Inhalt

AG Starnberg, Beschluss v. 25.05.2020 – XVII 474/19
Titel:

Betreuerbestellung - Absehen von der persönlichen Anhörung aus infektionsprophylaktischen Gründen ("Corona")

Normenketten:
BGB § 1896, § 1899 Abs. 1
FamFG § 34 Abs. 2, § 278 Abs. 4, § 319 Abs. 3
Leitsätze:
1. Ist die Betroffene wegen ihrer Erkrankung (hier: Entzündung Gehirn und Wachkoma nach Herzstillstand) offensichtlich nicht in der Lage, ihren Willen kundzutun, ist sie zudem altersbedingt Angehörige einer vom Robert-Koch-Institut benannten Risikogruppe und befindet sie sich in einer Intensivpflege, kann von der persönlichen Anhörung aus infektionsprophylaktischen Gründen wegen des "Corona-Virus" abgesehen werden.  (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
2. Es ist ein Berufsbetreuer zu bestellen, wenn der bislang als vorläufiger Betreuer eingesetzte Familienangehörige (hier Ehemann und Sohn der Betroffenen) mit der Ausübung der Betreuung überfordert erscheint, weil er trotz mehrfacher Aufforderung ein Vermögensverzeichnis nicht eingereicht hat und eine Kostenerstattung des medizinischen Aufenthalts mangels Antragstellung nicht erfolgen konnte. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Betreuung, Bestellung Berufsbetreuer, Absehen von der persönlichen Anhörung, persönlicher Eindruck, kommunikationsunfähiger Betroffener, Risikogruppe, Corona
Rechtsmittelinstanzen:
LG München II, Beschluss vom 23.06.2020 – 6 T 2206/20
BGH Karlsruhe, Beschluss vom 04.11.2020 – XII ZB 344/20
Fundstelle:
BeckRS 2020, 33566

Tenor

Die Betreuung wird angeordnet.
Die Betreuung umfasst folgende Aufgabenkreise:
- Vertretung gegenüber Behörden, Versicherungen, Renten- und Sozialleistungsträgern
- Vermögenssorge
- Abschluss, Änderung und Kontrolle der Einhaltung eines Heim-Pflegevertrages
- Aufenthaltsbestimmung
- Gesundheitsfürsorge
- Entgegennahme, Öffnen und Anhalten der Post im Rahmen der übertragenen
Aufgabenkreise
- Wohnungsangelegenheiten
Zu Betreuern werden bestellt:
Frau M. N., geboren am ... 1983, E1
- als Berufsbetreuerin
Der Aufgabenkreis der Betreuerin umfasst:
- Vertretung gegenüber Behörden, Versicherungen, Renten- und Sozialleistungsträgern
- Vermögenssorge
- Abschluss, Änderung und Kontrolle der Einhaltung eines Heim-Pflegevertrages
- Aufenthaltsbestimmung
- Gesundheitsfürsorge
- Entgegennahme, Öffnen und Anhalten der Post im Rahmen der übertragenen Aufgabenkreise
- Wohnungsangelegenheiten Herr E2. R., G1.
 Der Aufgabenkreis des Betreuers umfasst:
- Gesundheitsfürsorge Herr K1. H1. Sch.  M1.
 Der Aufgabenkreis des Betreuers umfasst:
- Gesundheitsfürsorge
- Aufenthaltsbestimmung
Die Betreuer sind in ihren Aufgabenbereichen jeweils allein vertretungsberechtigt.
Das Gericht wird spätestens bis zum 25.05.2022 über die Aufhebung oder Verlängerung der Betreuung entscheiden.
Bis zu einer erneuten Entscheidung gelten die getroffenen Regelungen fort.
Die sofortige Wirksamkeit der Entscheidung wird angeordnet.

Gründe

A)
1
Für die Betroffene wurde mit Beschluss des Amtsgerichts München vom 27.05.2019 (Blatt 10/15 der Akte) aufgrund Komas wegen einer Encephalitis Betreuung angeordnet und der Sohn der Betroffenen, Herr E2. R., und deren Ehemann, Herr K2. S2., als jeweils alleinvertretungsberechtigte Betreuer bestellt.
2
Die Betroffene wurde am 28.05.2019 (Blatt 16 der Akte) angehört.
3
Die dort zuständige Betreuungsrichterin beschreibt in ihrem Ermittlungsauftrag vom 19.08.2019 (Blatt 19 der Akte) Probleme betreffend die Kommunikation mit den Betreuern, die auch von der Klinik geäußert worden seien.
4
Das Verfahren wurde mit Beschluss des Amtsgerichts München vom 27.08.2019 an das Amtsgericht Starnberg abgegeben.
5
Die Betroffene wurde am 15.06.2019 in die Schön Klinik B. A. verlegt.
6
Mit Schreiben vom 09.09.2019 wurden die Betreuer von der zuständigen Rechtspflegerin aufgefordert, zum Zwecke eines Verpflichtungstermins Kontakt aufzunehmen (Blatt 29 B der Akte). Mit Schreiben vom 09.09.2019 (Blatt 30 der Akte) wurden die Betreuer angemahnt, der Terminsaufforderung nachzukommen. Mit Verfügung vom 15.10.2019 (Blatt 32 der Akte) wurde die Terminsaufforderung bei beiden Betreuern moniert.
7
Am 23.9.2019 (Blatt 31 der Akte) meldete sich der Betreuer Herr E2. R. erstmals telefonisch beim Amtsgericht Starnberg. Am 29.10.2019 teilte der Betreuer Herr R. mit, dass er einen Termin zur Verpflichtung nicht mehr für erforderlich halte (Blatt 33 der Akte).
8
Aufgrund des Attestes vom 21.11.2019 (Blatt 40 der Akte) wurde mit Beschluss des Amtsgerichts Starnberg vom 22.11.2019 die Betreuung unter Aufrechterhaltung der Betreuerbestellung vorläufig verlängert (Blatt 42/45 der Akte). Die Betroffene wurde im Wege der Rechtshilfe vom Amtsgericht Rosenheim (Blatt 4849 der Akte) dazu angehört.
9
Am 13.12.2019 erschien der vorläufige Betreuer Karl-Heinz Schiek zur Betreuerverpflichtung. Dort wurde dieser aufgefordert, das Vermögensverzeichnis zum Stichtag 28.5.2019 innerhalb von 8 Wochen einzureichen.
10
Mit Vermerk vom 06.02.2020 (Blatt 55 der Akte) bat die zuständige Rechtspflegerin um Überprüfung der Eignung des vorläufigen Betreuers E. R.. Der Ehemann der Betroffenen hatte gegenüber der Rechtspflegerin geäußert, der Betreuer Herr E2. R. würde das Vermögensverzeichnis erstellen.
11
Aufgrund eines Herzstillstandes änderte sich der Zustand der Betroffenen nochmals. Diese fiel wiederum ins Koma. Mit Schreiben vom 26.03.2020 erhielt der Betreuer Herr S2. nochmals einen Vordruck für das Vermögensverzeichnis (Blatt 64 der Akte).
12
Die Betroffene wurde mittlerweile aufgrund des weiterhin fortbestehenden Wachkomas in die F. M2. GmbH nach T. verlegt.
13
Der Betreuer Herr R. war für die Betreuungsstelle nicht erreichbar (Blatt 73 der Akte). Mit Schreiben vom 05.04.2020 setzte die Betreuungsstelle dem Betreuer E. R. eine Frist zur Vorlage des Vermögensverzeichnisses (Blatt 75 der Akte).
14
Ein Vermögensverzeichnis ist bis heute nicht eingegangen (auch Blatt 77 der Akte).
15
Es liegt ein Sachverständigengutachten zur Frage der Notwendigkeit einer Betreuung bei der Schönklinik B. A., Sachverständige H2. Dr. S3. und Herr Dr. D., vom 03.04.2020 vor (Blatt 68/70 der Akte).
16
Die Betreuungsstelle empfiehlt in ihrem Bericht vom 08.05.2020 (Bl. 78/82 der Akte) eine zusätzliche Berufsbetreuerin zu bestellen, dem Betreuer E. R. lediglich die Gesundheitsfürsorge und dem Betreuer Herrn S2. die Aufgabenbereiche Aufenthaltsbestimmung, Gesundheitsfürsorge und Vermögenssorge zu überlassen (Blatt 78/82 der Akte). Dieser Bericht wurde den vorläufigen Betreuern zur Stellungnahme übersandt. Beide Betreuer sind nicht einverstanden mit der Bestellung einer weiteren Betreuerin (Blatt 84 und 85 der Akte).
17
Aufgrund Ablaufes der vorläufigen Betreuung wurde die vorläufige Betreuung noch einmal bis zum letzten möglichen Zeitpunkt (26.05.2020) verlängert (Blatt 86 ff. der Akte).
18
Der Betroffenen wurde eine Verfahrenspflegerin bestellt. Diese nahm mit Schreiben vom 20.05.2020 Stellung (Blatt 91/92 der Akte). Diese empfiehlt, den vorläufigen Betreuer E. R. nicht zu bestellen und bei dem Betreuer Herrn S2. lediglich die Bereiche Gesundheit und Aufenthaltsbestimmung zu belassen.
19
Ein Telefonat mit der Betreuungsstelle vom 25.05.2020 (Blatt 95 der Akte) ergab, dass die Betreuungsstelle sich der Empfehlung der Verfahrenspflegerin, die Vermögenssorge allein von der Berufsbetreuerin führen zu lassen, anschließt.
B)
20
1) Die Voraussetzungen für die Bestellung der Betreuer sind gegeben.
21
Die Betreute ist aufgrund einer der in § 1896 Abs. 1 Satz 1 BGB aufgeführten Krankheiten bzw. Behinderungen, nämlich eines Zustandes reaktionsloser Wachheit, nicht in der Lage, die Angelegenheiten ausreichend zu besorgen, die zu den genannten Aufgabenkreisen gehören.
22
Dies folgt aus dem Ergebnis der gerichtlichen Ermittlungen, insbesondere aus
- dem ärztlichen Gutachten der Sachverständigen Herrn Dr. M Sch. und Dr. J. D. vom 03.04.2020,
- dem Bericht der Betreuungsbehörde Landratsamt St. vom 08.05.2020 und der telefonischen Stellungnahme vom 25.05.2020 und
- der Stellungnahme der Verfahrenspflegerin S. B. vom 20.05.2020.
23
Die Betreuerbestellung ist erforderlich, weil die Regelung der Angelegenheiten der Betreuten anderweitig nicht erfolgen kann. Insbesondere kann die Betreute krankheitsbedingt keine Vorsorgevollmacht mehr erteilen, die eine Betreuung entbehrlich machen würde.
24
2) Von der persönlichen Anhörung der Betreuten wurde abgesehen, weil die Betreute zum einen offensichtlich nicht in der Lage ist, ihren Willen kundzutun. Zudem befindet sich die Betroffene in der Intensivpflege Fero-MedikGmbH. Aus infektionsprophylaktischen Gründen verbietet sich aufgrund der noch vorherrschenden Krisensituation wegen des sog. „Corona-Virus“ (SARS-CoV-2; COVID-19) eine Gefährdung der Betroffenen, weiterer Patienten und des medizinischen Personals in einer Anhörungssituation. Dies beruht auf eine Anwendung der §§ 278 Abs. 4, 319 Abs. 3 in Verbindung mit § 34 Abs. 2 FamFG. Dieser durch das Absehen von der persönlichen Anhörung der Betroffenen hervorgerufene massive Eingriff in deren Recht auf rechtliches Gehör, Art. 103 Grundgesetz, rechtfertigt sich aus der aufgrund des allgemein bekannten pandemischen Infektgeschehens vorliegenden Krisensituation. Altersbedingt gehört die Betroffene zu der vom Robert-Koch-Institut benannten Risikogruppe.
25
Der Betroffenen wurde auch aufgrund der Tatsache, dass eine Anhörung nicht durchgeführt werden kann, eine Verfahrenspflegerin bestellt. Auch diese geht davon aus, dass eine Anhörung aufgrund der derzeitigen Krisensituation und der damit verbundenen Ansteckungsgefahr nicht zu verantworten sei.
26
3) Es sind drei Betreuer zu bestellen, da die Angelegenheiten der Betreuten so besser besorgt werden können (§ 1899 Abs. 1 BGB).
27
Es war eine Berufsbetreuerin zu bestellen, da die bislang als vorläufige Betreuer eingesetzte Ehemann und Sohn der Betroffenen mit der Ausübung der Betreuung überfordert erscheinen. Trotz mehrfacher Aufforderung wurde bislang ein Vermögensverzeichnis nicht eingereicht. Der Sohn der Betroffenen, Herr E2. R., befindet sich im Ausland. Eine Kostenerstattung des intensiv medizinischen Aufenthalts des Betroffenen konnte bislang nicht erfolgen, da die entsprechenden Anträge von den Betreuern nicht gestellt wurden.
28
Da sich jedoch sowohl Ehemann als auch Sohn in gesundheitlichen Dingen um die Betroffene kümmern, waren die auf Aufgabenbereiche der Gesundheitsfürsorge bei beiden vorläufigen Betreuern zu belassen, dem Ehemann zusätzlich der Aufgabenbereich der Aufenthaltsbestimmung.
29
Bei der Auswahl der Berufsbetreuerin ist das Gericht dem bedenkenfreien Vorschlag der Betreuungsbehörde gefolgt.
30
Das Gericht hat zwei Personen aus dem Kreis der Angehörigen der Betreuten bestellt.
31
4) Der Wille der Betroffenen konnte nicht ermittelt werden, da diese sich nicht mehr zu der Frage der Betreuung äußern kann. Sollte die Anordnung der Betreuung mit Bestellung einer Berufsbetreuerin nicht dem derzeit nicht feststellbaren Willen der Betroffenen erfolgen, so gilt folgendes:
32
Die Betreute ist jedoch krankheitsbedingt nicht zu einer freien Willensbildung im Hinblick auf die Entscheidung über die Betreuerbestellung in der Lage. Aufgrund der Schwere der Erkrankung liegt vollständige Geschäftsunfähigkeit der Betroffenen vor
33
5) Bei der Festsetzung der Überprüfungsfrist hat das Gericht die Ausführungen des Sachverständigen berücksichtigt und geht davon aus, dass sich der Gesundheitszustand der Betreuten aufgrund des Krankheitsbildes bis zur erneuten Überprüfung nicht wesentlich bessern wird. Anders als von der Betreuungsstelle empfohlen hat das Gericht einen kürzeren Überprüfungszeitraum festgesetzt, zum einen um festzustellen, ob die Betreuereignung der Angehörigen der Betroffenen gegeben ist, zum anderen um festzustellen, ob sich der Gesundheitszustand der Betroffenen möglicherweise wieder gebessert hat.
34
6) Die Anordnung der sofortigen Wirksamkeit beruht auf § 287 Abs. 2 Satz 1 FamFG.