Inhalt

VGH München, Beschluss v. 25.11.2020 – 20 NE 20.2567
Titel:

Eilrechtsschutz gegen Schließung einer Balletschule

Normenketten:
VwGO § 47 Abs. 6
8. BayIfSMV § 10 Abs. 3
IfSG § 28, § 28a
GG Art. 2 Abs. 2 S. 1, Art. 12 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1, Art. 80
Leitsätze:
1. Die Frage, ob die Betriebsschließung von Tanzschulen und anderer Sportstätten in § 10 Abs. 3 8. BayIfSMV (bzw. des § 10 Abs. 4 8. BayIfSMV i.d.F. vom 30. Oktober 2020) auf einer ausreichenden gesetzlichen Verordnungsermächtigung beruht, ist auch nach Inkrafttreten des Dritten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 18. November 2020 (BGBl I S. 2397) als offen anzusehen. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Folgenabwägung zwischen den betroffenen Schutzgütern der Betreiber von Tanzschulen mit dem Schutzgut Leben und Gesundheit aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ergibt, dass die wirtschaftlichen Folgen wegen der aktuellen Situation der Corona-Pandemie derzeit hinter den Schutz von Leben und Gesundheit einer Vielzahl von Menschen zurücktreten müssen. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Eilrechtsschutz, Normenkontrolle, Ballettschule, Schließung, Corona, Pandemie, Infektionsschutz, Parlamentsvorbehalt, Bestimmtheitsgebot, Schutz von Leben und Gesundheit, freie wirtschaftliche Betätigung, Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb
Fundstelle:
BeckRS 2020, 32986

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 10.000,00 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
1
Die Antragstellerin betreibt eine Ballettschule in Bayern.
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Mit ihrem Antrag wendet sie sich gegen § 10 Abs. 3 der Achten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (8. BayIfSMV; BayMBl. 2020 Nr. 616 vom 30. Oktober 2020 in der Fassung vom 12. November 2020, BayMBl. 2020 Nr. 639) und beantragt, diese Regelung vorläufig außer Vollzug zu setzen.
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Die Regelung hat folgenden Wortlaut:
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㤠10 Sport
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(1) Die Ausübung von Individualsportarten ist nur allein, zu zweit oder mit den Angehörigen des eigenen Hausstands erlaubt. 2Die Ausübung von Mannschaftssportarten ist untersagt. Abs. 2 bleibt unberührt.
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(2) Der Wettkampf- und Trainingsbetrieb der Berufssportler sowie der Leistungssportler der Bundes- und Landeskader ist unter folgenden Voraussetzungen zulässig:
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1. Die Anwesenheit von Zuschauern ist ausgeschlossen.
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2. Es erhalten nur solche Personen Zutritt zur Sportstätte, die für den Wettkampf- oder Trainingsbetrieb oder die mediale Berichterstattung erforderlich sind.
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3. Der Veranstalter hat zur Minimierung des Infektionsrisikos ein Schutz- und Hygienekonzept auszuarbeiten und zu beachten, das auf Verlangen den zuständigen Behörden vorzulegen ist.
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(3) Der Betrieb und die Nutzung von Sporthallen, Sportplätzen, Fitnessstudios, Tanzschulen und anderen Sportstätten ist untersagt. Abweichend von Satz 1 ist für die in Abs. 1 Satz 1 genannten Zwecke der Betrieb und die Nutzung von Sportstätten unter freiem Himmel zulässig. Abs. 2 und § 18 bleiben unberührt.“
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Die Antragstellerin trägt vor, sie habe in der Vergangenheit umfangreiche Hygienemaßnahmen durchgeführt. Auch sei ein Lüftungskonzept erarbeitet worden. Die Antragstellerin sei durch die Anwendung der Verordnung in ihrer Existenz bedroht. Die Verordnung verstoße gegen den Bestimmtheitsgrundsatz, das Zitiergebot und gegen den Parlamentsvorbehalt. Nachdem es sich um ein faktisches Berufsverbot handele, sei § 31 IfSG die richtige Rechtsgrundlage und nicht § 28 IfSG. Die Schließung der Ballettschule sei nicht erforderlich, weil die Anwendung der Hygienekonzepte ausreiche. Auch durch andere Maßnahmen, die nicht so stark in die Rechte der Antragstellerin eingriffen, könnte derselbe Erfolg erreicht werden. Der Antragsgegner berücksichtige nicht, dass Ballettschule und ähnliche Freizeiteinrichtungen nicht entscheidend zum Infektionsgeschehen beitrügen.
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Sie beantragt,
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§ 10 8. BayIfSMV vorläufig außer Vollzug zu setzen,
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soweit dieser dem Betrieb der Ballettschule im
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bisherigen Umfang entgegensteht.
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Der Antragsgegner tritt dem Antrag entgegen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten Bezug genommen.
II.
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Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat in der Sache keinen Erfolg.
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Die Voraussetzungen des § 47 Abs. 6 VwGO, wonach das Normenkontrollgericht eine einstweilige Anordnung erlassen kann, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist, liegen nicht vor. Die Erfolgsaussichten eines Normenkontrollantrags in der Hauptsache sind unter Anwendung des Prüfungsmaßstabs im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO (1.) bei der nur möglichen summarischen Prüfung als offen anzusehen (2.). Eine Folgenabwägung geht zu Lasten der Antragstellerin aus (3.).
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1. Prüfungsmaßstab im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO sind in erster Linie die Erfolgsaussichten des in der Hauptsache anhängigen oder noch zu erhebenden Normenkontrollantrags, soweit sich diese im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bereits absehen lassen (BVerwG, B.v. 25.2.2015 ‒ 4 VR 5.14 u.a. ‒ ZfBR 2015, 381 - juris Rn. 12; zustimmend OVG NW, B.v. 25.4.2019 - 4 B 480/19.NE - NVwZ-RR 2019, 993 - juris Rn. 9). Dabei erlangen die Erfolgsaussichten des Normenkontrollantrags eine umso größere Bedeutung für die Entscheidung im Eilverfahren, je kürzer die Geltungsdauer der in der Hauptsache angegriffenen Normen befristet und je geringer damit die Wahrscheinlichkeit ist, dass eine Entscheidung über den Normenkontrollantrag noch vor dem Außerkrafttreten der Normen ergehen kann.
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Ergibt die Prüfung der Erfolgsaussichten der Hauptsache, dass der Normenkontrollantrag voraussichtlich unzulässig oder unbegründet sein wird, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten. Erweist sich dagegen, dass der Antrag zulässig und (voraussichtlich) begründet sein wird, so ist dies ein wesentliches Indiz dafür, dass der Vollzug bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache suspendiert werden muss. In diesem Fall kann eine einstweilige Anordnung ergehen, wenn der (weitere) Vollzug vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile befürchten lässt, die unter Berücksichtigung der Belange des Antragstellers, betroffener Dritter und/oder der Allgemeinheit so gewichtig sind, dass eine vorläufige Regelung mit Blick auf die Wirksamkeit und Umsetzbarkeit einer für den Antragsteller günstigen Hauptsacheentscheidung unaufschiebbar ist (BVerwG, B.v. 25.2.2015 ‒ 4 VR 5.14 u.a. ‒ juris Rn. 12).
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Lassen sich die Erfolgsaussichten nicht absehen, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden. Gegenüberzustellen sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die begehrte Außervollzugsetzung nicht erginge, der Normenkontrollantrag aber später Erfolg hätte, und die Folgen, die entstünden, wenn die begehrte Außervollzugsetzung erlassen würde, der Normenkontrollantrag aber später erfolglos bliebe. Die für eine einstweilige Außervollzugsetzung sprechenden Erwägungen müssen die gegenläufigen Interessen dabei deutlich überwiegen, also so schwer wiegen, dass sie - trotz offener Erfolgsaussichten der Hauptsache - dringend geboten ist (vgl. BVerwG, B.v. 25.2.2015 - 4 VR 5.14 u.a. - juris Rn. 12).
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2. Nach diesen Maßstäben geht der Senat im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bei der nur möglichen, aber ausreichenden summarischen Prüfung davon aus, dass die Erfolgsaussichten der Hauptsache offen sind.
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Die Frage, ob die angegriffene Betriebsschließung von Tanzschulen und andere Sportstätten in § 10 Abs. 3 8. BayIfSMV (bzw. des § 10 Abs. 4 8. BayIfSMV i.d.F. vom 30. Oktober 2020) auf einer ausreichenden gesetzlichen Verordnungsermächtigung beruht, insbesondere den verfassungsrechtlichen Anforderungen an den Parlamentsvorbehalt und an das Bestimmtheitsgebot aus Art. 80 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG genügt, war vor Inkrafttreten des Dritten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 18. November 2020 (BGBl I S. 2397) nach der Rechtsprechung des Senats als offen anzusehen (vgl. BayVGH, B.v. 5.11.2020 - 20 NE 20.2468 - BeckRS 2020, 29302; B.v. 29.10.2020 - 20 NE 20.2360 - juris Rn. 28 ff. zur 7. BayIfSMV, jeweils m.w.N.; vgl. auch BayVerfGH, E.v. 21.10.2020 - Vf. 26-VII-20 - juris Rn. 16 ff.; NdsOVG, B.v. 6.11.2020 - 13 MN 433/20 - juris Rn. 13 ff.; OVG NW, B.v. 11.11.2020 - 13 B 1635/20.NE - juris Rn. 19 ff.). Auch nach dessen Inkrafttreten kann der Senat die Erfolgsaussichten eines gegen die Betriebsschließung von Freizeiteinrichtungen gerichteten Normenkontrollantrags bei summarischer Prüfung nicht abschließend einschätzen. § 28a Abs. 1 Nr. 6 und Nr. 8 IfSG ergänzt u.a. dafür nun ein Regelbeispiel für eine notwendige Schutzmaßnahme nach § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG. Die Anwendung von § 28a IfSG wirft aber im Hinblick auf die 8. BayIfSMV völlig neue Rechtsfragen auf, die derzeit im Eilverfahren nicht abschließend zu klären sind.
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Der Annahme offener Erfolgsaussichten liegt auch zugrunde, dass sich die angegriffene Bestimmung des § 10 8. BayIfSMV im Rahmen einer prognostischen Einschätzung weder als offensichtlich unverhältnismäßig noch als gleichheitswidrig erweist. Hierzu wird insgesamt auf die Ausführungen des Senats im Beschluss vom 5. November 2020 - 20 NE 20.2468 - BeckRS 2020, 29302 Rn. 14 ff. Bezug genommen. Dabei begegnet aus Sicht des Senats die Ausdehnung der Maßnahmen i.S. des § 10 Abs. 3 Satz 1 8. BayIfSMV (i.d.F. der Verordnung zur Änderung der 8. BayIfSMV vom 12. November 2020), der die Nutzung von Sporthallen, Sportplätzen, Fitnessstudios, Tanzschulen und anderen Sportstätten untersagt, auf alle Sportanlagen, soweit sie sich nicht unter freiem Himmel befinden (§ 10 Abs. 3 Satz 2 8. BayIfSMV), keinen durchgreifenden Bedenken. Sie steht in Einklang mit dem Gesamtkonzept des Verordnungsgebers, Kontakte, die freizeitbedingt in Innenräumen stattfinden, einzuschränken, um das Infektionsgeschehen abzuschwächen.
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3. Die Folgenabwägung zwischen den betroffenen Schutzgütern der Antragstellerin - insbesondere ihren Grundrechten auf freie wirtschaftliche Betätigung (Art. 12 Abs. 1 GG) und ggf. das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb aus Art. 14 Abs. 1 GG - mit dem Schutzgut Leben und Gesundheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ergibt, dass die von der Antragstellerin dargelegten wirtschaftlichen Folgen derzeit hinter den Schutz von Leben und Gesundheit einer Vielzahl von Menschen zurücktreten müssen (vgl. auch BVerfG, B.v. 11.11.2020 - BvR 2530/20 - juris Rn. 12 ff.; BayVerfGH, E.v. 16.11.2020 - Vf. 90-VII-20 - BeckRS 2020, 31088 - Rn. 41).
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a) Das pandemische Geschehen ist weiterhin sehr angespannt. Nach dem Lagebericht des Robert-Koch-Instituts vom 24. November 2020 (abrufbar unter https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Nov_2020/2020-11-24-de.pdf? blob=publicationFile) ist weiterhin eine große Anzahl an Übertragungen in der Bevölkerung in Deutschland zu beobachten. Die Inzidenz der letzten sieben Tage beträgt deutschlandweit 142 Fälle pro 100.000 Einwohner. Der Anteil der COVID-19-Fälle in der älteren Bevölkerung ist weiterhin sehr hoch. Die 7-Tage-Inzidenz liegt in Bayern über der bundesweiten Gesamtinzidenz. In zahlreichen Landkreisen kommt es zu einer zunehmend diffusen Ausbreitung von SARS-CoV-2-Infektionen in der Bevölkerung, ohne dass Infektionsketten eindeutig nachvollziehbar sind. Für einen großen Anteil der Fälle kann das Infektionsumfeld nicht ermittelt werden. Seit Mitte Oktober steigt die die Zahl der intensivmedizinisch behandelten COVID-19-Fälle stark an, von 655 Patienten am 15. Oktober 2020 auf 3.770 am 24. November 2020 (vgl. auch RKI-DIVI - Tagesreport des RKI mit den Daten des DIVI-Intensivregisters, Stand 22.11.2020, abrufbar unter https://www.intensivregister.de/ …reporting). Das RKI schätzt die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland weiterhin als hoch ein, für Risikogruppen als sehr hoch. Nach wie vor gibt es keine zugelassenen Impfstoffe und die Therapie schwerer Krankheitsverläufe ist komplex und langwierig (vgl. Risikobewertung zu COVID-19, Stand: 11.11.2020, abrufbar unter https:// www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.html).
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b) In dieser Situation fallen die zu erwartenden Folgen einer Außervollzugsetzung der angegriffenen Norm - insbesondere die mögliche Eröffnung weiterer Infektionsketten durch eine Öffnung von Sportstätten - schwerer ins Gewicht als die (wirtschaftlichen) Folgen ihres einstweilig weiteren Vollzugs (vgl. BayVGH, B.v. 5.11.2020 - 20 NE 20.2468 - BeckRS 2020, 29302 - Rn. 22). Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass die Bundesregierung angekündigt hat, die wirtschaftliche Verluste zumindest teilweise zu entschädigen. Im Übrigen beruht die Entscheidung des Verordnungsgebers, bestimmte Lebensbereiche zu schließen, auf einem Gesamtkonzept, im Rahmen dessen insbesondere Schulen und Betreuungseinrichtungen für Kinder sowie eine große Zahl von Betrieben und Unternehmen geöffnet bleiben sollen. Würden Teile dieses Konzepts außer Vollzug gesetzt, bestünde die Gefahr, das Infektionsgeschehen nicht eindämmen zu können, mit gravierenden Folgen (vgl. BVerfG, B.v. 11.11.2020 - 1 BvR 2530/20 - juris Rn. 16; BayVerfGH, E.v. 16.11.2020 - Vf. 90-VII-20 - BeckRS 2020, 31088 - Rn. 41 und E.v. 21.10.2020 - Vf. 26-VII-20 - juris Rn. 27).
C.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Gegenstandswertes ergibt sich aus § 53 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. § 52 Abs. 1 GKG. Da die von der Antragstellerin angegriffene Bestimmung bereits mit Ablauf des 30. November 2020 außer Kraft tritt (§ 28 8. BayIfSMV), zielt der Eilantrag inhaltlich auf eine Vorwegnahme der Hauptsache, weshalb eine Reduzierung des Gegenstandswertes für das Eilverfahren auf der Grundlage von Ziff. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit nicht angebracht ist.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).