE 20.2468 - BeckRS 2020, 29302 Rn. 21). Deshalb kommt es auf die Frage des konkreten Infektionsrisikos speziell bei der Nutzung von Tanzsälen nicht maßgeblich an.
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Gleichzeitig dürfte die Erwägung, einzelne Wirtschaftszweige trotz bestehender Infektionsgefahren von Schließungen auszunehmen (vgl. etwa § 12 Abs. 1 Satz 2 11. BayIfSMV), weil dies gesamtwirtschaftlich mit noch schwereren Folgen verbunden wäre, von § 28a Abs. 6 Satz 3 IfSG noch gedeckt sein, da der Gesetzgeber den Infektionsschutzbehörden bei bereichsspezifischen Differenzierungen in einem Gesamtkonzept einen Gestaltungsspielraum eingeräumt hat (vgl. BT-Drs. 19/24334 S. 82).
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c) Unabhängig von Vorstehendem ergibt eine Folgenabwägung, dass die betroffenen Schutzgüter der Normadressaten, insbesondere ihre Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1 und Art. 12 Abs. 1 GG, derzeit hinter den Schutz von Leben und Gesundheit einer Vielzahl von Menschen zurücktreten müssen (vgl. auch BVerfG, B.v. 11.11.2020 - BvR 2530/20 - juris Rn. 12 ff.; BayVerfGH, E.v. 16.11.2020 - Vf. 90-VII-20 - BeckRS 2020, 31088 - Rn. 41); eine Außervollzugsetzung der angegriffenen Normen kommt daher auch insofern nicht in Betracht.
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Das pandemische Geschehen hat sich erheblich verstärkt. Nach dem Situationsbericht des Robert-Koch-Instituts (RKI) vom 16. Dezember 2020 (vgl. abrufbar unter https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Dez_2020/2020-12-16-de.pdf? blob=publicationFile) ist weiterhin eine hohe Anzahl an Übertragungen in der Bevölkerung in Deutschland zu beobachten. Die Inzidenz der letzten sieben Tage liegt deutschlandweit bei 180 Fällen pro 100.000 Einwohner. In Sachsen liegt sie mehr als doppelt hoch, in Bayern mit 210 Fällen pro 100.000 Einwohner deutlich über der Gesamtinzidenz. Seit Anfang September nimmt der Anteil älterer Personen unter den COVID-19-Fällen wieder zu. Die Sieben-Tage-Inzidenz bei Personen ≥ 60 Jahre liegt bei aktuell 171 Fällen pro 100.000 Einwohner. Die hohen bundesweiten Fallzahlen werden verursacht durch zumeist diffuse Geschehen, mit zahlreichen Häufungen insbesondere in Haushalten sowie in Alten- und Pflegeheimen, aber auch in beruflichen Situationen, in Gemeinschaftseinrichtungen und ausgehend von religiösen Veranstaltungen. Für einen großen Anteil der Fälle kann das Infektionsumfeld nicht ermittelt werden. Auch die Risikobewertung des RKI wurde angepasst. Das RKI schätzt nunmehr die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland insgesamt als sehr hoch ein (vgl. Risikobewertung vom 11.12.2020, abrufbar unter https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.html).
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In dieser Situation ergibt die Folgenabwägung, dass die zu erwartenden Folgen einer Außervollzugsetzung der angegriffenen Normen - im Hinblick auf die damit einhergehende mögliche Eröffnung weiterer Infektionsketten - schwerer ins Gewicht fallen als die Folgen ihres weiteren Vollzugs für die Rechte der Normadressaten, zumal die Ausübung von Individualsportarten weiterhin grundsätzlich zulässig bleibt (vgl. § 10 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 4, ggf. i.V.m. § 2 Satz 2 Nr. 10 11. BayIfSMV). Gegenüber den bestehenden Gefahren für Leib und Leben, vor denen zu schützen der Staat nach dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 GG verpflichtet ist, müssen die Interessen der von der Schließung von Sportstätten Betroffenen derzeit zurücktreten (vgl. auch BVerfG, B.v. 15.7.2020 - 1 BvR 1630/20 - juris Rn. 25; BVerfG, B.v. 11.11.2020 - 1 BvR 2530/20 - juris).
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2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Gegenstandswertes ergibt sich aus § 53 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. § 52 Abs. 1 GKG. Da die vom Antragsteller angegriffene Verordnung bereits mit Ablauf des 10. Januar 2021 außer Kraft tritt (§ 29 Abs. 1 11. BayIfSMV), zielt der Eilantrag inhaltlich auf eine Vorwegnahme der Hauptsache, weshalb eine Reduzierung des Gegenstandswertes für das Eilverfahren auf der Grundlage von Ziff. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit hier nicht angebracht ist.