Titel:
Kein privilegierendes Augenblicksversagen bei qualifiziertem Rotlichtverstoß allein wegen blinkender Kontrollleuchte
Normenketten:
StVG § 24 Abs. 1, § 25 Abs. 1 S. 1, § 26a
StVO § 37 Abs. 2 Nr. 1 S. 6, § 49 Abs. 3 Nr. 2
BKatV § 1 Abs. 1, § 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 3
Leitsätze:
1. Das plötzlichen Aufleuchten einer Kontrollleuchte im Fahrzeug allein rechtfertigt nicht den Wegfall des wegen eines qualifizierten Rotlichtverstoßes verwirkten Fahrverbots unter dem Gesichtspunkt eines sog. "Augenblicksversagens“, wenn konkrete Feststellungen dazu fehlen, welche Warnleuchten aufleuchteten, ob und ggf. welche sonstigen Auffälligkeiten am Fahrzeug des Betroffenen plötzlich auftraten, in welcher zeitlichen Phase der Annäherung an die Ampelanlage dies erfolgte und wie sich das sonstige Verkehrsgeschehen darstellte. (Rn. 8)
2. Für die Feststellung eines qualifizierten Rotlichtverstoßes genügt die bloße Angabe des Polizeibeamten, sicher zu sein, dass die Ampel schon deutlich länger als 1 Sekunde rot zeigte, und die Angabe des Betroffenen, den Rotlichtverstoß nicht in Abrede stellen zu wollen, nicht. (Rn. 4 – 5)
Schlagworte:
Fahrverbot, Augenblicksversagen, Kontrollleuchte, Rotlichtverstoß, qualifiziert, Schätzung, Bußgeldverfahren, Feststellungen, Zeugenaussage, Polizeibeamter
Fundstellen:
DAR 2021, 159
LSK 2020, 35555
BeckRS 2020, 35555
Tenor
I. Auf die Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Amtsgerichts vom 10.03.2020 mit den zugehörigen Feststellungen sowie in der Kostenentscheidung aufgehoben.
II. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das Amtsgericht zurückverwiesen.
Gründe
1
Mit Bußgeldbescheid der Zentralen Bußgeldstelle im Bayer. Polizeiverwaltungsamt vom 29.11.2019 wurde gegen die Betroffene wegen einer am 18.11.2019 um 19:12 Uhr in U. an der S.-Straße Kreuzung M.-Straße begangenen fahrlässigen Missachtung des Rotlichts einer Lichtzeichenanlage, wobei die Rotphase bereits länger als eine Sekunde andauerte, eine Geldbuße in Höhe von 200 Euro sowie wegen des groben Pflichtenverstoßes ein - mit der Vollstreckungserleichterung gemäß § 25 Abs. 2a StVG versehenes - Fahrverbot für die Dauer eines Monats festgesetzt. Das Amtsgericht verurteilte die Betroffene aufgrund der Hauptverhandlung vom 10.03.2020 im Schuldspruch entsprechend dem Bußgeldbescheid und verhängte eine Geldbuße in Höhe von 300 Euro. Von der Verhängung des im Bußgeldbescheid angeordneten Fahrverbotes sah es dagegen ab, weil bei der Betroffenen aufgrund einer blinkenden Kontroll- bzw. Warnleuchte ein sog. Augenblicksversagen anzunehmen sei. Gegen dieses Urteil wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer form- und fristgerecht eingelegten Rechtsbeschwerde, die sie mit der Verletzung materiellen Rechts begründet. Die Staatsanwaltschaft beantragt, das Urteil des Amtsgerichts vom 10.03.2020 mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und beanstandet insbesondere, dass das Amtsgericht zu Unrecht von der Verhängung eines Fahrverbotes abgesehen habe sowie die Lückenhaftigkeit der Feststellungen zur Dauer der Rotlichtphase. Die Generalstaatsanwaltschaft, die das Rechtsmittel vertritt, hat in ihrer Stellungnahme vom 07.07.2020 beantragt, das Urteil des Amtsgerichts vom 10.03.2020 auf die Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft mit den Feststellungen aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht zurückzuverweisen, hilfsweise das Urteil im Rechtsfolgenausspruch aufzuheben.
2
Die gemäß § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 OWiG statthafte und im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft hat auf die Sachrüge hin Erfolg, weil sich die Urteilsgründe als lückenhaft erweisen.
3
1. Auch wenn im Bußgeldverfahren an die Abfassung der schriftlichen Urteilsgründe keine übertrieben hohen Anforderungen zu stellen sind und sich der Begründungsaufwand auf das rechtsstaatlich unverzichtbare Maß beschränken kann, so kann für deren Inhalt grundsätzlich nichts anderes als im Strafverfahren gelten. Denn auch im Bußgeldverfahren sind die Urteilsgründe die alleinige Grundlage für die rechtliche Überprüfung des Urteils auf die Sachrüge hin. Sie müssen daher so beschaffen sein, dass dem Rechtsbeschwerdegericht die Nachprüfung einer richtigen Rechtsanwendung ermöglicht wird. Dies gilt auch für die Beweiswürdigung, weil das Rechtsbeschwerdegericht nur so in den Stand versetzt wird, die Beweiswürdigung des Tatrichters auf Widersprüche, Unklarheiten, Lücken oder Verstöße gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze zu überprüfen (Göhler/Seitz/Bauer OWiG 17. Aufl. § 71 Rn. 42, 43 m.w.N.). Zwar muss das Rechtsbeschwerdegericht die subjektive Überzeugung des Tatrichters von dem Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts grundsätzlich hinnehmen und es ist ihm verwehrt, seine eigene Überzeugung an die Stelle der tatrichterlichen Überzeugung zu setzen. Allerdings kann und muss vom Rechtsbeschwerdegericht überprüft werden, ob die Überzeugung des Tatrichters in den getroffenen Feststellungen und der ihnen zugrundeliegenden Beweiswürdigung eine ausreichende Grundlage findet. Die Urteilsgründe des Tatgerichts müssen mithin erkennen lassen, dass die Beweiswürdigung auf einer tragfähigen, verstandesmäßig einsehbaren Tatsachengrundlage beruht und die vom Tatrichter gezogene Schlussfolgerung nicht etwa nur eine Annahme ist oder sich als bloße Vermutung erweist, die letztlich nicht mehr als einen Verdacht zu begründen vermag (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 22.08.2013 - 1 StR 378/13 = NStZ-RR 2013, 387, 388). Daher müssen die Urteilsgründe, wenn nicht lediglich ein sachlich und rechtlich einfach gelagerter Fall von geringer Bedeutung vorliegt, regelmäßig erkennen lassen, auf welche Tatsachen das Gericht seine Überzeugung gestützt hat. Nur so ist gewährleistet, dass das Rechtsbeschwerdegericht die tatrichterliche Beweiswürdigung auf Rechtsfehler überprüfen kann (KK/Senge OWiG 5. Aufl. § 71 Rn. 115; Göhler a.a.O. § 71 Rn. 43, 43a jeweils m.w.N.).
4
2. Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht hinreichend gerecht. Der Beweiswürdigung fehlt hinsichtlich der festgestellten Rotlichtdauer von „über“ 1 Sekunde eine tragfähige Grundlage. Das Amtsgericht trifft im Rahmen der Beweiswürdigung u.a. folgende Feststellungen:
„Auf Grund der Aussage von POMin L., die der Betroffenen folgte und sie unmittelbar danach anhielt - steht zum ein fest, dass der Pkw zum Tatzeitpunkt von der Betroffenen geführt wurde und zum anderen, dass die von ihr überfahrene Rotphase länger als 1 Sekunde andauerte. Insoweit gab die Zeugin glaubwürdig an, sicher zu sein, dass die von der Betroffenen passierte Ampel schon deutlich länger als 1 Sekunde rot zeigt. Die Betroffene, die den Rotlichtverstoß nicht in Abrede stellen wollte […]“
5
Das Amtsgericht hat sich zur Feststellung des qualifizierten Rotlichtverstoßes somit allein auf die Bekundungen der Polizeibeamtin und die Angabe der Betroffenen, sie wolle den Verstoß nicht in Abrede stellen, gestützt. Zwar können für den Beweis eines - auch eines qualifizierten - Rotlichtverstoßes grundsätzlich auch Schätzungen von Zeugen, insbesondere von Polizeibeamten, herangezogen werden. Hier ist aber nicht erkennbar, ob die Aussage der Beamtin das Ergebnis richtig ermittelter objektiver Anknüpfungstatsachen und deren richtiger Verknüpfung aufgrund verkehrsanalytischer Erfahrungssätze ist, oder ob es sich lediglich um eine freie Schätzung handelt. Zur Feststellung von Zeitintervallen im Sekundenbereich sind freie Schätzungen aufgrund gefühlsmäßiger Erfassung generell ungeeignet, da erfahrungsgemäß hierbei ein erhebliches Fehlerrisiko besteht (BayObLGSt 2002, 100, 101). Tatsächliche Anhaltspunkte, die die Richtigkeit der Schätzung überprüfen ließen, etwa die Geschwindigkeit der Betroffenen und ihr Abstand von der Haltelinie beim Umschalten auf Rotlicht, werden im Urteil nicht mitgeteilt. Es wird auch nicht mitgeteilt, ob es sich um eine gezielte Rotlichtüberwachung, bei der die Wahrnehmung der hierbei tätigen Polizeibeamten entsprechend geschärft ist (vgl. OLG Hamm NZV 2010, 44f.), oder aber lediglich um eine zufällige Rotlichtüberwachung, bei der die wahrnehmenden Polizeibeamten in der Regel weniger aufmerksam sind, gehandelt hat. Feststellungen, mit welcher Methode die Zeugin den Rotlichtverstoß gemessen hat, fehlen im Urteil.
6
Die Feststellung, die Betroffene habe den Rotlichtverstoß nicht in Abrede stellen wollen, belegt den qualifizierten Rotlichtverstoß ebenfalls nicht tragfähig, denn daraus ergibt sich zum einen nicht, dass die Dauer des Rotlichts eingeräumt wurde, und zum anderen führt das Amtsgericht auch nichts dazu aus, ob die Betroffene überhaupt Angaben zur konkreten Dauer machen konnte.
7
2. Die Feststellungen im angefochtenen Urteil sind auch hinsichtlich des Rechtsfolgenausspruchs lückenhaft. Die Feststellungen des Amtsgerichts hinsichtlich eines sog. Augenblicksversagens zeigen durchgreifende Rechtsfehler auf.
8
Hierzu führt die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme vom 07.07.2020 wie folgt aus:
„Das angegriffene Urteil enthält keine konkreten Feststellungen zur genauen Dauer der Rotlichtphase beim Überfahren der Haltelinie bzw. Einfahrt in den Kreuzungsbereich durch die Betroffene, dem Fahrverhalten der Betroffenen bei Annäherung und Erreichen der Lichtzeichenanlage, der Beobachtungsposition der den Rotlichtverstoß feststellenden Polizeibeamten, der Methode zur Feststellung des qualifizierten Rotlichtverstoßes und sonstigen Umständen zur Tatsituation, beispielsweise Verkehrsdichte, vorausfahrenden sowie nachfolgenden Fahrzeugen oder Haltemöglichkeiten für den Fall einer Fahrzeugpanne, die Rückschlüsse darauf ermöglichen, ob das von der Betroffenen geltend gemachte Ereignis des plötzlichen Aufleuchtens einer Warnleuchte geeignet war, […] ein Augenblicksversagen anzunehmen, das ein Absehen vom Regelfall des Fahrverbots zu begründen vermag. Das Ereignis des plötzlichen Aufleuchtens von Warnleuchten müsste einem unübersichtlichen, besonders schwierigen, überraschenden oder verwirrenden Verkehrsgeschehen gleichstehen. Dies erfordert zumindest Feststellungen dazu, welche konkreten Warnleuchten aufleuchteten, ob und ggf. welche sonstigen Auffälligkeiten am Fahrzeug der Betroffenen plötzlich auftraten, in welcher zeitlichen Phase der Annäherung an die Ampelanlage dies erfolgte und wie sich das sonstige Verkehrsgeschehen darstellte. Zudem erscheinen die Urteilsgründe insofern widersprüchlich, als das Tatgericht einerseits zwar von einer Verunsicherung der Betroffenen ausgeht, andererseits aber zugleich annimmt, dass bei einer blinkenden Kontrollleuchte nicht sofort ein schwerwiegender Defekt zu erwarten sei, sondern die Weiterfahrt problemlos möglich sei. Dadurch ist aber die angenommene Verunsicherung der Betroffenen nicht nachvollziehbar begründet, zumal Fehlfunktionen des Fahrzeugs nicht festgestellt sind. Bei vorliegenden Defekten erscheint demgegenüber ein Anhalten aus Sorge um Schäden am Fahrzeug die naheliegende Reaktion im Gegensatz zu einer Weiterfahrt. Damit setzen sich die Urteilsgründe nicht auseinander.“
9
Der Senat tritt diesen Ausführungen bei. Die Urteilsgründe lassen besorgen, dass das Tatgericht keine eigenen, die Annahme eines Ausnahmefalls rechtfertigenden Feststellungen getroffen, sondern im Wesentlichen die Ausführungen der Betroffenen übernommen hat.
10
Aufgrund der aufgezeigten sachlich-rechtlichen Mängel ist auf die Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft hin das angefochtene Urteil mit den diesem zugrunde liegenden Feststellungen und in der Kostenentscheidung aufzuheben (§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG i.V. m. § 353 StPO). Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Amtsgericht zurückverwiesen (§ 79 Abs. 6 OWiG).
11
Der Senat entscheidet durch Beschluss gemäß § 79 Abs. 5 Satz 1 OWiG.
12
Gemäß § 80a Abs. 1 OWiG entscheidet der Einzelrichter