Titel:
Zulässigkeit eines Bordellbetriebes in Industriegebiet
Normenketten:
BauGB § 34 Abs. 2
BauNVO § 9 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1, § 15 Abs. 1
Leitsatz:
Ein Bordellbetrieb ohne Wohnnutzung ist unabhängig von seiner Größe mit der Zweckbestimmung eines (faktischen) Industriegebiets grundsätzlich vereinbar. (Rn. 28)
Schlagworte:
Kleiner Bordellbetrieb ohne Wohnnutzung, Faktisches Industriegebiet, Zweckbestimmung, Rücksichtnahmegebot
Vorinstanz:
VG Ansbach, Urteil vom 25.10.2017 – AN 9 K 16.2219
Weiterführende Hinweise:
Revision zugelassen
Fundstellen:
GewA 2021, 41
LSK 2020, 24819
BeckRS 2020, 24819
Tenor
I. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 25. Oktober 2017, Az. AN 9 K 16.02219, wird aufgehoben.
II. Die Klage wird abgewiesen.
III. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen. Die Beigeladene trägt ihre außergerichtlichen Kosten in beiden Rechtszügen selbst.
IV. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Gläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
V. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
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Die Klägerin wendet sich gegen eine der Beigeladenen von der Beklagten erteilte Baugenehmigung für die Nutzungsänderung einer Werkstatt mit Büro zu einem Bordellbetrieb.
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Die Beigeladene ist Eigentümerin des Grundstücks FlNr. … Gemarkung G* … und beantragte mit Unterlagen vom 15. Februar 2016 eine Baugenehmigung für die Nutzungsänderung einer Werkstatt mit Büro zu einem Bordell mit fünf Appartements in einem Gebäude auf diesem Grundstück. Die Klägerin ist Eigentümerin mehrerer Grundstücke in unmittelbarer Umgebung des Baugrundstücks, teilweise angrenzend hierzu, auf denen sie eine industrielle Produktion (Gießerei für Nichteisenmetalle) betreibt. Ein Bebauungsplan existiert nicht; die Beklagte stuft die nähere Umgebung als faktisches Industriegebiet ein.
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Mit Bescheid vom 20. Oktober 2016 erteilte die Beklagte der Beigeladenen die Baugenehmigung für die beantragte Nutzungsänderung. Auf Klage der Klägerin hob das Verwaltungsgericht diese Baugenehmigung mit Urteil vom 25. Oktober 2017 auf und lies die Berufung zu. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass ein kleines Bordell in dem nach übereinstimmendem Vortrag der Parteien vorliegenden faktischen Industriegebiet bauplanungsrechtlich unzulässig sei, weil es nicht mit der allgemeinen Zweckbestimmung von Industriegebieten vereinbar sei. Industriegebiete sollten für (erheblich störende) Betriebe, die in anderen Baugebieten unzulässig sind, offengehalten werden.
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Hiergegen wendet sich die Beklagte mit ihrer Berufung. Sie ist der Ansicht, dass das beantragte und genehmigte Bordell einen Gewerbebetrieb aller Art darstelle, der auch in einem faktischen Industriegebiet bauplanungsrechtlich zulässig sei. § 9 Abs. 1 BauNVO stelle keine Zulässigkeitsschranke für Betriebe dar, die auch in anderen Gebieten zulässig seien. Eine nichtwohnähnliche Nutzung für Bordellzwecke sei gebietsverträglich. Der Bordellbetrieb sei auch keinen unzumutbaren Belästigungen oder Störungen ausgesetzt.
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Die Beklagte beantragt,
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unter Aufhebung des Urteils des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 25. Oktober 2017 die Klage gegen den Bescheid vom 20. Oktober 2016 abzuweisen.
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Die Klägerin beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Sie ist der Ansicht, ein Industriegebiet sei gerade den erheblich belästigenden Gewerbebetrieben vorbehalten. Die allgemeine Zweckbestimmung eines Industriegebiets unterscheide sich vom Gewerbegebiet gerade durch den höheren Störgrad. Ein kleiner Bordellbetrieb weiche diese Zweckbestimmung auf und konterkariere sie, da dieser gegenüber industrietypischen Störungen selbst empfindlich sein könne. Bordelle gehörten daher typischerweise in ein Gewerbegebiet und nicht in ein Industriegebiet.
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Die Beigeladene hat in beiden Instanzen keine Anträge gestellt. Im Berufungsverfahren ist sie der Ansicht, dass die Entscheidung des Verwaltungsgerichts abzuändern und die Klage abzuweisen sei. Entgegen der bisherigen Auffassung von Klägerin und Beklagter liege das Vorhaben in einem faktischen Gewerbegebiet. In der näheren Umgebung finde sich neben Wohnnutzung auch eine Autowerkstatt, ein Autohandel und ein Großhandelsbetrieb.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der vorgelegten Behördenakten verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Über die Berufung kann ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, weil die Beteiligten hierauf verzichtet haben (§ 125 Abs. 1 Satz 1, § 101 Abs. 2 VwGO).
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Die zulässige Berufung ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat der Klage zu Unrecht stattgegeben; der Bescheid vom 20. Oktober 2016 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Das mit Bescheid vom 20. Oktober 2016 genehmigte Vorhaben ist nach Art. 59 Satz 1 Nr. 1 BayBO (hier in der bis 31.8.2018 geltenden Fassung) i.V.m. §§ 29 ff. BauGB bauplanungsrechtlich zulässig.
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Das Verwaltungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass die Klägerin als Nachbar die der Beigeladenen von der Beklagten erteilte Baugenehmigung nur dann mit Erfolg anfechten kann, wenn im Baugenehmigungsverfahren zu prüfende Vorschriften verletzt sind, die auch ihrem Schutz dienen (vgl. BVerwG, B.v. 6.6.1997 - 4 B 167.96 - juris Rn. 8). Es hat jedoch zu Unrecht eine derartige Verletzung nachbarschützender Vorschriften durch die im vereinfachten Verfahren nach Art. 59 Satz 1 BayBO von der Beklagten erteilte Baugenehmigung vom 20. Oktober 2016 angenommen. Der vom Verwaltungsgericht angenommene Verstoß gegen den Gebietserhaltungsanspruch der Klägerin, weil das Bauvorhaben der Zwecksetzung des hier vorliegenden Industriegebiets widerspreche, liegt nicht vor.
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Mangels Bebauungsplan richtet sich die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens hier nach § 34 BauGB, weil das Vorhaben innerhalb der im Zusammenhang bebauten Ortsteile der Beklagten liegt. Danach ist das geplante Vorhaben zulässig, wenn es sich nach Art und Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise und der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt und die Erschließung gesichert ist (§ 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB). Entspricht die Eigenart der näheren Umgebung dabei einem der Baugebiete der Baunutzungsverordnung, beurteilt sich die Zulässigkeit des Vorhabens nach seiner Art allein danach, ob es nach der Baunutzungsverordnung in dem Baugebiet allgemein zulässig wäre (§ 34 Abs. 2 Halbsatz 1 BauGB). Maßstabsbildend ist die Umgebung, insoweit sich die Ausführung eines Vorhabens auf sie auswirken kann und insoweit, als die Umgebung ihrerseits den bodenrechtlichen Charakter des Baugrundstücks prägt oder doch beeinflusst (BVerwG, B.v. 14.10.2019 - 4 B 27.19 - juris Rn. 7; B.v. 13.5.2014 - 4 B 38.13 - juris Rn. 7). Für die Beurteilung des Einfügens ist dabei auf die tatsächlich vorhandene Bebauung abzustellen (BVerwG, B.v. 6.6.2019 - 4 C 10.18 - juris Rn. 15; B.v. 13.5.2014 a.a.O. juris Rn. 15).
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Anhaltspunkte dafür, dass sich das Bauvorhaben nach dem Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise und der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, hier nicht in die nähere Umgebung einfügt (§ 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB), sind weder vorgetragen noch im Hinblick auf die Nutzung vorhandener Gebäudesubstanz ersichtlich. Hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung kann offen bleiben, ob die Eigenart der näheren Umgebung einem - wie die Beigeladene im Berufungsverfahren erstmals ausführt - faktischen Gewerbegebiet nach § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 8 BauNVO oder - wovon die Klägerin und die Beklagte übereinstimmend ausgehen - einem faktischen Industriegebiet (§ 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 9 BauNVO) entspricht. Denn in beiden Fällen ist die Nutzungsänderung einer Werkstatt mit Büro zu einem Bordell mit fünf Appartements ohne Wohnnutzung auf dem Baugrundstück bauplanungsrechtlich zulässig.
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1. Geht man - wie die Beigeladene - von einem faktischen Gewerbegebiet aus, ist das Vorhaben gemäß § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 8 Abs. 2 Nr. 1 BauNVO nach der Art der baulichen Nutzung ohne Weiteres bauplanungsrechtlich zulässig (vgl. BVerwG, B.v. 2.11.2015 a.a.O.; BayVGH, B.v. 4.12.2017 - 1 ZB 16.1233 - juris Rn. 4). Denn bei dem beantragten Bordell ohne Wohnnutzung handelt es sich um einen Gewerbebetrieb aller Art. i.S.d. § 8 Abs. 2 Nr. 1 BauNVO (BVerwG, B.v. 2.11.2015 - 4 B 32.15 - juris Rn. 4; BayVGH, U.v. 23.5.2019 - 15 N 16.1430 - juris Rn. 20).
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2. Hier spricht aufgrund der vorhandenen Bebauung und der vorhandenen Nutzungen in der näheren Umgebung, wie sie die Klägerin und die Beklagte vortragen und das Verwaltungsgericht zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht hat, allerdings vieles dafür, dass sich die Eigenart der näheren Umgebung im maßgeblichen Geviert, das durch die N* …straße im Süden, die Bahntrasse mit Lärmschutzwand im Westen, den F* …weg im Osten sowie die ehemalige Gleistrasse (FlNrn. … … und … Gemarkung G* …*) im Norden begrenzt wird, als faktisches Industriegebiet darstellt (§ 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 9 BauNVO). Während nämlich innerhalb dieses Gebiets neben dem Betrieb der Klägerin weitere erheblich belästigende Gewerbebetriebe und Anlagen nach Art. 10 i.V.m. Anhang I der Richtlinie 2010/75/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. November 2010 über Industrieemissionen (Industrieemissions-Richtlinie) vorhanden sind, stuft sich die Bebauung und Nutzung nördlich im Anschluss an die ehemalige Gleistrasse ohne industrielle Ausprägung bis hin zu einem Riegel Wohnbebauung südlich der S* …straße ab. Die ehemalige Gleistrasse stellt insoweit eine - auch optisch wahrnehmbare - Zäsur an Bebauung mit völlig unterschiedlicher Qualität dar (vgl. BVerwG, B.v. 28.3.2003 - 4 B 74.03 - juris Rn. 2; VGH BW, U.v. 25.9.2018 - 5 S 978/17 - juris Rn. 81; BayVGH, B.v. 23.2.2017 - 9 ZB 14.914 - juris Rn. 5). Auch in diesem Fall ist das beantragte Vorhaben aber nach § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 9 Abs. 1 und 2 BauNVO bauplanungsrechtlich zulässig.
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a) Entgegen dem Verwaltungsgericht ist das genehmigte Bordell in einem Industriegebiet nicht bereits deswegen unzulässig, weil es sich um keinen erheblich störenden Gewerbebetrieb handelt, der deswegen in einem Gewerbegebiet untergebracht werden müsse.
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Industriegebiete dienen ausschließlich der Unterbringung von Gewerbebetrieben, und zwar vorwiegend solcher Betriebe, die in anderen Baugebieten unzulässig sind (§ 9 Abs. 1 BauNVO). Zulässig sind Gewerbebetriebe aller Art, Lagerhäuser, Lagerplätze und öffentliche Betriebe (§ 9 Abs. 2 Nr. 1 BauNVO) sowie Tankstellen (§ 9 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO).
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Nach seinem Hauptzweck ist dem Industriegebiet die Unterbringung erheblich störender Gewerbebetriebe vorbehalten (vgl. BVerwG, U.v. 18.11.2010 - 4 C 10.09 - juris Rn. 20). Industriegebiete liegen typischerweise getrennt von Wohngebieten und sollen allenfalls den durch die Gewerbebetriebe ausgelösten Besucherverkehr bewältigen; für Erhohlung und Vergnügen sind sie nicht bestimmt (vgl. BVerwG, U.v. 24.2.2000 - 4 C 23.98 - juris Rn. 12). Demgegenüber ist es die Zweckbestimmung von Gewerbegebieten, solchen Betrieben einen Standort zu bieten, die im Hinblick auf ihre spezifischen Standortanforderungen und ihre Auswirkungen zu Unzuträglichkeiten in Gebieten führen würden, in denen auch oder sogar vorwiegend gewohnt werden soll (BVerwG, U.v. 25.11.1983 - 4 C 21.83 - juris Rn. 11). Industrie- und Gewerbegebiete unterscheiden sich darin, daß die Erheblichkeit der Nachteile und Belästigungen der Maßstab dafür ist, ob der Gewerbebetrieb noch im Gewerbegebiet oder nur im Industriegebiet zulässig ist (BVerwG, U.v. 25.11.1983 a.a.O. Rn. 12); insoweit kennt das Gewerbegebiet eine „Obergrenze“ für Immissionen (vgl. Pützenbacher in Bönker/Bischopink, BauNVO, 2. Auflage 2018, § 9 Rn. 15).
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Industrie- und Gewerbegebiete haben andererseits gemeinsam, dass in ihnen Gewerbebetriebe aller Art allgemein zulässig sind; auszugehen ist insoweit vom gleichen Begriff (vgl. Söfker in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand Feb. 2020, § 9 BauNVO Rn. 19). Der Begriff „vorwiegend“ in § 9 Abs. 1 BauNVO lässt es somit zu, dass - neben dem o.g. Hauptzzweck des Industriegebiets, der Unterbringung vorwiegend solcher Betriebe, die in anderen Baugebieten unzulässig sind - auch andere Gewerbebetriebe den Gebietscharakter mitbestimmen können, ohne allerdings das Industriegebiet vorwiegend oder überwiegend zu prägen. Gewerbebetriebe, die den zulässigen Störgrad „erheblich belästigend“ nicht erreichen, sind daher vom Gebietscharakter des Industriegebiets nicht von vornherein ausgeschlossen. Insofern können im Industriegebiet auch solche Gewerbebetriebe zulässig sein, die z.B., weil sie nicht erheblich belästigend sind, auch im Gewerbegebiet zulässig sind (vgl. Söfker in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, a.a.O., § 9 BauNVO Rn. 8a m.w.N.). Bei dem beantragten Bordell ohne Wohnnutzung handelt es sich um einen Gewerbebetrieb aller Art. i.S.d. § 8 Abs. 2 Nr. 1 BauNVO (BVerwG, B.v. 2.11.2015 - 4 B 32.15 - juris Rn. 4; BayVGH, U.v. 23.5.2019 - 15 N 16.1430 - juris Rn. 20).
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Für die Abgrenzung in „umgekehrter Richtung“, also für die Frage, ob ein Gewerbebetrieb auch im Industriegebiet zulässig ist oder ins Gewerbegebiet muss, kommt es darauf an, dass die in anderen Baugebieten unzulässigen Gewerbebetriebe im Industriegebiet überwiegen und es bei Hinzukommen eines weiteren nicht erheblich belästigenden Gewerbebetriebs zu keinem „Umkippen“ des Industriegebiets kommt (vgl. Söfker in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, a.a.O., § 9 BauNVO Rn. 8a). Darüber hinaus enthält der Gesetzeswortlaut keine weitere Einschränkung; eine Begrenzung „nach unten“ ergibt sich lediglich in der insoweit geringeren Anzahl zulässiger nicht erheblich belästigender Gewerbebetriebe (Steger/Wilken/Hauth in Rixner/Biedermann/Charlier, Systematischer Praxiskommentar BauGB/BauNVO, 3. Aufl. 2018, § 9 BauNVO Rn. 2). Anderweitig unzulässige Gewerbebetriebe müssen den Charakter des Industriegebiets prägen, so dass sich insoweit eine „Untergrenze“ im Verhältnis zu Umfang und Gewicht nicht erheblich belästigender oder gar nur das Wohnen wesentlich störender Betriebe ergibt (vgl. Stock in König/Roeser/Stock, BauNVO, 4. Aufl. 2019, § 9 Rn. 10; Pützenbacher in Bönker/Bischopink, a.a.O., § 9 Rn. 18), nicht aber - wie offenbar die Klägerin meint - eine „Untergrenze“ für Immissionen des einzelnen Betriebs. Dass bei Zulassung des Kleinbordells mit fünf Appartements ohne Wohnnutzung durch die Prostituierten das Verhältnis zwischen den überwiegend vorhandenen erheblich störenden Gewerbebetrieben und den sonstigen Gewerbebetrieben im hier vorliegenden faktischen Industriegebiet nicht mehr dem gesetzlichen Verhältnis eines Überwiegens der in anderen Baugebieten unzulässigen Betriebe entspricht, ist weder vorgetragen, noch angesichts der bereits vorhandenen Nutzungen ersichtlich.
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b) Die Zulässigkeit eines bestimmten Vorhabens innerhalb eines Baugebiets der Baunutzungsverordnung richtet sich nicht allein nach der Einordnung des Vorhabens in eine bestimmte Begriffskategorie, sondern auch nach der Zweckbestimmung des jeweiligen Baugebiets (vgl. BVerwG, U.v. 2.2.2012 - 4 C 14.10 - juris Rn. 16; U.v. 24.2.2000 - 4 C 23.98 - juris Rn. 12; BayVGH, U.v. 19.10.2015 - 1 B 15.886 - juris Rn. 23). Die Zweckbestimmung eines Baugebiets kann dabei nicht allein aus der jeweiligen Baugebietsvorschrift der Baunutzungsverordnung abgeleitet werden, sondern wird auch dadurch beeinflußt, welche Funktionen dem einzelnen Baugebiet im Verhältnis zu anderen Baugebieten der Baunutzungsverordnung zukommen. Dabei hängt die Zulässigkeit von Nutzungen in den einzelnen Baugebieten nicht nur von deren Immissionsträchtigkeit oder Immissionsverträglichkeit ab, sondern wird auch von anderen Maßstäben der städtebaulichen Ordnung bestimmt (BVerwG, U.v. 24.2.2000 a.a.O. Rn. 12).
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Ein Bordell ohne Wohnnutzung widerspricht nicht der typischen Funktion eines Industriegebiets. Soweit der den Industriegebieten zukommende Zweck, der Unterbringung vorwiegend solcher Gewerbebetriebe zu dienen, die in anderen Baugebieten unzulässig sind, dafür spricht, die Zulässigkeit nicht erheblich belästigender Betriebe für das Industriegebiet anders zu beantworten als für das Gewerbegebiet (vgl. BVerwG, U.v. 25.11.1983 - 4 C 21.83 - juris Rn. 13), ist nicht ersichtlich, dass das hier genehmigte Bordell ohne Wohnnutzung sich nicht mit der allgemeinen Zweckbestimmung eines Industriegebiets verträgt. Bordelle können ihrerseits störende Auswirkungen und erhebliche milieubedingte Begleiterscheinungen haben (vgl. BayVGH, U.v. 19.10.2015 - 1 B 15.886 - juris Rn. 24; U.v. 23.5.2019 - 15 N 16.1430 - juris Rn. 9), die typisierend betrachtet, der allgemeinen Zwecksetzung eines Industriegebiets nicht widersprechen.
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Soweit die Klägerin anführt, das beantragte Vorhaben dürfe seinerseits nicht störempfindlich gegenüber der allgemeinen Zwecksetzung des Industriegebiets sein, ist zutreffend, dass das bodenrechtlich beachtliche typische Störpotenzial, das sich mit der Zweckbestimmung eines Baugebiets nicht verträgt, nicht nur im Störgrad, sondern auch in der Störempfindlichkeit eines Vorhabens liegen kann (vgl. BVerwG, U.v. 2.2.2012 - 4 C 14.10 - juris Rn. 17). Hierbei ist zu berücksichtigen, dass zu den nach Art. 9 Abs. 1 Nr. 1 BauNVO allgemein zulässigen Gewerbebetrieben aller Art neben Handwerk und Industrie, u.a. auch der Handel und seine Hilfsgewerbe, das Verkehrsgewerbe und Dienstleistungsbetriebe, die von jedermann in Anspruch genommen werden können und nicht der Negativabgrenzung hinsichtlich des Anwendungsbereichs des § 6 GewO unterliegen, zählen (vgl. Schmidt-Bleker in Spannowsky/Hornmann/Kämper, BeckOK BauNVO, Stand 15.6.2020, § 8 Rn. 103; Söfker in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, a.a.O., § 8 Rn. 22; Stock in König/Roeser/Stock, a.a.O., § 8 Rn. 16). Bordelle gehören dabei bauplanungsrechtlich - unabhängig von der Negativabgrenzung des § 6 Abs. 1 Satz 1 GewO - zu den Gewerbebetrieben aller Art (BVerwG, B.v. 2.11.2015 - 4 B 32.15 - juris Rn. 4). Bei typisierender Betrachtung ist aber nicht ersichtlich, dass ein Bordell ohne Wohnnutzung - gerade auch unter Berücksichtigung der von ihm selbst ausgehenden Auswirkungen und der regelmäßig milieubedingten Begleiterscheinungen (vgl. BayVGH, U.v. 19.10.2015 - 1 B 15.886 - juris Rn. 24; U.v. 23.5.2019 - 15 N 16.1430 - juris Rn. 9) - seinerseits besonders störempfindlich ist.
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Aus welchen Gründen die hier genehmigte (Um-)Nutzung des Gebäudes als Bordell ohne Wohnnutzung als störungsempfindlicher anzusehen sein sollte, als die bisherige (teilweise) Büronutzung, selbst wenn diese nur auf die Tagzeit beschränkt gewesen sein dürfte, ist nicht nachvollziehbar, zumal sich nach den vorliegenden Behördenakten, Luftbildern und Angaben der Beteiligten im o.g. Gebiet auch bereits weitere sonstige nicht erheblich störende Gewerbebetriebe befinden, wie z.B. eine Beteiligungsgesellschaft, die die Vermietung und Verpachtung von Immobilien zum Unternehmensgegenstand hat, Delikatessen-Großhandel oder Auto- und Gebrauchtwagenhändler. Es erschließt sich zudem nicht, warum die Störempfindlichkeit eines solchen kleinen Bordells anders zu beurteilen sein sollte, als die eines größeren, erheblich belästigenden Bordellbetriebs, der wegen seines Störpotentials möglicherweise als eine im Industriegebiet im Einzelfall gebietsverträgliche Nutzung eingestuft wurde (vgl. BayVGH, U.v. 19.10.2015 - 1 B 15.886 a.a.O.).
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Ein Bordell ohne Wohnnutzung ist daher in einem Industriegebiet allgemein zulässig (Kämper in Spannowsky/Hornmann/Kämper, Beckscher Onlinekommentar BauNVO, Stand 15.12.2019, § 9 Rn. 40; Söfker in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand Sept. 2019; Grigoleit/Otto, BauNVO, 7. Aufl. 2018, § 9 Rn. 7; Decker in Jäde/Dirnberger, BauGB, 9. Aufl. 2018, § 9 BauNVO Rn. 4; offen gelassen: BVerwG, U.v. 25.11.1983 - 4 C 21.83 - juris Rn. 13; BayVGH, U.v. 21.7.2017 - 15 B 16.1834 - juris Rn. 19; a.A. BayVGH, U.v. 19.10.2015 - 1 B 15.886 - juris Rn. 24; Pützenbacher in Bönker/Bischopink, a.a.O., § 9 Rn. 53; Aschke in Kröninger/Aschke/Jeromin, BauGB, 4. Aufl. 2018, § 9 BauNVO Rn. 5; Fickert/Fieseler, BauNVO, 13. Aufl. 2018, § 9 Rn. 8.12). Dafür spricht auch, dass Bordelle in einem durch Bebauungsplan festgesetzten Industriegebiet über § 9 Abs. 1 Nr. 1 BauGB i.V.m. § 1 Abs. 9 BauNVO ausgeschlossen werden können (vgl. BVerwG, U.v. 16.8.2017 - 4 B 18.17 - juris Rn. 6). Ist aber ein derartiger Ausschluss in einem festgesetzten Industriegebiet zulässig, muss andererseits die betroffene Nutzungsart überhaupt zu den (allgemein oder ausnahmsweise) zulässigen Nutzungsarten des betreffenden Gebiets gehören (vgl. Stock in König/Roeser/Stock, a.a.O., § 9 Rn. 17; Ziegler in Brügelmann, BauGB, Stand Okt. 2019, § 9 Rn. 17). Dies ist hier der Fall, so dass sich die Klägerin nicht auf den von ihr geltend gemachten - auch im faktischen Industriegebiet nach § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 9 BauNVO geltenden (vgl. BVerwG, U.v. 6.6.2019 - 4 C 10.18 - juris Rn. 10; BayVGH, B.v. 10.10.2019 - 9 CS 19.1468 - juris Rn. 18) - Gebietserhaltungsanspruch berufen kann.
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3. Das von der Beklagten genehmigte Kleinbordell mit fünf Appartements und ohne Wohnnutzung verstößt hier auch nicht gegen das Rücksichtnahmegebot nach § 15 Abs. 1 BauNVO. Welche Anforderungen das Gebot der Rücksichtnahme begründet, hängt wesentlich von den jeweiligen Umständen ab. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung desjenigen ist, dem die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zugute kommt, um so mehr kann er an Rücksichtnahme verlangen. Je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, um so weniger braucht derjenige, der das Vorhaben verwirklichen will, Rücksicht zu nehmen. Bei diesem Ansatz kommt es für die sachgerechte Beurteilung des Einzelfalles wesentlich auf eine Abwägung zwischen dem an, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmeverpflichteten nach Lage der Dinge zuzumuten ist (vgl. BVerwG, U.v. 18.11.2004 - 4 C 1.04 - juris Rn. 22; B.v. 13.3.2019 - 4 B 39.18 - juris Rn. 9).
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Weder aus dem Vortrag der Klägerin noch aus den vorgelegten Behördenakten ergeben sich Anhaltspunkte dafür, dass das Vorhaben nach Anzahl, Lage, Umfang oder Zweckbestimmung der Eigenart des Baugebiets widerspricht (§ 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO). Auch ist im Hinblick auf die Errichtung im faktischen Industriegebiet nichts vorgetragen oder ersichtlich, dass von dem Bordell Belästigungen oder Störungen ausgehen können, die nach der Eigenart des Baugebiets selbst oder in dessen Umgebung unzumutbar sind, oder dass das Vorhaben solchen Belästigungen oder Störungen ausgesetzt wird (§ 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO). Aus dem Gutachten der … … … … GmbH vom 20. September 2017 ergibt sich, dass der zulässige Immissionsrichtwert zur Tagzeit für ein Industriegebiet nach Nr. 6.1 Buchst. a TA Lärm von der Klägerin an allen dort beschriebenen Immissionsorten deutlich unterschritten wird. Die dort angeführte deutliche Überschreitung des Immissionsrichtwertes zur Nachtzeit an den Immissionsorten 1, 3 und 4 wirkt sich nicht auf das Vorhaben der Beigeladenen aus, weil dieses nördlich des Immissionsortes 6 und südlich des Immissonsortes 5 liegt, an denen die Immissionsrichtwerte von der Klägerin auch zur Nachtzeit eingehalten werden (vgl. …-Gutachten v. 20.9.2017, S. 23).
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Beigeladene hat sich im erstinstanzlichen Verfahren nicht geäußert; im Berufungsverfahren wurde mit Schriftsatz vom 10. März 2020 zwar zur Gebietseinstufung Stellung genommen, jedoch kein Antrag gestellt. Im Hinblick darauf, dass nach der Auffassung des Senats die Frage der Gebietseinstufung für den Erfolg der Klage nicht entscheidungserheblich ist, erscheint es billig, dass die Beigeladene ihre außergerichtlichen Kosten selbst trägt (§ 162 Abs. 3 VwGO).
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.
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Die Revision war im Hinblick auf die Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts vom 25. November 1983 - 4 C 21.83 und vom 16. August 2017 - 4 B 18.17 wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).