Titel:
Kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder subsidiären Schutzes
Normenketten:
GG Art. 16a
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7
AsylG § 3, § 4
Leitsätze:
1. Voraussetzung für ein glaubhaftes Vorbringen ist allerdings ein detaillierter und in sich schlüssiger Vortrag ohne wesentliche Widersprüche und Steigerungen. (Rn. 44) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die an sich glaubhafte Verbindung des Klägers in die G.-Bewegung reicht insgesamt nicht zur Annahme eines der typischen Risikokriterien, wie sie die Türkei nach der Auskunftslage auf von ihr zur Verfolgung vorgesehene G.-Anhänger anwendet, aus, um allein deswegen oder in der Gesamtschau eine Verfolgung bei Rückkehr für beachtlich wahrscheinlich einzustufen. (Rn. 52 – 78) (redaktioneller Leitsatz)
3. Verurteilungen wegen im Ausland begangener Straftaten ziehen keine Sanktionen türkischer Behörden nach sich. (Rn. 95) (redaktioneller Leitsatz)
4. Sämtliche Erkrankungen können in der Türkei in staatlichen Krankenhäusern angemessen behandelt werden. (Rn. 98) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Türkischer Staatsangehöriger türkischer Volkszugehörigkeit, Langjähriges und gescheitertes Studium in Deutschland, Studienbezogene Aufenthaltserlaubnis in Deutschland, Ausländerbehördliche Rücknahme der studienbezogenen Aufenthaltserlaubnis, Vielfache Reisen in die Türkei, Asylantragstellung erst eineinhalb Jahre nach der letzten Einreise nach Deutschland, Behauptete Verbindung zur G.-Bewegung, Letzte Aus- und Einreise auf dem Luftweg, Teileinstellung nach Teilrücknahme der Klage auf Asylanerkennung., Asylverfahren, Türkei, G.-Bewegung, medizinische Versorgung
Fundstelle:
BeckRS 2020, 29769
Tenor
I. Das Klageverfahren wird eingestellt, soweit die Klage auf Anerkennung als Asylberechtigter zurückgenommen worden ist.
II. Die Klage wird im Übrigen abgewiesen.
III. Der Kläger hat die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens zu tragen.
IV. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch die Beklagte durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Der seinem vorgelegten Reisepass zu Folge am … 1984 in … in der Türkei geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger türkischer Volkszugehörigkeit muslimischer Religionszugehörigkeit und hielt sich vor seiner Ausreise im Jahr 2006 zuletzt in der Türkei auf, reiste zum Studium nach Deutschland und hielt sich hier - mit längeren besuchsweisen Unterbrechungen in der Türkei und einer letzten Einreise auf dem Luftweg von dort am 7. Juli 2016 - bis zuletzt auf, wo allerdings seine Studien scheiterten und ihm die studienbezogenen und zuletzt bis 8. August 2018 befristeten Aufenthaltserlaubnisse durch bestandskräftigen ausländerbehördlichen Bescheid der Stadt … vom 25. August 2017 zurückgenommen, die Klage hiergegen zurückgenommen und das Klageverfahren eingestellt wurden (VG Augsburg, B.v. 22.12.2017 - Au 1 K 17.1528). Anschließend ersuchte er am 13. November 2017 um Asyl und beantragte es förmlich am 20. Dezember 2017.
2
In seiner auf Türkisch geführten Dublin-Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 20. Dezember 2017 gab der Kläger im Wesentlichen an (BAMF-Akte Bl. 10 ff.), er habe die Türkei am 26. Januar 2006 erstmalig auf dem Luftweg verlassen und sei nach Deutschland eingereist.
3
In seiner auf Türkisch geführten Anhörung vor der Zentralen Ausländerbehörde am 12. Dezember 2017 gab der Kläger im Wesentlichen an (BAMF-Akte Bl. 51 ff.), er habe keinen Wehrdienst geleistet, sondern sich freigekauft und habe einen Arbeitsplatz bei seinem Studium in … gehabt (ebenda Bl. 53). Bis zu seiner Ausreise nach Deutschland habe er sich in … aufgehalten und danach in …. Die anhörende Person vermerkte, der Kläger mache einen unglaubwürdigen Eindruck. Aufgrund seines langjährigen Aufenthalts in Deutschland sei er keinen Verfolgungshandlungen durch die Türkei ausgesetzt gewesen und erwecke den Eindruck, dass er sich nur als G.-Anhänger ausgebe, weil er unbedingt in Deutschland bleiben wolle (ebenda Bl. 57).
4
In seiner auf Türkisch geführten Anhörung vor dem Bundesamt am 28. Dezember 2017 gab der Kläger im Wesentlichen an (BAMF-Akte Bl. 81 ff.), er sei im Jahr 2006 nach Deutschland gekommen, um hier zu studieren. Zwischendurch sei er immer wieder in der Türkei gewesen, zuletzt von April bis Anfang Juli 2016 wegen der Feierlichkeiten zu Ramadan (ebenda Bl. 82). Seine Eltern lebten nach wie vor in der Türkei in, weitere Verwandte seien drei Schwestern, zwei Brüder und die Großfamilie (ebenda Bl. 83). Der Kläger habe Abitur in der Türkei gemacht und danach vier Jahre lang in der Türkei Volkswirtschaftslehre studiert und das Diplom gemacht, danach drei Monate als Immobilienverkäufer gearbeitet. Er habe dann parallel in Deutschland und in der Türkei studiert und sei immer wieder in die Türkei gegangen, um seine Angelegenheiten dort zu regeln, zu Prüfungen und einigen Vorlesungen anwesend zu sein. Das letzte Mal sei er zurückgegangen, um dort zu bleiben und habe als Immobilienverkäufer gearbeitet, sei dann aber entlassen worden. Der Besitzer der Firma sei Anhänger der G.-Bewegung gewesen (ebenda Bl. 83).
5
Zu seinen Asylgründen gab der Kläger an, er gehöre seit seiner Kindheit zur G.-Gemeinschaft. Bis zum Abschluss des Gymnasiums habe er ihre Bildungseinrichtungen besucht, in ihren Wohngemeinschaften und Internaten gelebt. Später sei er als Freiwilliger in der Bewegung aktiv gewesen und sei durch G.-Anhänger im Jahr 2006 nach Deutschland gekommen, um hier zu studieren und um hier für die Bewegung aktiv zu sein (ebenda Bl. 84). Er habe an der Fachhochschule in … studiert und sei daneben an einer Schule der G.-Bewegung in … tätig gewesen, wo er sich um die Schüler gekümmert habe, bei sozialen Aktivitäten, und sie auch beraten habe. Das sei bis 2011/2012 zu gegangen, bis zu diesem Zeitpunkt sei er nur in die Türkei gegangen, um dort seine Ferien zu verbringen (ebenda Bl. 84). Im Jahr 2012 habe er dann angefangen, parallel in … in der Türkei zu studieren und von 2012-2016 den größten Teil seiner Zeit in der Türkei verbracht. Er habe dort in einer Wohngemeinschaft der G.-Bewegung gelebt und diese auch verwaltet, andere Personen und Unterstützer der Bewegung wie Geschäftsleute und Lehrer seien zu Besuch gekommen und hätten an Gesprächskreisen teilgenommen und die Einrichtung mit Spenden unterstützt (ebenda Bl 84). Nach Rückübersetzung korrigierte der Kläger, er habe von 2012-2016 den größten Teil seiner Zeit in Deutschland verbracht, sei aber auch oft in der Türkei gewesen, denn er habe Deutschland wegen des Aufenthaltstitels nicht länger als sechs Monate verlassen (ebenda Bl. 84).
6
Nach den Ereignissen vom 17./25. Dezember 2013 sei ihre Wohngemeinschaft vom Geheimdienst beobachtet und der Wohnungseigentümer,, im April 2016 festgenommen, unter Auflagen wieder freigelassen und mit einer Meldeauflage belegt worden. Auch sein Chef an seiner Arbeitsstelle,, sei festgenommen worden (ebenda Bl. 84).
7
Vom 25. bis 27. April 2016 sei die Polizei jeden Tag zu ihm ins Geschäft gekommen, habe alles durchsucht und durcheinandergebracht und nach seinem Chef gefragt, da nach ihm gesucht wurde, sowie alle Anwesenden und Abwesenden beschimpft und ihn auch aggressiv an Hals und Armen ergriffen (ebenda Bl. 84). Sein Chef sei im Bauwesen und in der Elektronik tätig („…“) und das Büro des Klägers sei in einem der Neubauten gewesen, er habe sich um den Verkauf der Wohnungen gekümmert. Normalerweise sei er alleine im Büro gewesen […]; Das Büro und auch das Büro im Stadtzentrum seien von der Polizei durchsucht worden, ebenso auch die Wohngemeinschaft, oft auch parallel, da der Vertrag der Wohngemeinschaft auf seinen Namen gelautet habe, habe der Kläger nach der Verhaftung des Eigentümers nicht mehr in seiner Wohnung bleiben können und sei bei Freunden geblieben (ebenda Bl. 84).
8
Ab Dezember 2013 sei die G.-Bewegung von der türkischen Regierung als Feind betrachtet worden und Personen im Umfeld des Klägers, die davon gewusst hätten, dass er und seine Studienkollegen zur G.-Bewegung gehörten, hätten sie beschimpft und auch physisch angegriffen (ebenda Bl. 84).
9
Sein Chef und sein Vermieter seien im April 2016 für 2-3 Tage in Polizeigewahrsam gewesen, der Vermieter sei nach einer Verhandlung mit Auflagen freigelassen worden und habe eine Unterschrift leisten müssen, sein Chef sei für 69 Tage in Haft gewesen, und in der Zeit sei der Kläger am 12. Juni 2016 ins Büro im Stadtzentrum gerufen und entlassen worden; später sei auch sein Chef mit der Auflage einer wöchentlichen zweimaligen Meldung per Unterschrift freigelassen worden (ebenda Bl. 85).
10
Nach seiner Entlassung sei der Kläger noch einige Zeit in der Türkei gewesen und habe seine Familie zum Opferfest besucht; eigentlich habe er nicht vorgehabt, nach Deutschland zurückzukehren, sondern wollte für die G.-Bewegung in der Türkei ehrenamtlich tätig sein. Er habe auch die Zeitschriften Z. und Sizinti abonniert sowie den Verein K. Y. M. finanziell unterstützt (ebenda Bl. 85).
11
Da der Kläger immer wieder nach Deutschland gekommen gewesen sei, um mit Ferienarbeit Geld zu verdienen und seine Prüfungen abzulegen, habe er sich bereits im Mai 2016 für eine Stelle in den Ferien bei … in … beworben, sie bekommen und da er nicht mehr in der Wohngemeinschaft habe bleiben können, sei er nach Deutschland gekommen. Er sei sich auch nicht sicher gewesen, noch eine Stelle für Akademiker an einer Universität in der Türkei zu bekommen, da bereits viele G.-Anhänger entlassen worden seien (ebenda Bl. 85).
12
Sein Studium in Deutschland sei schwierig gewesen, er habe mehrfach den Studiengang gewechselt und sei dann wegen Nichterscheinens zu einer Prüfung exmatrikuliert worden. Sein damaliger Anwalt habe ihm geraten, einen Asylantrag zu stellen, um der von der Stadt … angedrohten Ausweisung zu entgehen (ebenda Bl. 86).
13
Ende Oktober 2016 habe er nach seiner Ferienarbeit eigentlich in die Türkei zurückgehen wollen, jedoch seien am 3. November 2016 viele seiner Freunde und sein Vermieter verhaftet worden, zwei Wochen später auch sein ehemaliger Chef, all die Verhafteten seien einen Monat in Polizeigewahrsam gewesen, auch ein Mitbewohner aus der Wohngemeinschaft sei damals verhaftet worden und heute in … inhaftiert. Er habe auch ehrenamtlich mit dem Kläger gearbeitet, er habe das über Bekannte aus der Heimatstadt erfahren. Sie seien bis Februar 2017 in Haft gewesen. Nach Verhandlungen seien Haftstrafen zwischen neun und zwölf Jahren verhängt worden (ebenda Bl. 86). Bei den Verhören sei auch nach dem Kläger gefragt worden, er habe jedoch keine Dokumente, wisse aber, dass nach ihm gefahndet werde und ein Haftbefehl vorliege; Ehefrauen der verhafteten Freunde hätten ihn gewarnt (ebenda Bl. 86). Seine Schwester sei auch Lehrerin gewesen, sei aber entlassen und die Schule, an der sie unterrichtete, wie andere G.-Schulen geschlossen worden (ebenda Bl. 86). Die Ehefrauen seines Chefs und seines Vermieters, auch seine Schwester, hätten dem Kläger schriftlich bestätigt, dass er jahrelang in der G.-Bewegung gewesen sei und nach ihm gefragt worden sei; er solle auf keinen Fall zurückkommen, da er sonst verhaftet würde (ebenda Bl. 86). Ein Freund von ihm sei in Haft missbraucht und misshandelt worden (ebenda Bl. 86).
14
Da der Kläger nach seiner letzten Ausreise nicht mehr in der Türkei gewesen sei, komme er ja auch an keine Dokumente, er habe sie alle in einem Koffer im Kellerabteil einer älteren Nachbarin; da das Haus ständig unter Beobachtung stehe, könne niemand an den Koffer herankommen (ebenda Bl. 87). Er habe nur ein Foto des früheren Mietvertrages vorgelegt und auch B.-L. benutzt; er lege auch Artikel zur Verhaftung und Verurteilung seines Chefs und seines Vermieters vor (ebenda Bl. 87).
15
Auf Nachfrage, woher die Ehefrauen von einer Verhandlung mit einem Haftbefehl gegen den Kläger wüssten, erklärte er, sie wüssten das von ihren Männern, da in deren Vernehmung nach ihm gefragt worden sei, weshalb sonst sollte nach ihm gefragt werden, gesehen hätten sie nichts und da der Kläger nicht vor Gericht gewesen sei, sei auch nichts auf die Regierungsseite (e-Devlet) hochgeladen worden (ebenda Bl. 87).
16
Auf Frage, wie er als Kind zur G.-Bewegung gekommen sei, gab er an, im Gebäude, in dem er mit zehn oder elf Jahren mit seinen Eltern gelebt habe, habe es eine Wohngemeinschaft der G.-Bewegung gegeben; die Studenten dort hätten ihm bei den Hausaufgaben geholfen, dadurch hätte er Kontakt bekommen (ebenda Bl. 87). Auf Frage nach seiner Funktion in der G.-Bewegung gab er an, er sei „Abi“ in der Wohngemeinschaft gewesen und habe die Schüler im Internet beraten zu Hausaufgaben und Elterngespräche geführt (ebenda Bl. 87).
17
Auf Frage nach persönlichen Übergriffen gab er an, er sei beleidigt und geschlagen worden, aber dem Meisten entgangen, da er kurz vor dem Militärputsch ausgereist sei; er vermute eine Verhandlung gegen ihn und für den Fall der Rückkehr eine Verhaftung und Inhaftierung. Er habe Angst, dass ihm das Gleiche passiere wie seinen Bekannten; sein Studienort stehe an erster Stelle bei den Folterungen, weil dort die AKP gegründet worden sei und die ersten Prozesse gegen G.-Anhänger stattgefunden hätten (ebenda Bl. 88).
18
Auf Vorhalt, dass er am 7. Juli 2016 nach Deutschland gekommen sei, kurz vor dem Putsch, aber erst jetzt einen Asylantrag gestellt habe, gab er an, er hätte Aufenthaltstitel und Wohnsitz in Deutschland gehabt und deshalb keinen Sinn in einem Asylantrag gesehen; der Asylantrag sei erst die letzte Möglichkeit gewesen für ihn wegen des Problems mit der Fachhochschule, nachdem er gehört habe, was bei seinen Freunden in der Türkei passiert sei (ebenda Bl. 88).
19
Auf Nachfrage verneinte er, Probleme bei der Ausreise am Flughafen … gehabt zu haben, er habe Pass und Aufenthaltstitel von Deutschland gehabt und sei legal ausgereist. Sein Chef und sein Vermieter seien damals auch erst im Polizeigewahrsam gewesen noch ohne Anklageschrift (ebenda Bl. 88).
20
Der Kläger legte noch einen Internet-Ausdruck über eine Verurteilung von zehn G.-Anhängern zu 9-12 Jahren Haft an seinem Studienort … vor, unter denen ein „…“ genannt wird (ebenda Bl. 64), sowie weitere Zeitungsberichte über Verhaftungen und Verurteilungen von Geschäftsleuten, Beamten und Studenten aus der G.-Bewegung, worunter auch ein „…“ genannt wird (ebenda Bl. 97), sowie eine Mitgliedsbescheinigung von „K. Y. M.“ vom 30. November 2014 für den Kläger (ebenda Bl. 113, Übersetzung Bl. 124), sowie aus e-Devlet einen Sozialversicherungsauszug in Kopie vom 19. April 2016 mit Bescheinigung seiner Beschäftigung bei „…“ seit 19. April 2016 und seine Entlassung am 13. Juni 2016 (ebenda Bl. 114).
21
Auf dem Kontrollbogen bestätigte der Kläger, es habe bei der in türkischer Sprache durchgeführten Anhörung keine Verständigungsschwierigkeiten gegeben, das rückübersetzte Protokoll entspreche seinen Angaben und diese seien vollständig und entsprächen der Wahrheit (BAMF-Akte Bl. 93).
22
Das Bundesamt lehnte mit Bescheid vom 14. März 2018 den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1), auf Asylanerkennung (Nr. 2) und auf Zuerkennung subsidiären Schutzstatus (Nr. 3) sowie auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG ab (Nr. 4). Die Abschiebung in die Türkei wurde angedroht (Nr. 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6).
23
Zur Begründung führte das Bundesamt aus, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Anerkennung als Asylberechtigter nicht vorlägen, weil der Kläger eine Verfolgung im Herkunftsstaat nicht habe glaubhaft machen können. Eine konkrete Verfolgung in Anknüpfung an ein flüchtlingsrelevantes Merkmal habe er nicht erlitten, sondern sei persönlich unverfolgt und unbehelligt am 7. Juli 2016 und damit noch vor dem Putschversuch ausgereist. Die Kündigung bei der Firma „…“ weise weder die geforderte Intensität einer asylrechtlich relevanten Verfolgungshandlung noch einen unmittelbaren Zusammenhang mit der Verhaftung seines damaligen Chefs. Erhebliche Zweifel an einer Verfolgung bestünden auch insoweit, als der Kläger zwar behaupte, darüber informiert worden zu sein, dass nach ihm gefahndet werde und gegen ihn ein Haftbefehl vorliege. Auf Nachfrage habe er aber eingeräumt, dass er dies alleine daraus schließe, dass die inhaftierten Freunde bzw. sein ehemaliger Vermieter und sein ehemaliger Chef bei deren Verhören nach ihm befragt worden seien. Konkrete Beweise für seine Behauptung und Befürchtung konnte der Kläger nicht vorlegen. Zudem reiche sein ehrenamtliches Engagement für die G.-Bewegung nicht aus, um Verfolgung beachtlich wahrscheinlich zu machen: So rechtfertigten der Besuch einer G. Schule oder eines G.-Wohnheims, das Abonnement der Zeitung Z. oder die Nutzung des Messenger-Dienstes „B.-L.“ sowie die ehrenamtliche Unterstützung des Vereins „Ki. Y. M.“ allein nicht eine begründete Furcht vor Verfolgung. Vielmehr erwecke der Kläger den Eindruck, dass andere als die vorgetragenen Motive den Hintergrund für das Stellen eines Asylantrags gebildet haben müssen (Verlust des deutschen Aufenthaltstitels) und ihm deshalb sein Rechtsanwalt empfohlen habe, zur Verhinderung seiner Ausweisung erst eineinhalb Jahre nach seiner Einreise überhaupt einen Asylantrag zu stellen. Es ginge dem Kläger also ganz offensichtlich nicht darum, in Deutschland Schutz vor angeblicher Verfolgung in der Türkei zu finden. Der Kläger habe auch sonst nichts substantiiert vorgetragen, was ihn als Anhänger der G.-Bewegung ausgezeichnet oder herausgehoben hätte. Die von ihm geschilderten Verhaftungen und Entlassungen vermeintlicher G.-Anhänger seien nicht in einen Zusammenhang zu bringen mit seinen privaten und beruflichen Aktivitäten bis zu seiner Ausreise aus der Türkei am 7. Juli 2016. Es nicht erkennbar, weshalb gerade er - anders als der Rest seiner Familie - in das Blickfeld der türkischen Sicherheitsbehörden landesweit geraten sollte. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus lägen ebenfalls nicht vor. Auch Abschiebungsverbote seien nicht ersichtlich. Die derzeitigen humanitären Bedingungen in der Türkei würden nicht zu der Annahme führen, dass bei einer Abschiebung des Klägers eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliege. Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf 30 Monate sei angemessen. Schutzwürdige Belange seien nicht vorgetragen worden.
24
Gegen diesen seinen damaligen Bevollmächtigten am 16. März 2018 zugestellten Bescheid ließ der Kläger am 26. März 2018 Klage erheben, zuletzt nach Rücknahme des auf Asylanerkennung gerichteten Klageantrags mit dem Antrag,
unter Aufhebung von Ziffern 1, 3 bis 6 der Entscheidung der Beklagten vom 14. März 2018 diese zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise subsidiären Schutz zuzuerkennen, hilfsweise festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG vorliegen.
25
Weiter begehrte er Prozesskostenhilfe und ließ zur Begründung ausführen, dass der Kläger zuletzt unverfolgt ausgereist sei, liege an der Ausreise vor dem Putschversuch. Der Kläger werde in einer Anklageschrift türkischer Behörden gegen Mitglieder der G.-Bewegung zwar nicht unmittelbar als Verdächtiger aufgelistet, allerdings tauche der Name des Klägers in Verbindung mit vier Verdächtigen auf, die sich in der Zeit vom 22. März 2013 bis zum 19. Juni 2015 regelmäßig miteinander versammelt hätten am Wohnsitz des Klägers, wo auch der Kläger Hauptmieter gewesen sei. Ferner sei der Kläger demnach der Verantwortliche der G.-Bewegung, wobei ausweislich von Zeitungsartikeln auch der ehemalige Arbeitgeber und der Vermieter des Klägers als G.-Mitglieder abgestempelt worden seien. Weiter habe der Kläger von der G.-Bewegung in Deutschland („… e.V.“) einen Arbeitsvertrag von 23. November 2017 angeboten erhalten, aber mangels Arbeitserlaubnis nicht annehmen können. Zudem stehe einer Rückführung des Klägers eine depressive Erkrankung in Deutschland entgegen; hierzu wurden folgende Atteste vorgelegt:
-, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Bezirkskrankenhaus, Attest vom 4.7.2017, Anlagengeheft Kläger:
Diagnose: schwere depressive Episode (ICD 10 F 31.2),
Anamnese: Studierunfähigkeit.
-, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Attest vom 25.9.2017, Anlagengeheft Kläger:
Diagnose: schwere depressive Episode (ICD 10 F 31.2),
Anamnese: psychosoziale Stressoren wie die Verhaftung einiger Angehöriger in der Türkei und die drohende Verhaftung bei eigener Rückkehr haben mit Sicherheit zur Verschlechterung der Erkrankung beigetragen, eine medikamentöse und psychotherapeutische Behandlung sei begonnen worden.
26
Nach Wechsel seines Bevollmächtigten ließ der Kläger Unterlagen übersetzt vorlegen, darunter einen Nachweis der Anstalt für Soziale Sicherheit in der Türkei vom 14. Juni 2020 über eine gemeldete (wohl sozialversicherungspflichtige) Beschäftigung des Klägers - ausweislich der Anmerkungen - als Mitarbeiter der Büroverwaltung von … im Jahr 2016 und der Auflösung des unbefristeten Arbeitsvertrags durch den Arbeitgeber (VG-Akte Bl. 104 ff.).
27
Nach Ablauf der mit der Ladung gesetzten Präklusionsfrist ließ er u.a. noch betonen, er sei Mitglied und nicht nur Unterstützer von K. Y. M. gewesen, habe B.-L. benutzt, Vereinigungen der „FETÖ“ gespendet und ein Zeitschriftenabonnement („Z.“) nach dem Dezember 2013 fortgesetzt, um eine Schließung zu verhindern sowie gegen die Schließung in … demonstriert sowie sich in Deutschland für die G.-Bewegung engagiert. Gegen seine Schwester laufe ein Strafverfahren. Der Kläger sei auch in einer Sammelanklage erwähnt, die auf Türkisch vorgelegt werde.
28
Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt.
29
Die Regierung von … als Vertreterin des öffentlichen Interesses hat auf jegliche Zustellungen mit Ausnahme der Endentscheidung verzichtet.
30
Mit Beschluss vom 19. März 2020 wurde der Rechtsstreit dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen. Mit der Ladung übersandte das Gericht eine aktuelle Erkenntnismittelliste.
31
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und die von der Beklagten vorgelegte Behördenakte sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung verwiesen.
Entscheidungsgründe
32
Die zulässige Klage ist in ihrem noch aufrecht erhaltenen Teil nicht begründet. Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf die Gewährung subsidiären Schutzes oder auf ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG (§ 113 Abs. 5 VwGO). Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 14. März 2018 ist daher rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Es wird insoweit in vollem Umfang Bezug genommen auf die Gründe des angefochtenen Bescheids (§ 77 Abs. 2 AsylG) und ergänzend ausgeführt:
33
1. Das Klageverfahren hinsichtlich einer Asylanerkennung nach Art. 16a GG wird nach Klagerücknahme nach § 92 VwGO deklaratorisch eingestellt.
34
2. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG.
35
Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 - Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet.
36
Im Einzelnen sind definiert die Verfolgungshandlungen in § 3a AsylG, die Verfolgungsgründe in § 3b AsylG und die Akteure, von denen eine Verfolgung ausgehen kann bzw. die Schutz bieten können, in §§ 3c, 3d AsylG. Einem Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG, der nicht den Ausschlusstatbeständen nach § 3 Abs. 2 AsylG oder nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG unterfällt oder der den in § 3 Abs. 3 AsylG bezeichneten anderweitigen Schutzumfang genießt, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt (§ 3 Abs. 4 AsylG). Als Verfolgung i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG gelten Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Zwischen den Verfolgungsgründen (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG i.V.m. § 3b AsylG) und den Verfolgungshandlungen - den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen, § 3a AsylG - muss für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG).
37
Eine Verfolgung i.S.d. § 3 AsylG kann nach § 3c Nr. 3 AsylG auch von nicht-staatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder ihn beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten.
38
Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht des Betroffenen vor Verfolgung begründet i.S.v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist, gilt einheitlich der Prognosemaßstab der tatsächlichen Gefahr („real risk“), der demjenigen der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 31/18 - juris Rn. 16) entspricht.
39
Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassen-den Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 31/18 - juris Rn. 16).
40
Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU in Form einer widerlegbaren Vermutung ist im Asylerstverfahren zu beachten, wenn der Antragsteller frühere Verfolgungshandlungen oder Bedrohungen mit Verfolgung als Anhaltspunkt für die Begründetheit seiner Furcht geltend macht, dass sich die Verfolgung im Falle der Rückkehr in das Heimatland wiederholen werde. Die solchen früheren Handlungen oder Bedrohungen nach Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU zukommende Beweiskraft ist von den zuständigen Behörden unter der sich aus Art. 9 Abs. 3 RL 2011/95/EU ergebenden Voraussetzung zu berücksichtigen, dass diese Handlungen oder Bedrohungen eine Verknüpfung mit dem Verfolgungsgrund aufweisen, den der Betreffende für seinen Antrag auf Schutz geltend macht (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 31/18 - juris Rn. 17, 34). Die vorgenannte Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften. Hat der Asylbewerber seine Heimat jedoch unverfolgt verlassen, kann sein Asylantrag nur Erfolg haben, wenn ihm auf Grund von Nachfluchttatbeständen politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit (BVerwG, U.v. 27.4.2010 - 10 C 5.09 - BVerwGE 136, 377/382 Rn. 18) droht.
41
Soweit keine Beweiserleichterung wie bei Vorverfolgung oder in Widerrufsfällen nach Art. 4 Abs. 4 bzw. Art. 14 Abs. 2 RL 2011/95/EU greift, bleibt es im Umkehrschluss beim allgemeinen Günstigkeitsprinzip, wonach die Nichterweislichkeit von Tatsachen, aus denen ein Beteiligter für sich günstige Rechtsfolgen herleitet, zu seinen Lasten geht, also der Schutzsuchende (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 31/18 - juris Rn. 26 ff.).
42
Das Tatsachengericht hat sich im Rahmen der o.g. tatrichterlichen Würdigung volle Überzeugung zur Gefahrenprognose zu bilden, also ob bei einer hypothetisch unterstellten Rückkehr des Schutzsuchenden in den behaupteten Verfolgerstaat diesem mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht. Für die Annahme einer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bedarf es weder einer eindeutigen Faktenlage noch einer mindestens 50%-igen Wahrscheinlichkeit. Vielmehr genügt - wie sich bereits aus dem Gefahrbegriff ergibt -, wenn bei zusammenfassender Würdigung die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 31/18 - juris Rn. 22). Lückenhafte Erkenntnisse, eine unübersichtliche Tatsachenlage oder nur bruchstückhaften Informationen aus einem Krisengebiet stehen ebenso wenig wie gewisse Prognoseunsicherheiten einer Überzeugungsbildung nicht grundsätzlich entgegen, wenn eine weitere Sachaufklärung keinen Erfolg verspricht. Die Annahme einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit darf aber nicht unter Verzicht auf die Feststellung objektivierbarer Prognosetatsachen auf bloße Hypothesen und ungesicherte Annahmen gestützt werden (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 31/18 - juris Rn. 22). Kann das Tatsachengericht dennoch keine Überzeugung gewinnen und bestehen keine Anhaltspunkte für eine weitere Sachverhaltsaufklärung, hat es die Nichterweislichkeit des behaupteten Verfolgungsschicksals festzustellen und nach o.g. Maßstäben eine Beweislastentscheidung zu treffen.
43
Gemäß § 3 Abs. 2 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen (Nr. 1), vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden (Nr. 2), oder den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat (Nr. 3). Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben (§ 3 Abs. 2 Satz 2 AsylG).
44
Es ist Sache des Schutzsuchenden, seine Gründe für eine Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Herkunftsland zu verbleiben oder dorthin zurückzukehren. Wegen des sachtypischen Beweisnotstands, in dem sich Flüchtlinge insbesondere im Hinblick auf asylbegründende Vorgänge im Verfolgerland vielfach befinden, genügt für diese Vorgänge in der Regel eine Glaubhaftmachung. Voraussetzung für ein glaubhaftes Vorbringen ist allerdings ein detaillierter und in sich schlüssiger Vortrag ohne wesentliche Widersprüche und Steigerungen.
45
a) Die politische Lage in der Türkei stellt sich derzeit wie folgt dar:
46
Die Türkei ist nach ihrer Verfassung eine parlamentarische Republik und ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat und besonders den Grundsätzen des Staatsgründers Mustafa Kemal („Atatürk“) verpflichtet. Der - im Jahr 2014 erstmals direkt vom Volk gewählte - Staatspräsident hatte eine eher repräsentative Funktion; die Regierungsgeschäfte führte der Ministerpräsident. Durch die Verfassungsänderungen des Jahres 2018 ist die Türkei in eine Präsidialrepublik umgewandelt worden, in welcher Staats- und Regierungschef personenidentisch sind: Staatspräsidenten Er. (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich - im Folgenden: BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 5 ff. m.w.N.).
47
Im Parlament besteht von Verfassungs wegen ein Mehrparteiensystem, in welchem die seit dem Jahr 2002 regierende „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (AKP) des früheren Ministerpräsidenten und heutigen Staatspräsidenten Er. die zahlenstärkste Fraktion darstellt. Die heutige Parteienlandschaft in der Türkei ist geprägt von drei Faktoren, die sich gegenseitig verstärken: Erstens herrschen zwischen den Parteien relativ stabile Größenverhältnisse in der Relation 4 zu 2 zu 1. Die AKP ist stets unangefochten stärkste Kraft. Mit klarem Abstand folgt die CHP, die in der Regel halb so viele Stimmen bekommt wie die AKP, und darauf die MHP mit wiederum circa der Hälfte der Stimmen der CHP. Die pro-kurdische Partei der Demokratie der Völker (HDP) hat sich erst in den letzten Jahren dauerhaft etabliert. Zweitens sind die Wähler von drei der genannten Parteien relativ klar abgegrenzten Milieus zuzuordnen, die sich nicht nur nach ethno-kulturellen Zugehörigkeiten unterscheiden lassen, sondern auch nach divergierenden Lebensstilen sowie schichten-spezifischen sozialen und wirtschaftlichen Lagen. Die AKP stützt sich primär auf eine türkisch-national empfindende und ausgeprägt religiöse Wählerschaft mit konservativer Sittlichkeit und traditionellem Lebensstil, die eher den unteren Einkommens- und Bildungsschichten zuzurechnen ist. Die CHP dagegen vertritt die türkisch-säkularen Schichten höheren Bildungsgrades mit einem europäischen Lebensstil und durchschnittlich deutlich höheren Einkommen. Ob im Hinblick auf Schicht oder Bildung, Modernität oder Konservatismus: Die MHP steht zwischen den beiden größeren Parteien. Charakteristisch für sie ist ein stark ethnisch gefärbter türkischer Nationalismus, der sich in erster Linie als bedingungslose Identifikation mit dem Staat und als starke Ablehnung kurdischer Identität äußert. Die HDP gibt sich als linke Alternative, wird jedoch generell als die Partei der kurdischen Bewegung wahrgenommen. Mehr noch als bei den anderen Parteien ist die ethnisch-nationale Komponente für die Zugehörigkeit ihrer Anhängerschaft bestimmend. Drittens verfügen drei der genannten Parteien über geographische Stammregionen mit einem eigenen Milieu. So ist die AKP in allen Landesteilen stark vertreten, hat aber ihr Stammgebiet in Zentralanatolien und an der Schwarzmeerküste. Die CHP hat an den Küsten der Ägäis und in zweiter Linie in Thrazien und am Mittelmeer großen Rückhalt; die HDP hingegen in den primär kurdisch besiedelten Regionen. Die klare Aufteilung folgt auch der wirtschaftlichen Entwicklung der Stammregionen, denn die CHP reüssiert in den ökonomisch am stärksten entwickelten Regionen, die keine oder nur wenig staatliche Förderung benötigen. Die AKP vertritt die immer noch eher provinziell geprägten Gebiete, die auf staatliche Infrastrukturleistungen und Investitionen angewiesen sind. Die HDP ist in den kurdischen besiedelten Gebieten zuhause, die als Schauplatz des türkisch-kurdischen Konflikts (dazu unten) besonders unterentwickelt sind. Wahlergebnisse in der Türkei bilden deshalb nicht primär Verteilungskonflikte ab, sondern Identitäten ihrer Wähler: In den europäischen Ländern, die türkische Arbeitsmigranten aufgenommen haben, stimmten weit über 60 Prozent für Er. und seine AKP; dagegen votierten in den USA, wo sich die türkische Migration aus Akademikern und anderen Angehörigen der Mittelschicht zusammensetzt, weniger als 20 Prozent für die AKP (zum Ganzen Stiftung Wissenschaft und Politik - SWP, Die Türkei nach den Wahlen: Alles wie gehabt und doch tiefgreifend anders, S. 2 f., www.swp-berlin.org).
48
In der Wahl vom 1. November 2015 errang die AKP zwar 49,5% der Stimmen, verfehlte aber die für eine Verfassungsänderung notwendige 2/3- bzw. 3/5-Mehrheit (mit anschließendem Referendum). Innenpolitisches Anliegen Er.s war der o.g. Systemwechsel hin zu einem exekutiven Präsidialsystem, was eine Verfassungsänderung voraussetzte. Nach dem Putschversuch im Juli 2016 (dazu sogleich) hat die AKP Anfang Dezember 2016 einen Entwurf zur Verfassungsänderung hin zu einem solchen Präsidialsystem ins Parlament eingebracht, das dieses Gesetz mit der für ein Referendum erforderlichen 3/5-Mehrheit beschloss. Das Verfassungsreferendum vom 16. April 2017 erreichte die erforderliche Mehrheit; mittlerweile wurde das bislang geltende Verbot für den Staatspräsidenten, keiner Partei anzugehören, aufgehoben; Staatspräsident Er. ist seit Mai 2017 auch wieder Parteivorsitzender der AKP. In der vorverlegten Präsidentschaftswahl vom 24. Juni 2018 hat er die absolute Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen können; auch die regierende AKP errang bei der Parlamentswahl mit 42,5% der Stimmen die relative Mehrheit und zusammen mit den 11,2% Stimmenanteil der mit ihr verbündeten MHP auch die Mehrheit der Parlamentssitze (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 14.6.2019, S. 5, 7 f. - im Folgenden: Lagebericht; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 6 f.).
49
Durch die damit abgeschlossene Verfassungsänderung wurde Staatspräsident Er. zugleich Regierungschef, denn das Amt des Ministerpräsidenten entfällt. Ohne parlamentarische Mitsprache ernennt und entlässt der Staatspräsident die Regierungsmitglieder, kann Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen und vier der 13 Mitglieder im Rat der Richter und Staatsanwälte (HSK) ernennen (vgl. BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 7, 22; Lagebericht ebenda S. 7). In den Kommunalwahlen vom 30. März 2019 verlor die AKP nach 20 Jahren die Stadt A. an die Opposition, ebenso die Großstädte Ad., An. und Me. sowie in der Wiederholungswahl am 23. Juni 2019 auch das von ihr seit 25 Jahren regierte Is., wo Staatspräsident Er. einst als Bürgermeister seine politische Laufbahn begonnen hatte. Diese ist von nationaler Bedeutung, da ein Fünftel der türkischen Bevölkerung in Istanbul lebt und die Stadt ein Drittel des Bruttonationalproduktes erwirtschaftet. Zudem hatte Staatspräsident Er. mehrmals erklärt, wer Is. regiere, regiere die Türkei (vgl. BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 6).
50
In der Nacht vom 15./16. Juli 2016 fand in der Türkei ein Putschversuch von Teilen des Militärs gegen Staatspräsident Er. statt, dem sich auf Aufrufe der AKP hin viele Bürger entgegenstellten und der innerhalb weniger Stunden durch regierungstreue Militärs und Sicherheitskräfte niedergeschlagen wurde. Staatspräsident Er. und die Regierung machten den seit dem Jahr 1999 im Exil in den USA lebenden islamischen Prediger F. G. und dessen bis dahin vor allem für ihr Engagement in der Bildung und in der humanitären Hilfe bekannte G.-Bewegung (zu ihrer Entwicklung Lagebericht ebenda S. 4 f.; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 12 f.) für den Putsch verantwortlich. Diese wurde als terroristische Organisation eingestuft und ihre echten oder mutmaßlichen Anhänger im Zuge einer „Säuberung“, die sich auch auf Anhänger der verbotenen „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK) erstreckte, mit einer Verhaftungswelle überzogen. Gegen ca. 511.646 Personen wurden Ermittlungsverfahren eingeleitet, über 30.000 Personen befinden sich in Haft, darunter fast 20.000 Personen auf Grund von Verurteilungen. Über 154.000 Beamte und Lehrer an Privatschulen wurden vom Dienst suspendiert bzw. aus dem Militärdienst entlassen. Flankiert wurden diese Maßnahmen durch die Ausrufung des Ausnahmezustands (Notstand), welcher der Exekutive erhebliche Handlungsvollmachten einräumte, mehrfach verlängert wurde und zwar am 19. Juli 2018 auslief, aber in einigen Bereichen in dauerhaft geltendes Recht überführt wurde (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 14.6.2019, S. 4 f. - im Folgenden: Lagebericht; Zahlen auch bei Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 5, 7; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 8, 12, 23 f.). Zu diesen Regelungen gehören insbesondere die Ermächtigung der Gouverneure, Ausgangssperren zu verhängen, Demonstrationen und Kundgebungen zu verbieten, Vereine zu schließen sowie Personen und private Kommunikation intensiver zu überwachen (vgl. Stiftung Wissenschaft und Politik - SWP, Die Türkei nach den Wahlen: Alles wie gehabt und doch tiefgreifend anders, S. 8, www.swp-berlin.org; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 7).
51
Als Sicherheitsorgane werden die Polizei in den Städten, die Jandarma am Stadtrand und in den ländlichen Gebieten sowie der Geheimdienst (MIT) landesweit tätig; das Militär ging in den vergangenen Jahren seiner staatlichen Sonderrolle mit einer de-facto-Autonomie gegenüber parlamentarischer Kontrolle als Hüter kemalistischer Grundsätze verlustig (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 14.6.2019, S. 9) und dem Verteidigungsminister als ziviler Instanz unterstellt mit der zusätzlichen Befugnis des Staatspräsidenten, den Kommandeuren der Teilstreitkräfte direkt Befehle zu erteilen (BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 27). Durch die „Säuberungen“ in Folge des Putsches wurde sein innenpolitisches Gewicht gemindert und durch den Einmarsch in den grenznahen Gebieten Syriens wurden seine Kapazitäten nach außen gelenkt.
52
b) Eine Gruppenverfolgung allein wegen einer Zugehörigkeit zur G.-Bewegung hat der Kläger nicht beachtlich wahrscheinlich zu befürchten.
53
Die Annahme einer Gruppenverfolgung setzt voraus, dass entweder sichere Anhaltspunkte für ein an asylerhebliche Merkmale anknüpfendes staatliches Verfolgungsprogramm oder für eine bestimmte Verfolgungsdichte gegenüber einer Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG vorliegen, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Eine Gruppe gilt als soziale Gruppe, wenn erstens die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen unveränderlichen Hintergrund gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betroffene nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und zweitens die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird; beide Merkmale müssen zugleich erfüllt sein. Am Merkmal einer deutlich abgegrenzten Identität fehlt es, wenn lediglich eine Vielzahl von Personen in vergleichbarer Weise von einer Verfolgungshandlung betroffen wird (vgl. BVerwG, B.v. 19.6.2019 - 1 B 30.19 - NVwZ-RR 2019, 1066/1067 Rn. 9 f.).
54
Es kann dahinstehen, ob bereits Anhaltspunkte für eine staatliche Gruppenverfolgung von Anhängern der G.-Bewegung vorliegen, da jedenfalls die Merkmale, nach denen der türkische Staat Personen der G.-Bewegung zurechnet, nicht hinreichend kongruent sind, um sie als eine durch ein gemeinsames und unverzichtbares Merkmal im Innern geprägte und auch eine nach außen deutlich abgegrenzte Identität innehabende Gruppe im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 4 AsylG anzusehen.
55
Die Annahme einer Gruppenverfolgung setzt - wie soeben erläutert - voraus, dass entweder sichere Anhaltspunkte für ein an asylerhebliche Merkmale anknüpfendes staatliches Verfolgungsprogramm oder für eine bestimmte Verfolgungsdichte vorliegen, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt.
56
Dies ist bei vom türkischen Staat der G.-Bewegung zugerechneten Personen nicht der Fall, wie der Blick auf die unterschiedlichen Anhaltspunkte zeigt, welche der türkische Staat im Einzelfall als Indiz für eine Anhängerschaft ausreichen lässt oder auch nicht:
57
Die vom islamistischen, seit 1999 im Exil in den USA lebenden Prediger F. G. 1969 gegründete Bewegung war lange Zeit eng mit der AKP verbunden und hat durch ihr Engagement im Bildungsbereich über Jahrzehnte ein islamisches Bildungs-Elitenetzwerk aufgebaut, aus dem die AKP nach der Regierungsübernahme 2002 Personal für die staatlichen Institutionen rekrutierte im Rahmen ihrer Bemühungen, die kemalistischen Eliten zurückzudrängen. Im Dezember 2013 kam es zum politischen Zerwürfnis zwischen der AKP und der G.-Bewegung, als der Bewegung zugerechnete Staatsanwälte und Richter K. gegen die Familie des damaligen Ministerpräsidenten E. sowie Minister seines Kabinetts aufnahmen. Seitdem wirft die Regierung G. und seiner Bewegung vor, die staatlichen Strukturen der Türkei unterwandert zu haben. Seit Ende 2013 hat die Regierung in mehreren Wellen Zehntausende mutmaßlicher Anhänger der G.-Bewegung in diversen staatlichen Institutionen suspendiert, versetzt, entlassen oder angeklagt. Die Regierung hat ferner Journalisten strafrechtlich verfolgt und Medienkonzerne, Banken und auch andere Privatunternehmen durch die Einsetzung von Treuhändern zerschlagen und teils enteignet. Die türkische Regierung hat die G.-Bewegung als terroristische Organisation eingestuft, die sie „FETÖ“ oder auch „FETÖ/PDY“ nennt („F.istische Terrororganisation/ Parallele Staatliche Struktur“; dazu Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 14.6.2019, S. 4; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 11 ff.; Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 8 f.).
58
Es liegen keine Anhaltspunkte vor, dass die G.-Bewegung als sunnitisch-islamische Gruppierung bestimmte Anforderungen an die Volkszugehörigkeit ihrer Anhänger stellte (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.8.2020 an das VG Augsburg zu Frage 6).
59
Es liegen auch nach Einschätzung des Auswärtigen Amts deutliche Anhaltspunkte für eine systematische Verfolgung vermeintlicher Anhänger der G.-Bewegung vor, welcher von türkischer Regierungsseite her der Putschversuch im Juli 2016 zur Last gelegt wird (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 14.6.2019, S. 9 f. - im Folgenden: Lagebericht). Grundsätzlich wird jede Person, die in irgendeiner Weise Kontakt zur G.-Bewegung hatte, von den türkischen Ermittlungsbehörden überprüft; Strafverfahren werden insbesondere gegen in G.nahen Einrichtungen und Vereinen aktive oder gar in leitender Position tätige Personen sowie Inhaber eines Kontos bei der Bank Asya eingeleitet (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.8.2020 an das VG Augsburg zu Frage 5). Türkische Behörden und Gerichte können eine Person nicht erst dann als „FETÖ“-Terrorist einordnen, wenn diese Person Mitglied der G.-Bewegung ist oder persönliche Beziehungen zu den Mitgliedern der Bewegung unterhält. Als Indiz für eine Mitgliedschaft in der G.-Bewegung genügen aus Sicht der türkischen Sicherheitsbehörden u.a. schon der Besuch der Person oder eines Kindes an einer der Organisation angeschlossenen Schule, die Einzahlung von Geldern in eine der Organisation angeschlossenen Bank, i.e. Geldanlagen nach dem Aufruf von Fetullah G. ab 25. Dezember 2013 bei der Bank Asya, der Besitz einer 1-US-Dollar-Banknote der F-Serie (als geheimes Erkennungszeichen), die Anstellung an einer mit der G.-Bewegung (ehemals) verbundenen Institution - z.B. einer Universität oder einem Krankenhaus; der Abonnementvertrieb (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.8.2020 an das VG Augsburg zu Frage 11) und das Abonnieren der (vormaligen) G.-Zeitung „Z.“ oder „Bügün“ oder der Nachrichtenagentur Cihan oder der Besitz von G.s Büchern sowie Kontakte zu der G.-Bewegung zugeordneten Einrichtungen. Nutzer der Smartphone-Anwendung „B.-L.“ stehen ebenfalls in Verdacht und ist mit der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens zu rechnen (Auskunft vom 8.8.2020 an das VG Augsburg zu Frage 13), 23.171 Nutzer seien verhaftet, allerdings auch Hunderte Personen zu Unrecht der Nutzung der mobilen Anwendung beschuldigt und deswegen wieder freigelassen worden (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 14.6.2019, S. 9 f.; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 13 ff.).
60
Daher kann davon ausgegangen werden, dass eine Person, welche der türkische Staat der G.-Bewegung zurechnet, in der Türkei mit systematischen asylerheblichen Verfolgungshandlungen rechnen muss. Ob bereits eine vermutete G.-Anhängerschaft ausreicht, wegen Terrorverdachts inhaftiert zu werden (vgl. VG Aachen, U.v. 5.3.2018 - 6 K 3554/17.A - juris Rn. 36), hängt vom Einzelfall und den plausibel geltend gemachten Ansatzpunkten ab, die aus Sicht des türkischen Staats eine solche Zurechnung tragen würden. G.-Anhänger werden wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung angeklagt; das Strafmaß für eine Mitgliedschaft in einer bewaffneten Organisation beträgt nach § 314 Abs. 2 tStGB (türkisches Strafgesetzbuch) i.V.m. Art. 5 tStGB (Erhöhung um die Hälfte bei Terrorstraftaten) 7,5- 15 Jahre Freiheitsstrafe, die aber häufig wegen guter Führung nach Art. 62 tStGB auf ein regelmäßig zu erwartendes Strafmaß von 6 Jahren und drei Monaten gemindert wird (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.8.2020 an das VG Augsburg zu Frage 1d). Zusätzlich können sie noch wegen Terrorfinanzierung, Leitung bestimmter Gruppierungen, als Imame der Armee, Polizei, usw. angeklagt werden. Die Höchststrafe ist lebenslänglich. Mehrere Delikte (z.B. Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, Finanzierung, Mord, etc.) können gleichzeitig angeklagt werden, eventuell verhängte Freiheitsstrafen werden zusammengerechnet. Ob eine „Sippenhaft“ gegen Familienangehörige von G.verdächtigen Personen stattfindet, ist nicht sicher: Zwar wird unter Nennung von Quellen aus dem Jahr 2016 behauptet, staatliche Behörden gingen mit Entlassungen oder Verhaftungen gegen Familienangehörige vor, um Druck auf die eigentlich gesuchten Personen auszuüben (SFH, Türkei: Gefährdungsprofile vom 19.5.2017, S. 6). Allerdings sind dem Verwaltungsgericht bislang nur Fälle bekannt geworden, in denen Familienangehörige selbst wegen des Verdachts der G.-Mitgliedschaft z.B. auf Grund ihrer eigenen Lehrtätigkeit in einer G.nahen Einrichtung strafrechtlich belangt wurden (vgl. VG Augsburg, U.v. 12.11.2019 - Au 6 K 17.34204).
61
Personalausweise und sogar Reisepässe werden G.-Verdächtigen ausgestellt, sofern keine Ausreisesperre gegen sie besteht (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.8.2020 an das VG Augsburg zu Frage 14; näher zu Ausreisesperren unten). Auch ein Ermittlungsverfahren hindert die Ausstellung eines Personalausweises nicht. Solange nur ein Ermittlungsverfahren offen ist, aber keine Haft vollstreckt wird, ist die Reisefreiheit nicht beschränkt (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.8.2020 an das VG Augsburg zu Frage 14). Gezielte Annullierungen oder Nichtverlängerungen von türkischen Pässen hingegen scheinen verbreitet gegen G.-Anhänger und auch gegen Familienangehörige stattzufinden.
62
Insgesamt sollen rund 512.000 Personen wegen Verbindungen zur G.-Bewegung verhaftet und ihre Verbindung untersucht, ca. 31.000 Personen inhaftiert und über 19.000 Personen verurteilt worden sein. Zudem sollen direkt wegen des Putschversuchs 3.838 Personen verurteilt worden sein, 2.327 Personen davon zu lebenslanger Haft und weitere 1.511 Personen zu Freiheitsstrafen von 14 Monaten bis 20 Jahre (BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 12).
63
Laut offiziellen türkischen Angaben seien seit dem gescheiterten Putschversuch über 100 türkische Staatsbürger im Ausland festgenommen und in die Türkei verschleppt worden, so aus As., Ga., Ka., dem Ko., Ma., Mo., My., Pa. und der Uk.(BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 14). Auslieferungen von G.-Anhängern aus Drittstaaten an die Türkei sind aber aus Al. und aus Ka. nicht bekannt (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 14.1.2019 an das BAMF zu Frage 1; Auswärtiges Amt, Auskunft vom 15.5.2019 an das BAMF zu Frage 2). Ebenso wenig gibt es Hinweise auf eine Verfolgung von G.-Anhängern in Ni. durch den türkischen Staat, auf deren Auslieferung durch Ni. oder auf eine Schließung von seitens der Türkei der G.-Bewegung zugerechneten Schulen dort (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Augsburg vom 19.9.2019, S. 1 f.). Hingegen entließ die aserbaidschanische Regierung auf Bitten der Türkei rund 50 Lehrer und Dozenten als Anhänger F. G.s, schloss einen TV-Sender (ANS) und „säuberte“ die ehemals (bis 2013) der G.-Organisation H. nahestehende Universität Q.. Auch eine Reihe von Personen, die der säkularen politischen Opposition angehören, wurde unter dem Vorwurf des „G.ismus“ verhaftet und teilweise an die Türkei ausgeliefert (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik As. vom 22.2.2019, S. 11).
64
Daraus ergibt sich derzeit noch kein so konkretes und vom türkischen Staat auch konsequent angewandtes Profil einer Einstufung einer Person als G.-Anhänger und ihrer Zurechnung zur G.-Bewegung, dass dieses den Rückschluss zuließe, dass jede Person, die dieses Profil erfüllt, bereits in das Risiko einer landesweiten Verfolgung geriete. Dies gilt auch für die klägerseitig unter Bezugnahme auf vom Kassationshof oder vom ehemaligen Ministerpräsidenten genannte Kriterien für eine Strafbarkeit von G.-Anhängern, die - abgesehen davon - im Übrigen erst nach Ablauf der mit der Ladung gesetzten Präklusionsfrist vorgetragen wurden.
65
Es ist vielmehr davon auszugehen, dass eine nicht näher objektivierbare Gewichtung von einzelnen Anhaltspunkten seitens des türkischen Staats vorgenommen wird, ohne dass im Einzelfall von außen immer nachvollziehbar ist, ob und warum eine Person zugerechnet und strafrechtlich verfolgt wird oder nicht. Dies gilt auch für den Kläger.
66
c) Eine individuelle Verfolgung wegen einer Zurechnung zur G.-Bewegung hat der Kläger nicht beachtlich wahrscheinlich zu befürchten.
67
Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verfolgung wegen einer Zurechnung zur G.-Bewegung liegt hier nicht vor, weil der Kläger zwar einige Kriterien erfüllt, die in der Türkei zu einer Verfolgung führen könnten, jedoch in seinem Fall keine hinreichenden Anhaltspunkte vorliegen, dass sich die abstrakte Gefahr in seiner Person auch hinreichend wahrscheinlich konkretisieren würde. Bei zusammenfassender Würdigung besitzen die für eine Verfolgung sprechenden Umstände hier kein größeres Gewicht gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen:
68
aa) Soweit der Kläger zu seinem Bildungs- und Berufsweg angibt, seit der Kindheit über Nachhilfeunterricht durch G.-Anhänger zur Bewegung gelangt zu sein, führt dies noch nicht zu einer nach den Kriterien der türkischen Regierung auch hinreichend beachtlichen Verfolgung.
69
Er hat - soweit ersichtlich - später selbst Studenten beraten und Nachhilfe gegeben sowie sich im Verein K. Y. M. als Mitglied ehrenamtlich und auch mit Bargeldspenden engagiert (vgl. Protokoll vom 14.7.2020 S. 6 f., 8), aber nicht herausgehoben oder in leitender Funktion. Er war Mieter einer Wohnung, die auch als Treffpunkt für Gesprächskreise gedient habe (BAMF-Akte Bl. 84), deren Eigentümer bereits im Jahr 2016 verhaftet, unter Meldeauflagen freigelassen (BAMF-Akte Bl. 84, 85) und nun strafrechtlich verfolgt worden sein soll, während der Kläger damals strafprozessual nicht behelligt wurde. Zudem war der Kläger nur von April bis Juni 2016 in einer Immobilienfirma tätig und ist dort aber noch vor dem Putschversuch entlassen worden (BAMF-Akte Bl. 84 f.; VG-Akte Bl. 112), deren Inhaber damals verhaftet, unter Meldeauflagen freigelassen (BAMF-Akte Bl. 84, 85) und nun strafrechtlich verfolgt worden sein soll, während der Kläger damals ebenfalls strafprozessual nicht behelligt wurde.
70
Jedoch war der Kläger zu keiner Zeit im türkischen Staatsdienst oder im türkischen Bildungswesen hauptamtlich beschäftigt oder - anders als z.B. seine nach seinen Angaben verurteilte Schwester (vgl. Protokoll vom 14.7.2020 S. 5 f., zuvor BAMF-Akte Bl. 86) - nicht als Lehrkraft an einer der G.-Bewegung nahestehenden Schule oder Universität, sondern selbst noch Student in der Türkei und auch in Deutschland ohne dortigen Studienabschluss.
71
Allein von seinem Bildungs- und Berufsweg her erfüllt er also keines der typischen Risikokriterien, wie sie die Türkei nach der Auskunftslage auf von ihr zur Verfolgung vorgesehene G.-Anhänger anwendet.
72
bb) Ebenso wenig unterscheidet sich die sonstige Lebensgestaltung des Klägers von Personen, die zwar G.-Anhänger waren, aber nicht verfolgt werden:
73
Er war passiver Abonnent oder Besitzer der Zeitschriften Z. und Sizinti (BAMF-Akte Bl. 85), aber kein Abonnentenwerber. Dass er ein Zeitschriftenabonnement („Z.“) nach dem Dezember 2013 fortgesetzt habe, um eine Schließung zu verhindern, sowie gegen die Schließung in … demonstriert habe (VG-Akte Bl. 137), führt zu keiner anderen Betrachtung. Seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung zu Folge habe er am 14. Dezember 2014 in … mit dem Eigentümer der von ihm gemieteten Wohnung und seinem Arbeitgeber zusammen gegen die Verhaftung eines Autors von „Z.“ und eines Produzenten bzw. Geschäftsführers des TV-Senders „Z. Y.“ demonstriert, wo die Polizei Foto- und Videoaufnahmen gemacht habe (vgl. Protokoll vom 14.7.2020 S. 6). Erstens handelt sich um über fünf Jahre zurückliegende Vorgänge, die der Kläger längst hätte geltend machen können. Zweitens stellt dieses Vorbringen sachlich eine erhebliche Steigerung gegenüber dem Vorbringen beim Bundesamt dar, wo er nur das Abonnement erwähnt und die Vollständigkeit seiner Angaben bestätigt hatte (BAMF-Akte Bl. 85, 93), mit der Folge einer Unglaubhaftigkeit dieser Angaben. Da drittens nur sein Vermieter und sein Arbeitgeber, nicht aber der Kläger im Sommer 2016 noch vor dem Putschversuch strafprozessual behelligt und vorübergehend inhaftiert wurden (BAMF-Akte Bl. 84 f.; Protokoll vom 14.7.2020 S. 5), aber der Kläger unbehelligt blieb und auch ohne Probleme die Grenzkontrollen passieren und auf dem Luftweg ausreisen konnte (ebenda Bl. 88), spricht dies auch sachlich nicht für eine vergleichbare Zurechnung des Klägers durch den türkischen Staat zur G.-Bewegung wie möglicherweise für jene anderen Kundgebungsteilnehmer.
74
Als der Kläger in den Jahren 2014/2015 B.-L. benutzt haben will (vgl. Protokoll vom 14.7.2020 S. 6, zuvor BAMF-Akte Bl. 87), war er nur Benutzer von B.-L. und führt dies allein nicht zu einer beachtlichen Verfolgungsgefahr. Soweit er seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung zu Folge sich für einen in der Hierarchie der G.-Bewegung über ihm stehenden Kollegen eine SIM-Karte auf seinen Namen zu dessen Verwendung habe ausstellen lassen (vgl. Protokoll vom 14.7.2020 S. 6), ist auch dies sachlich eine erhebliche Steigerung gegenüber dem Vorbringen beim Bundesamt, wo er nur die eigene Benutzung erwähnt und die Vollständigkeit seiner Angaben bestätigt hatte (BAMF-Akte Bl. 87, 93), mit der Folge einer Unglaubhaftigkeit auch dieser Angaben.
75
Im Verein K. Y. M. war der Kläger nach seinen Angaben Mitglied und Unterstützer durch Bargeldzahlungen (vgl. Protokoll vom 14.7.2020 S. 6 f.), aber eben nur einfaches Mitglied ohne besondere oder gar herausgehobene Funktionen.
76
Dass er in einer Sammelanklage erwähnt sei, die nach Ablauf der mit der Ladung gesetzten Präklusionsfrist ebenfalls erst am 10. Juli 2020 elektronisch und nur auf Türkisch (ohne deutsche Übersetzung wenigstens der klägerseitig in Bezug genommenen Teile) vorgelegt wurde, ist präkludiert und ohne Übersetzung auch der gerichtlichen Würdigung entzogen (§ 184 GVG). Dieses Vorbringen ist erst mit Telefax am 10. Juli 2020 mitgeteilt worden, obwohl die Ladung dem Klägerbevollmächtigten ausweislich des Empfangsbekenntnisses am 8. Mai 2020 zugegangen (VG-Akte Bl. 95) und die gesetzte Wochenfrist demnach am 15. Mai 2020 abgelaufen ist. Es ist daher nach § 87b Abs. 3 VwGO prozessual präkludiert und die Verspätung auch nicht entschuldigt. Zudem sind - ungeachtet etwaiger Geheimhaltung von türkischen Ermittlungsverfahren - auch in e-Devlet nach Angaben des Klägers jedenfalls keine Ermittlungsverfahren erkennbar (vgl. Protokoll vom 14.7.2020 S. 3), was daher auch zu keiner anderen Bewertung führt.
77
Daher reicht die an sich glaubhafte Verbindung des Klägers in die G.-Bewegung insgesamt nicht zur Annahme eines der typischen Risikokriterien, wie sie die Türkei nach der Auskunftslage auf von ihr zur Verfolgung vorgesehene G.-Anhänger anwendet, aus, um allein deswegen oder in der Gesamtschau eine Verfolgung bei Rückkehr für beachtlich wahrscheinlich einzustufen. Er selbst hat - anders als andere G.-Anhänger in seinem familiären, privaten und beruflichen Umfeld mit jeweils individuell anderer Position - bis zu seiner Ausreise keine konkreten Verfolgungsmaßnahmen erlitten und nach Überzeugung des Einzelrichters auch nicht bei einer Rückkehr zu befürchten.
78
bb) Dem Kläger droht im Fall einer Rückkehr in die Türkei daher auch nicht beachtlich wahrscheinlich ein Strafverfahren, so dass offenbleiben kann, ob ein solches noch lediglich der jedem Staat grundsätzlich zustehenden Strafverfolgung dienen würde oder bereits der Verfolgung vermeintlicher Regimegegner i. S. des § 3 i.V.m. § 3a Abs. 2 AsylG in Gestalt einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Strafverfolgung oder Bestrafung („FETÖ“).
79
3. Der Kläger hat aus diesen Gründen auch keinen Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes i.S. des § 4 Abs. 1 AsylG. Er hat keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vorgebracht, dass ihm bei einer Rückkehr in die Türkei ein ernsthafter Schaden i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1 bis 3 AsylG droht. Auf die Begründung des angefochtenen Bescheids wird ergänzend verwiesen (§ 77 Abs. 2 AsylG).
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4. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen ebenfalls nicht vor. Auf den Bescheid des Bundesamts wird Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG) und ergänzend ausgeführt:
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a) Dem Kläger steht kein Anspruch auf Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG zu.
82
Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Nach Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden. Dies ist auch der Fall, wenn es dem Betroffenen nicht (mehr) gelingen würde, seine elementaren Bedürfnisse wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft, zu befriedigen (vgl. BayVGH, U.v. 21.11.2014 - 13a B 14.30285 - Asylmagazin 2015, 197) und die aus zu erwartenden schwierigen Lebensbedingungen resultierenden Gefährdungen im Einzelfall eine solche Intensität aufweisen, dass auch ohne konkret drohende Maßnahmen von einer unmenschlichen Behandlung auszugehen ist. Die Gefahren müssen ein Mindestmaß an Schwere unter Berücksichtigung der Gesamtumstände aufweisen.
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Hier liegen diese besonders strengen Voraussetzungen nicht vor:
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aa) Der erwachsene, hinreichend gesunde und erwerbsfähige Kläger würde im Fall seiner Abschiebung in die Türkei keiner besonderen Ausnahmesituation ausgesetzt sein, die mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen würde, dass seine elementarsten Bedürfnisse im Sinne eines absoluten Existenzminimums nicht gesichert wären. Im Gegenteil war er trotz seiner depressiven Erkrankung im November 2017 fähig und willens, eine Erwerbstätigkeit in einem G.-Verein anzunehmen und auch auszuüben, was lediglich an der fehlenden Arbeitserlaubnis scheiterte.
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bb) Der Kläger würde im Fall seiner Abschiebung in die Türkei auch nicht wegen seiner Asylantragstellung unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.
86
Rückkehrerinnen und Rückkehrer werden nach vorliegenden Erkenntnissen keiner unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe unterworfen. Dem Auswärtigen Amt und türkischen Menschenrechtsorganisationen, zu denen die Deutsche Botschaft engen Kontakt unterhält, ist in den letzten Jahren kein Fall bekannt geworden, in dem ein aus Deutschland in die Türkei zurückgekehrter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten - dies gilt auch für exponierte Mitglieder und führende Persönlichkeiten terroristischer Organisationen - gefoltert oder misshandelt worden ist (vgl. Lagebericht ebenda S. 28; a.A. allerdings unter Verweis auf Quellen lediglich zum Risiko von Festnahmen und nicht von Folter VG Freiburg, U.v. 13.6.2018 - A 6 K 4635/17 - juris Rn. 28 ff.). Dem gegenüber wird geltend gemacht, dass der Bundesregierung keine Abschiebungen bzw. Auslieferungen dieses Personenkreises bekannt und daraus auch keine Rückschlüsse auf ihre Gefährdung zu ziehen seien (so AI, Auskunft vom 28.1.2020 an das VG Magdeburg, S. 2 f.).
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Aufgrund eines Runderlasses des türkischen Innenministeriums dürfen keine Suchvermerke (insbesondere für Wehrdienstflüchtlinge oder zur Fahndung ausgeschriebene Personen) mehr ins Personenstandsregister eingetragen werden; vorhandene Suchvermerke sollen Angaben türkischer Behörden zufolge im Jahr 2005 gelöscht worden sein (vgl. Lagebericht ebenda S. 28). Allerdings werden Wehrdienstflüchtige aufgrund einer Fahnenflucht gesucht; eine Strafverfolgung erfolgt unabhängig vom politischen, biografischen und ethnischen Hintergrund; die Personendaten von Wehrdienstflüchtigen werden im nationalen Polizeiinformationssystem hinterlegt und sind dort für die Polizeibehörden abrufbar (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.1.2020 an das VG Augsburg zu Frage 3a -e). Das Verteidigungsministerium meldet Wehrdienstflüchtige dem Innenministerium zwecks Festnahme; im Fall der Festnahme wird der Wehrdienstflüchtige in „Obhut“ genommen und innerhalb der Dienstzeiten der nächsten Wehrbehörde überstellt; bei Festnahme außerhalb der Dienstzeit oder an Orten ohne Wehrbehörde werden sie nach Protokollierung des Sachverhalts durch die Sicherheitskräfte (Polizei und Jandarma) sofort freigelassen (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.1.2020 an das VG Augsburg zu Frage 3f).
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An Grenzübergängen werden im Rahmen der allgemeinen und erkenntnisbasierten Fahndung der türkischen Polizei mobile Kommunikationsendgeräte (Handy, Tablet, Laptop) von Reisenden ausgelesen, um insbesondere regierungskritische Beiträge / Kommentare auf Facebook, WhatsApp, Instagram etc. festzustellen, die wiederum in Maßnahmen wie z.B. Einreiseverweigerung, Vernehmung, Mitnahme zur Dienststelle, Festnahme, Strafanzeige usw. münden können (vgl. Lagebericht ebenda S. 32).
89
Zu beruflichen Perspektiven von vermeintlichen G.-Anhängern bei einer Rückkehr in die Türkei liegen keine Erkenntnisse vor (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.8.2020 an das VG Augsburg zu Frage 20).
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Bei dem e-Devlet System (eDevlet Sistemi) handelt es sich um ein staatlich betriebenes Online-Portal, in das staatliche Institutionen mit ihren Datenbanken integriert sind. Türkische Staatsbürger erhalten, nachdem sie sich durch Hinterlegung ihrer persönlichen Daten zur Teilnahme am System angemeldet haben, durch Einloggen mit einem Passwort Zugang zu allen freigegebenen Daten, die die eigene Person betreffen. Mit Hilfe des e-Devlet Systems können türkische Staatsbürger u.a. diverse behördliche Dienstleistungen im Online-Verfahren in Anspruch nehmen, ohne persönlich bei den Behörden vorsprechen zu müssen. Haftbefehle und andere Eintragungen aus dem Justizbereich sind im sog. UYAP-System erfasst. Über einen Link im e-Devlet System kann sich jeder türkische Staatsbürger - nach Hinterlegung seiner persönlichen ID-Daten für die Zugangsberechtigung - auch im UYAP-System anmelden (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 11.10.2018 an das BAMF, S. 1 f.) und dort als Privatnutzer allerdings nur schlagwortartig Übersichten einsehen, via Internet sogar aus dem Ausland (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 13.2.2019 an das BAMF, S. 2).
91
Für den Zugang zu e-Devlet ist in der Türkei für jeden türkischen Staatsbürger ein Passwort bei der türkischen Post hinterlegt, dass durch Vorlage des Personalausweises erhältlich ist. Im Ausland wird dies von den türkischen Auslandsvertretungen übernommen. Es gibt aber auch verschiedene andere Möglichkeiten, sich zu registrieren, ohne sich an die Post oder die zuständige Auslandsvertretung wenden zu müssen. So kann sich ein Bürger außer mit dem Passwort für e-Devlet auch mit einer Mobil-Signatur, einer e-Signatur, der T.C.-Kimlik-Nummer oder an Hand der Eingangsdaten zum Online-Banking einloggen; auch vom Ausland aus (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.8.2020 an das VG Augsburg zu Frage 2d).
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Das UYAP-System ist eine vom Justizministerium betriebene Online Plattform, zu der jeder türkische Staatsbürger den Zugang beantragen kann. In diesem System kann der Privatnutzer schlagwortartig seine eigene Person betreffende Übersichten aus dem justiziellen Bereich, z.B. Art der (Straf)-Verfahren, Aktenzeichen, Gerichtsbezeichnung, Verhandlungstage einsehen. Zugang zu (Volltext-)Akteninhalten der einzelnen Verfahren wie z.B. Anklageschriften, Urteile u.a., besteht für Privatnutzer nicht (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 27.9.2018 an das BAMF, S. 2 f.). Eingesehen und ausgedruckt werden kann von Privatnutzern lediglich die o. g. Kurzübersicht. Einträge über ihre Mandanten sind für Anwälte, die den Justizbehörden die Bevollmächtigung ihrer Mandatsgeber nachgewiesen haben, auch auf elektronischen Weg zugänglich. Die Justizbehörden erteilen bevollmächtigten Rechtsanwälten den Zugang auf die im UYAP-System erfassten Eintragungen ihrer Mandanten. Bevollmächtigte Rechtsanwälte haben außer auf die oben beschriebenen Kurzübersichten dann auch Zugriff auf Volltexte und können diese herunterladen (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 11.10.2018 an das BAMF, S. 2). Dazu zählen grundsätzlich auch in e-Devlet und UYAP hinterlegte Informationen über Ermittlungsverfahren und Haftbefehle selbst in Verfahren mit Bezug zur G.-Bewegung („FETÖ“); lediglich im Ermittlungsstadium vor der Anklageschrift und für als „geheim“ eingestufte Ermittlungen ist der anwaltliche Anspruch auf Einsicht oder ist ein Herunterladen der Aktenbestandteile nicht oder nur eingeschränkt möglich (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 27.9.2018 an das BAMF, S. 1 f.; Auswärtiges Amt, Auskunft vom 13.2.2019 an das BAMF, S. 3; auch SFH, Türkei: Zugang zu verfahrensrelevanten Akten vom 1.2.2019, S. 5 f., 7 f.; Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.8.2020 an das VG Augsburg zu Frage 2a). Art und Umfang der Beschränkung der Akteneinsicht variieren von Fall zu Fall (so Schweizer Flüchtlingshilfe SFH, Türkei: Zugang zu verfahrensrelevanten Akten vom 1.2.2019, S. 6 f.). Sind die Ermittlungen abgeschlossen und wird ein Gerichtsverfahren eingeleitet, bestehen solche Einschränkungen in der Regel nicht mehr; im Stadium des Gerichtsverfahrens haben der Angeklagte bzw. sein Bevollmächtigter - seit ca. Oktober 2018 auch online über UYAP - Zugriff auf die zu den Verfahrensakten gehörenden Schriftstücke und Beweismittel (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 13.2.2019 an das BAMF, S. 3). Teilweise abweichend wird berichtet, Akten der Staatsanwaltschaft in abgeschlossenen oder nicht abgeschlossenen Gerichtsverfahren seien seit Frühjahr 2018 nicht mehr über UYAP zugänglich (so SFH, Türkei: Zugang zu verfahrensrelevanten Akten vom 1.2.2019, S. 5); gleichwohl wird in derselben Quelle ausgeführt, dass ein Zugriff über UYAP nach Anklageerhebung üblicherweise und erst recht nach Annahme der Anklage durch das Gericht sowie nach Abschluss des Verfahrens möglich sei (so SFH, Türkei: Zugang zu verfahrensrelevanten Akten vom 1.2.2019, S. 8 f.). Eine Registrierung ist auch vom Ausland aus möglich (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.8.2020 an das VG Augsburg zu Frage 2a).
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In der Türkei finden Einreisekontrollen für alle Personen statt. Bei dieser Personenkontrolle können türkische Staatsangehörige mit einem gültigen türkischen, sie zur Einreise berechtigenden Reisedokument die Grenzkontrolle grundsätzlich ungehindert passieren. Seit dem Putschversuch vom Juli 2016 werden alle türkischen Staatsangehörigen auch auf Inlandsflügen einer fahndungsmäßigen Überprüfung unterzogen. In Fällen von Rückführungen gestatten die Behörden die Einreise nur mit türkischem Reisepass oder Passersatzpapier (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 14.6.2019, S. 28 f.). Die Einreisekontrollen wurden bereits im Zuge der Flüchtlingskrise verstärkt, nicht erst seit dem Putschversuch (vgl. Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 3), nun aber gezielter mit Listen mutmaßlicher G.- oder PKK-Anhänger (Schweizer Flüchtlingshilfe SFH, Schnellrecherche an das VG Karlsruhe vom 17.2.2017, S. 2). Ein abgelehnter kurdischer Asylbewerber läuft bei der Rückkehr nicht Gefahr, allein wegen seiner Volkszugehörigkeit verhaftet zu werden; hat er sich in Deutschland für kurdische Rechte oder Organisationen aktiv eingesetzt oder z.B. regelmäßig an pro-kurdischen Demonstrationen teilgenommen, erhöht dies das Risiko (vgl. Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 3 f., 28 f.; auch SFH ebenda S. 2, 3, 10 f.).
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Angesichts der offiziellen Denunziationsaufrufe amtlicher türkischer Stellen auch in Deutschland in Tageszeitungen und DITIB-Moscheen ist aber damit zu rechnen, dass türkische Staatsangehörige in der Türkei und auch in Deutschland ihren Heimatbehörden Personen gemeldet haben, denen sie eine Nähe zur PKK oder zur G.-Bewegung nachsagen (vgl. Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 25 ff.; AI, Stellungnahme an das VG Karlsruhe vom 9.3.2017, S. 1; AI, Auskunft an das VG Magdeburg vom 1.3.2018, S. 3). Wenn bei der Einreisekontrolle festgestellt wird, dass für die Person ein Eintrag im Fahndungsregister besteht, wird die Person in Polizeigewahrsam genommen. Wenn festgestellt wird, dass ein Ermittlungsverfahren anhängig ist, wird die Person ebenfalls in Polizeigewahrsam genommen (vgl. auch Auswärtiges Amt, Auskunft an das BAMF vom 17.10.2016, S. 2). Im sich anschließenden Verhör durch einen Staatsanwalt oder durch einen von ihm bestimmten Polizeibeamten, wird der Festgenommene mit den schriftlich vorliegenden Anschuldigungen konfrontiert, ein Anwalt in der Regel hinzugezogen. Der Staatsanwalt verfügt entweder die Freilassung oder überstellt den Betroffenen dem zuständigen Richter mit dem Antrag auf Erlass eines Haftbefehls. Bei der Befragung durch den Richter ist der Anwalt ebenfalls anwesend. Wenn auf Grund eines Eintrages festgestellt wird, dass ein Strafverfahren anhängig ist, wird die Person bei der Einreise festgenommen und der Staatsanwaltschaft überstellt. Ein Anwalt wird hinzugezogen und eine ärztliche Untersuchung vorgenommen. Der Staatsanwalt überprüft von Amts wegen, ob der Betroffene von den Amnestiebestimmungen der Jahre 1991 oder 2000 profitieren kann oder ob Verjährung eingetreten ist, dann wird der Festgenommene freigelassen (vgl. Lagebericht ebenda S. 29; zur Verjährungsprüfung auch Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Ansbach vom 20.5.2016, S. 1 f. zu Aktivist für „ATIF“, „Partizan“ und TKP-ML; Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Ansbach vom 4.4.2017, S. 2).
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Verurteilungen wegen im Ausland begangener Straftaten ziehen nach Erkenntnissen des Auswärtigen Amts keine Sanktionen türkischer Behörden nach sich (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Ansbach vom 4.4.2017, S. 2), soweit es sich nicht um eine politisch motivierte Straftat handele (vgl. SFH ebenda S. 10).
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Für eine im hier maßgeblichen Zeitpunkt erfolgte Einleitung eines Strafverfahrens gegen den Kläger, die eine Ingewahrsamnahme und eine Bestrafung nach sich ziehen könnte, bestehen keine hinreichenden Anhaltspunkte (siehe oben).
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b) Ein Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 ff. AufenthG wegen einer zielstaatsbezogenen erheblichen konkreten Gefahr für Leib oder Leben aus gesundheitlichen Gründen, die eine lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankung voraussetzt, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde, liegt im Fall des Klägers nicht vor. Depressive Erkrankungen sind wie alle psychischen Erkrankungen in der Türkei behandelbar:
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Die medizinische Versorgung durch das staatliche Gesundheitssystem hat sich in den letzten Jahren strukturell und qualitativ erheblich verbessert, vor allem in ländlichen Gegenden sowie für die arme, (bislang) nicht krankenversicherte Bevölkerung. Auch wenn Versorgungsdefizite vor allem in ländlichen Provinzen bei der medizinischen Ausstattung und im Hinblick auf die Anzahl von Ärzten bzw. Pflegern bestehen, sind landesweit Behandlungsmöglichkeiten für alle Krankheiten gewährleistet. Landesweit gab es im Jahr 2017 1.518 Krankenhäuser mit einer Kapazität von 226.000 Betten, davon ca. 60% in staatlicher Hand. Die Behandlung bleibt für die bei der staatlichen Krankenversicherung Versicherten mit Ausnahme der „Praxisgebühr“ unentgeltlich. Grundsätzlich können sämtliche Erkrankungen in staatlichen Krankenhäusern angemessen behandelt werden, insbesondere auch chronische Erkrankungen wie Krebs, Niereninsuffizienz (Dialyse), Diabetes, Aids, Drogenabhängigkeit und psychiatrische Erkrankungen. Wartezeiten in den staatlichen Krankenhäusern liegen bei wichtigen Behandlungen/Operationen in der Regel nicht über 48 Stunden. In vielen staatlichen Krankenhäusern ist es jedoch (nach wie vor) üblich, dass Pflegeleistungen nicht durch Krankenhauspersonal, sondern durch Familienangehörige und Freunde übernommen werden. Durch die zahlreichen Entlassungen nach dem gescheiterten Putschversuch, von denen auch der Gesundheitssektor betroffen ist, kommt es nach Medienberichten gelegentlich zu Verzögerungen bei der Bereitstellung medizinischer Dienstleistungen (vgl. Lagebericht ebenda S. 26). Psychiater praktizieren und elf psychiatrische Fachkliniken mit einer Bettenkapazität von rund 4.000 Plätzen standen im Jahr 2017 zur Verfügung, weitere Betten gibt es in besonderen Fachabteilungen einiger Regionalkrankenhäuser. Auch sind therapeutische Zentren für Alkohol- und Drogenabhängige vorhanden (vgl. Lagebericht ebenda S. 26; zur Behandlung psychischer Erkrankungen auch ebenda Anlage I S. 33 f. sowie Schweizer Flüchtlingshilfe SFH, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 18.8.2016, Behandlung und Pflege einer schizophrenen Person im Südosten der Türkei, S. 2). Die spezialisierte psychiatrische Fachklinik in El. deckt die Versorgung von Patienten in Südost- und Ostanatolien ab und verfügt über insgesamt 488 Betten, stationäre psychiatrische Versorgung ist auch in den Universitätskliniken in Ga., Di. und S. gewährleistet (SFH ebenda S. 3).
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Zum 1. Januar 2012 hat die Türkei eine allgemeine, obligatorische Krankenversicherung eingeführt für alle Personen mit Wohnsitz in der Türkei mit Ausnahmen u.a. für Soldaten/Wehrdienstleistende und Häftlinge. Die obligatorische Krankenversicherung erfasst u. a. Leistungen zur Gesundheitsprävention, stationäre und ambulante Behandlungen und Operationen, Laboruntersuchungen, zahnärztliche Heilbehandlungen sowie Medikamente, Heil- und Hilfsmittel. Unter bestimmten Voraussetzungen sind auch Behandlungen im Ausland möglich. Nicht der Sozialversicherungspflicht unterfallende türkische Staatsbürger mit einem Einkommen von weniger als einem Drittel des Mindestlohns können von der Beitragspflicht befreit werden. Bei einem Einkommen zwischen einem Drittel und dem doppelten Mindestlohn gelten ermäßigte Beitragssätze. Bis Mitte des Jahres 2014 haben sich rund 12 Mio. Türken einer solchen Einkommensüberprüfung unterzogen, für rund 8 Mio. von ihnen hat der Staat die Zahlung der Beiträge übernommen (vgl. Lagebericht, ebenda S. 27). Die für eine gesundheitliche Versorgung mittelloser türkischer Staatsbürger bisher geltenden „Grünen Karten“ (2011: knapp 9 Millionen Inhaber) sind ausgelaufen, ihre Inhaber sollen in die allgemeine Krankenversicherung überwechseln. Für Kinder bis zum Alter von 18 bzw. 25 Jahren, Ehepartner und (Schwieger-)Elternteile ohne eigenes Einkommen besteht die Möglichkeit einer Familienversicherung. Besondere Beitragsregelungen gelten schließlich auch für Bezieher von Alters- und Erwerbsminderungsrenten (vgl. Lagebericht ebenda S. 28).
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5. Nachdem sich auch die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 1 AufenthG als rechtmäßig erweist, war das Klageverfahren hinsichtlich des zurückgenommenen Teils nach § 92 VwGO mit der dortigen Kostenfolge einzustellen und die Klage im Übrigen mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.