Inhalt

FG Nürnberg, Urteil v. 11.12.2019 – 5 K 1283/18
Titel:

Eintritt der Abgeltungswirkung mit dem Steuerabzug bei einem betrügerischen Schneeballsystem

Normenkette:
EStG § 20 Abs. 2, § 32d Abs. 3 S. 1, § 36 Abs. 2 Nr. 2, § 43 Abs. 5 S. 1, § 44 Abs. 1 S. 4
Leitsatz:
Die Abgeltungswirkung der Kapitalertragsteuer tritt auch dann ein, wenn die Kapitalertragsteuer nicht angemeldet und an das Finanzamt abgeführt wird, sondern lediglich dem Anleger gegenüber in einer Abrechnung ausgewiesen und abgezogen wird. (redaktioneller Leitsatz)
Schlagwort:
Kapitalertragsteuer
Rechtsmittelinstanzen:
BFH München vom -- – VIII R 3/20
BFH München, Urteil vom 27.10.2020 – VIII R 3/20
Weiterführende Hinweise:
Revision zugelassen
Fundstellen:
StEd 2020, 327
EFG 2020, 840
ErbStB 2020, 214
BeckRS 2019, 41865
LSK 2019, 41865
DStRE 2020, 964

Tenor

1. Die Einkommensteuerbescheide für 2010, 2011, 2012 und 2013 jeweils vom 28.02.2017 in der Gestalt der Änderungsbescheide vom 12.01.2018, diese in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 15.08.2018, werden dahingehend abgeändert, dass die Einkommensteuer für 2010 auf 109.643 €, für 2011 auf 117.433 €, für 2012 auf 56.168 € und für 2013 auf 90.423 € herabgesetzt wird.
2. Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte.
3. Die Revision wird zugelassen.
4. Die Hinzuziehung des Bevollmächtigten für das Vorverfahren wird für notwendig erklärt.

Tatbestand

1
Streitig ist, ob bei einem betrügerischen Schneeballsystem die Abgeltungswirkung des § 43 Abs. 5 Satz 1 EStG auch dann eintritt, wenn die Kapitalertragsteuer nicht angemeldet und an das Finanzamt abgeführt wurde, sondern lediglich dem Anleger gegenüber in einer Abrechnung ausgewiesen wurde.
2
Der Kläger wurde in den Streitjahren 2010 - 2013 einzeln zur Einkommensteuer veranlagt. Er erzielte Einkünfte aus einem gewerblichen Kfz-Handel, aus Kapitalvermögen und aus Vermietung und Verpachtung.
3
Der Kläger überwies in den Jahren 2010 - 2013 an Vermögensverwalter B Geld für Aktienkäufe im Rahmen von dessen Vermögensverwaltung „Z“, die in Wirklichkeit jedoch nicht oder nicht vollständig getätigt wurden. B bescheinigte dem Kläger erhebliche Gewinne aus dem Verkauf der angeblich erworbenen Akten. Auf diesen Abrechnungen wies er den rechnerisch zutreffenden Einbehalt von Kapitalertragsteuer und Solidaritätszuschlag aus. Diese Beträge führte er jedoch nicht an das Finanzamt ab. Die verbliebenen Gewinne zahlte B an den Kläger aus. Steuerbescheinigungen gem. § 45a Abs. 2 und 3 EStG erstellte B nicht. B rechnete die Verkäufe jeweils ab wie folgt (Beispiel vom 11.02.2013; i. Ü. wird auf die Einspruchsentscheidung Bezug genommen):
 
4
Bei Aufdeckung des Schneeballsystems am 05.06.2013 hatte der Kläger noch 336.740 € bei B angelegt. Diesen Betrag meldete er bei der Insolvenzeröffnung über das Vermögen des B zur Tabelle an.
5
Die von B nach dessen Angaben getätigten Veräußerungsgeschäfte blieben im Rahmen der ursprünglichen Einkommensteuerveranlagungen unberücksichtigt (Einkommensteuerbescheid 2010 vom 02.12.2013, 2011 vom 06.06.2013, 2012 vom 06.06.2013 und 2013 vom 10.11.2015).
6
Im Rahmen einer beim Kläger durchgeführten Betriebsprüfung wurden die steuerlichen Einkünfte aus den (angeblichen) Veräußerungsgeschäften wie folgt berechnet (wiederum Beispiel vom 11.02.2013):
 
7
Aufgrund dieser Feststellungen ergingen am 28.02.2017 gem. § 164 Abs. 2 AO geänderte Einkommensteuerbescheide für die Jahre 2010 bis 2013, mit denen die Einkommensteuer 2010 um 42.229 € auf 149.416 €, 2011 um 39.402 € auf 155.560 €, 2012 um 72.796 € auf 125.784 € und 2013 um 22.929 € auf 110.132 € heraufgesetzt wurde. Der Vorbehalt der Nachprüfung wurde jeweils aufgehoben.
8
Gegen diese Bescheide legte der Kläger, vertreten durch die Prozessbevollmächtigten, Einspruch ein. Er machte geltend, dass aufgrund des Einbehalts der Kapitalertragssteuer durch B die Abgeltungswirkung gem. § 43 Abs. 5 EStG eingetreten sei.
9
Mit gem. § 172 AO geänderten Bescheiden vom 12.01.2018 wurden die Veräußerungsgewinne nur noch mit den Beträgen angesetzt, die nach der Kürzung um die durch B einbehaltene Kapitalertragsteuer und Solidaritätszuschlag verblieben. Die Einkommensteuer 2010 wurde auf 134.753 €, 2011 auf 142.834 €, 2012 auf 105.502 € und 2013 auf 103.453 € herabgesetzt. Dabei wurden noch folgende Veräußerungsgewinne angesetzt, die gem. § 32d Abs. 3 EStG zu 25% der tariflichen Einkommensteuer (gemindert um den Sparerpauschbetrag) hinzugerechnet wurden:
 
10
Mit Einspruchsentscheidung vom 15.08.2018 wurde der Einspruch als unbegründet zurückgewiesen. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass auch Scheinrenditen zu steuerbaren Einnahmen führten. Durch den schlichten Ausweis von Kapitalertragsteuer und Solidaritätszuschlag auf einem fingierten Depotauszug sei keine Abgeltungswirkung i. S. d. § 43 Abs. 5 Satz 1 EStG eingetreten, da die Kapitalerträge nicht tatsächlich dem Kapitalertragsteuerabzug unterlegen hätten. Die Einkünfte seien daher gem. § 32d Abs. 3 Satz 1 EStG im Rahmen der Einkommensteuerveranlagung zu berücksichtigen.
11
Hiergegen hat der Kläger Klage erhoben. Er ist der Ansicht, die Abgeltungswirkung des § 43 Abs. 5 EStG sei eingetreten, weil der Steuerabzug tatsächlich stattgefunden habe. Die beabsichtigten Geschäfte hätten zu Kapitalerträgen in Gestalt von Aktienveräußerungen i. S. d. § 20 Abs. 2 EStG führen sollen. B habe die Merkmale eines Kreditinstituts oder Finanzdienstleisters erfüllt, auch wenn er nicht über die nach dem KWG erforderliche Zulassung verfügt habe. Er sei daher eine auszahlende Stelle i. S. d. § 44 Abs. 1 Satz 4 EStG gewesen und habe die Kapitalertragsteuer einbehalten, auch wenn er sie nicht abgeführt habe. Die Anmeldung und Abführung seien aber nicht erforderlich, um von einer Erhebung der Kapitalertragsteuer ausgehen zu können. Dies ergebe sich schon aus den in § 44 Abs. 5 EStG geregelten, hier aber nicht einschlägigen Ausnahmetatbeständen. Der gesetzlichen Regelung sei nicht zu entnehmen, dass die Abgeltungswirkung von einer Abführung der Steuer an das Finanzamt abhängen sollte. Durch die Ausnahmeregelung in § 44 Abs. 5 EStG sei das Risiko des Ausfalls der abzuführenden, einbehaltenen Steuer zwischen dem Fiskus und dem Kapitalanleger aufgeteilt worden. Auf die bezüglich der Abgeltungswirkung vergleichbare Regelung zu § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG werde verwiesen.
12
Die Voraussetzungen für eine Steuererhebung im Veranlagungsverfahren lägen nicht vor. Das Finanzamt könne nicht für die Annahme eines Veräußerungsgewinns auf das auf das Scheingeschäft aus Sicht des Anlegers, für die Abgeltungswirkung aber auf das tatsächliche Geschehen abstellen. Das Finanzgericht Nürnberg habe zutreffend festgestellt, dass es für die Abgeltungswirkung auf die tatsächliche Abführung der Kapitalertragssteuer nicht ankomme (Urteil vom 11.10.2017 3 K 348/17, EFG 2018, 117, Rev. VIII R 17/17). Anders als im Fall des FG München (Urteil vom 27.10.2017 2 K 956/16, juris) habe B tatsächlich Gewinne - abzüglich der Kapitalertragssteuer - ausgezahlt. Die Einkommensteuer auf die Veräußerungsgewinne sei mit dem Steuerabzug abgegolten. Es gehe, anders als das Finanzamt meine, nicht um eine erstmalige Besteuerung im Veranlagungsverfahren, sondern um eine erneute Besteuerung. Eine erneute Steuererhebung im Veranlagungsverfahren sei rechtswidrig.
13
Selbst wenn man der Auffassung des Finanzamts folgen würde, seien die Gewinne aus Aktienverkäufen mit den Verlusten durch den Ausfall der an B im Jahr 2013 geleisteten Zahlungen i. H. v. 336.740 € - unter Berücksichtigung der Kurssteigerungen sogar 864.368,70 € - zu verrechnen. Sollte B tatsächlich mit diesem Geld noch Aktien gekauft haben, habe er, der Kläger, diese eingebüßt und vom Insolvenzverwalter über das Vermögen des B keine Zahlungen mehr erhalten. Sollte B das Geld im Rahmen des Schneeballsystems zur Befriedigung anderer Anleger verwendet haben, sei zu berücksichtigen, dass er, der Kläger, von mit diesen Mitteln erfolgten Aktienkäufen ausgegangen sei. Das Insolvenzverfahren über das Vermögen des B sei Ende 2013 eröffnet worden und es sei damals bereits klar gewesen, dass er, der Kläger, keine Rückzahlungen mehr zu erwarten gehabt habe. Im Fall eines tatsächlich erfolgten Aktienkaufs sei der Verlust tatsächlich entstanden; hilfsweise sei von einem Schadenersatzanspruch auszugehen, der ebenfalls eine Kapitalforderung darstelle, die ausgefallen sei. Auch Forderungsausfälle seien mit positiven Kapitalerträgen verrechenbar (BFH-Urteil vom 24.10.2017 VIII R 13/15, BFHE 259, 535).
14
Der Kläger beantragt, die Einkommensteuerbescheide für 2010, 2011, 2012 und 2013 jeweils vom 28.02.2017 in der Gestalt der Änderungsbescheide vom 12.01.2018, diese in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 15.08.2018, dahingehend abzuändern, dass die Einkommensteuer jeweils um den Betrag herabgesetzt wird, der auf die von der Finanzverwaltung angesetzten privaten Aktiengewinne nach § 20 Abs. 2 EStG (Scheinrenditen) entfällt.
15
Das Finanzamt beantragt, die Klage abzuweisen.
16
Die Beteiligten regen jeweils für den Fall ihres Unterliegens an, die Revision zuzulassen.
17
Nach Ansicht des Finanzamts komme es durch die Versteuerung im Rahmen der Einkommensteuerveranlagung nicht zu einer erneuten, sondern zur erstmaligen Besteuerung. B habe keine Steuerabzugsbeträge einbehalten, sondern den Einbehalt lediglich fingiert. Eine Anmeldung und Abführung der entsprechenden Beträge habe nicht stattgefunden. In dem vom Kläger zitierten BFH-Urteil vom 23.04.1996 (VIII R 30/93, BFHE 181, 7), das nicht im Bundessteuerblatt veröffentlicht sei, gehe es um die Vorschrift des § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG und der damit einhergehenden Frage, wann eine Steuer als erhoben gelte und auf die Einkommensteuerschuld angerechnet werden könne. Insoweit unterscheide sich der dortige Fall vom vorliegenden. Im vorliegenden Fall gehe es um die Frage, wann Kapitalerträge der Kapitalertragsteuer unterlegen haben (§ 43 Abs. 5 Satz 1 EStG). § 43 Abs. 5 und § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG unterschieden sich nicht nur vom Wortlaut, sondern auch in der Zielrichtung.
18
Mit der Einführung der sog. Abgeltungsteuer habe der Gesetzgeber das Besteuerungsregime für die Einkünfte aus Kapitalvermögen völlig neu geregelt. Zentrale Aussage sei, dass Kapitalerträge, die dem Kapitalertragsteuerabzug unterlegen hätten, nicht mehr in der Einkommensteuerveranlagung zu erfassen seien, da durch den Steuerabzug die Abgeltungswirkung eingetreten sei (§ 43 Abs. 5 Satz 1 EStG). Im Urteil des BFH gehe es darum, wann eine Steuer als erhoben gelte und ob diese trotz der Nichtabführung auf die Einkommensteuerschuld angerechnet werden könne. Nach früherer Rechtslage sei der Stpfl. verpflichtet gewesen, trotz des Steuerabzugs die Kapitalerträge in seiner Einkommensteuererklärung zu erklären. Die Besteuerung sei dann mit dem persönlichen Steuersatz unter Anrechnung der erhobenen Kapitalertragsteuer erfolgt. Durch die Einführung der Abgeltungsteuer sei die Besteuerung und Systematik vollständig neu geregelt worden und könne nicht mehr mit der früheren Rechtslage verglichen werden. Es sei der Wille des Gesetzgebers gewesen, dass durch den Steuerabzug eine abgeltende Besteuerung eintreten solle und die Erträge nicht mehr in der Einkommensteuererklärung anzugeben seien. Insoweit sei der Gesetzgeber davon ausgegangen, dass durch den Steuerabzug an der Quelle der Steueranspruch gesichert sei und es zu keinem Ausfall komme. Würde man nun die Auffassung vertreten, es komme nicht auf den tatsächlichen Einbehalt an und es reiche der Ausweis von Steuerabzugsbeträgen auf einer fingierten Verkaufsabrechnung für Aktien aus, werde die Systematik der Abgeltungsteuer missachtet. Die Rechtsauffassung des Klägers widerspreche dem gesetzgeberischen Willen.
19
Bezüglich des Ausfalles gelte weiterhin, dass das BFH-Urteil vom 24.10.2017 (VIII R 13/15, BFHE 259, 535) nicht über den entschiedenen Einzelfall hinaus anzuwenden sei. Unabhängig davon spiele dies im vorliegenden Verfahren jedoch keine Rolle. Im Streitjahr 2013 sei das Insolvenzverfahren eröffnet worden. Zu diesem Zeitpunkt habe der Ausfall von etwaigen Forderungen bzw. fingierten Aktienbeständen noch nicht endgültig festgestanden. Der BFH fordere jedoch, dass die Forderung endgültig ausgefallen sein müsse. Im Jahr 2013 sei das Erfordernis des endgültigen Ausfalls jedenfalls nicht erfüllt gewesen, so dass selbst bei Anwendung des Urteils eine Verlustberücksichtigung nicht möglich sei. Die Frage der Verlustverrechnung nach § 20 Abs. 6 EStG stelle sich daher nicht.
20
Auf den Inhalt der dem Senat vorliegenden Rechtsbehelfsakte, der im Klageverfahren eingereichten Schriftsätze und der Niederschrift über die mündliche Verhandlung wird Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

21
Die Klage ist begründet.
I.
22
Das Finanzamt hat auf die Gewinne aus den angeblichen Aktienverkäufen zu Unrecht Steuer festgesetzt, da die Einkommensteuer (einschließlich Solidaritätszuschlag) insoweit mit dem Steuerabzug abgegolten ist.
23
1. Der Kläger hat in den Streitjahren mit den Geldanlagen im Fonds „Z“ Einkünfte aus Kapitalvermögen erzielt. Dazu gehören nach § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG Gewinnanteile aus Aktien (Dividenden) und nach § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 EStG Gewinne aus der Veräußerung von Anteilen an einer Körperschaft i. S. d. Abs. 1 Nr. 1 (Aktienverkäufe).
24
a) Gewinn i. S. d. Abs. 2 ist gemäß § 20 Abs. 4 Satz 1 EStG der Unterschied zwischen den Einnahmen aus der Veräußerung nach Abzug der Aufwendungen, die im unmittelbaren sachlichen Zusammenhang mit dem Veräußerungsgeschäft stehen, und den Anschaffungskosten.
25
b) Einnahmen (§ 8 EStG) sind nach ständiger Rechtsprechung zugeflossen i. S. d. § 11 Abs. 1 EStG, sobald der Steuerpflichtige darüber wirtschaftlich verfügen kann.
26
aa) Auch eine Gutschrift in den Büchern des Verpflichteten kann einen Zufluss bewirken, wenn in ihr nicht nur das buchmäßige Festhalten einer Schuld zu sehen ist, sondern darüber hinaus zum Ausdruck gebracht wird, dass der Betrag dem Berechtigten von nun an zur Verwendung zur Verfügung steht. Ein Zufluss kann auch dadurch bewirkt werden, dass Gläubiger und Schuldner vereinbaren, das Geld erneut anzulegen, wenn diese Vereinbarung auf einem freien Entschluss des Gläubigers beruht. Dass es sich bei den Erträgen im Streitfall um sog. „Scheinrenditen“ gehandelt hat, spielt dabei keine Rolle. Gutschriften aus Schneeballsystemen führen zu Einnahmen aus Kapitalvermögen, wenn der Betreiber des Schneeballsystems bei entsprechendem Verlangen des Anlegers zur Auszahlung der gutgeschriebenen Beträge bereit und fähig gewesen wäre (ständige Rechtsprechung des BFH, vgl. BFH-Urteil vom 16.03.2010 VIII R 4/07, BStBl II 2014, 147).
27
bb) Das war bei den hier in Rede stehenden Beträgen der Fall. B hat nach Aktenlage die hier maßgeblichen Beträgt tatsächlich an den Kläger ausgezahlt. Noch am 06.05.2013 hat er einen Betrag i. H. v. 27.382,72 € an den Kläger ausgezahlt. Das Schneeballsystem ist erst durch seine Verhaftung im Juni 2013 zusammengebrochen. Über die Frage des Zuflusses als solchen, den Zuflusszeitpunkt und die Höhe der zugeflossenen Beträge besteht auch kein Streit.
28
2. Gemäß § 43 Abs. 1 Satz 1 EStG wird bei inländischen Kapitalerträgen i. S. d. § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG (§ 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG) und i. S. d. § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 und 2 EStG (43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 EStG) die Einkommensteuer durch Abzug vom Kapitalertrag erhoben (Kapitalertragsteuer). Die Einkommensteuer für Einkünfte aus Kapitalvermögen, die nicht unter § 20 Abs. 8 EStG fallen, beträgt 25 Prozent, § 32d Abs. 1 Satz 1 EStG.
29
a) Für Kapitalerträge i. S. d. § 20, soweit sie der Kapitalertragsteuer unterlegen haben, ist die Einkommensteuer mit dem Steuerabzug abgegolten, § 43 Abs. 5 Satz 1 Halbsatz 1 EStG.
30
aa) Die Anmeldung und Abführung der Kapitalertragsteuer durch den Entrichtungsschuldner ist nicht erforderlich (FG Nürnberg, Urteil vom 11.10.2017 3 K 348/17, Rev. BFH VIII R 17/17; Levedag in Schmidt, EStG, 38. Aufl., § 20 Rn. 14). Für die Auffassung des Finanzamts, Kapitalerträge hätten der Kapitalertragsteuer nur unterlegen, wenn die Steuer angemeldet und abgeführt worden sei, gibt es weder im Gesetz noch in der Gesetzesbegründung Anhaltspunkte.
31
bb) B hat von den dem Kläger zugewiesenen Kapitalerträgen einen Betrag mindestens i. H. der gesetzlichen Kapitalertragsteuer und des Solidaritätszuschlags unter dieser Bezeichnung abgezogen. Der Einbehalt ist daher erfolgt und die Abgeltungswirkung grundsätzlich eingetreten.
32
b) Es liegt kein Ausnahmefall vor, der zu einer Steuererhebung im Veranlagungsweg führen würde.
33
aa) Wenn der nach den materiell-rechtlichen Regelungen des § 20 EStG zu ermittelnde Gewinn höher ist als die im Rahmen des Kapitalertragsteuerabzugs berücksichtigte Bemessungsgrundlage, besteht für den darüberhinausgehenden Betrag eine Veranlagungspflicht nach § 32d Abs. 3 EStG, um Steuergestaltungsmodellen einen Riegel vorzuschieben (Knaupp, in Kirchhof EStG Kommentar, 16. Aufl., § 43 Rn. 25 mit Hinweis auf die Gesetzesbegründung und BMF vom 18.01.2016, BStBl I 2016, 85 Rn. 183). Dies ist hier nicht der Fall, da sowohl der Berechnung des Gewinns aus dem Schneeballsystem als auch dem fiktiven Einbehalt der Kapitalertragsteuer derselbe Lebenssachverhalt zugrunde zu legen ist. B hat die auf die Kapitalertragsteuer entfallenden Beträge zwar in betrügerischer Absicht, aber rechnerisch zutreffend einbehalten.
34
bb) Die Abgeltungswirkung des Steuerabzugs tritt außerdem nicht ein, wenn der Gläubiger nach § 44 Abs. 1 Satz 8 und 9 und Abs. 5 in Anspruch genommen werden kann, § 43 Abs. 5 Satz 1 Halbsatz 2 EStG.
35
§ 44 Abs. 1 Satz 8 und 9 EStG i.d.F. der Streitjahre betrifft Fälle, in denen die Kapitalerträge ganz oder teilweise nicht in Geld bestehen und der in Geld geleistete Betrag nicht zur Deckung der Kapitalertragsteuer ausreicht, § 44 Abs. 1 Satz 7 EStG. Das ist hier nicht der Fall.
36
Gemäß § 44 Abs. 5 Satz 2 EStG wird der Gläubiger der Kapitalerträge nur in Anspruch genommen, wenn (1.) der Schuldner, die den Verkaufsauftrag ausführende Stelle oder die die Kapitalerträge auszahlende Stelle die Kapitalerträge nicht vorschriftsmäßig gekürzt hat, (2.) der Gläubiger weiß, dass der Schuldner, die den Verkaufsauftrag ausführende Stelle oder die die Kapitalerträge auszahlende Stelle die einbehaltene Kapitalertragsteuer nicht vorschriftsmäßig abgeführt hat, und dies dem Finanzamt nicht unverzüglich mitteilt oder (3.) das die Kapitalerträge auszahlende inländische Kreditinstitut oder das inländische Finanzdienstleistungsinstitut die Kapitalerträge zu Unrecht ohne Abzug der Kapitalertragsteuer ausgezahlt hat.
37
Im Streitfall war B, der mit der C ein Finanzdienstleistungsinstitut i. S. d. § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 Buchst. b - wenn auch ohne die erforderliche Genehmigung - betrieb, „die die Kapitalerträge auszahlende Stelle“ i. S. d § 44 Abs. 1 Satz 4 EStG. Er hatte deshalb gemäß § 44 Abs. 1 Satz 3 EStG im Zeitpunkt des Zuflusses der Kapitalerträge beim Gläubiger (§ 44 Abs. 1 Satz 2 EStG) den Steuerabzug für Rechnung des Gläubigers (des Klägers) vorzunehmen. Das hat er auch getan. Aus den vorliegenden Abrechnungen ergibt sich, dass er bei Ermittlung des auszuzahlenden bzw. zur Wiederanlage zur Verfügung stehenden Betrages die auf die scheinbar erzielten Kapitalerträge entfallende Abgeltungssteuer (einschließlich Solidaritätszuschlag) in Abzug gebracht hat. Soweit Beträge ausgezahlt wurden, geschah dies nach Abzug der Abgeltungssteuer. Dass B tatsächlich weder Aktien gekauft, noch verkauft und deshalb tatsächlich auch keine Erträge erzielt hat, von denen er die Steuer hätte einbehalten können, spielt - entgegen der Auffassung des Finanzamts - keine Rolle. Wenn Scheinrenditen steuerbar sind, müssen auch von einem scheinbaren Ertrag einbehaltene Steuerabzugsbeträge berücksichtigt werden.
38
Der Kläger hat nicht gewusst, dass B die einbehaltende Kapitalertragsteuer entgegen seiner Verpflichtung nach § 45a Abs. 1 Satz 1 EStG nicht angemeldet und entgegen seiner Verpflichtung nach § 44 Abs. 1 Satz 5 EStG auch nicht an das Finanzamt abgeführt hat. Er kann deshalb nicht nach § 44 Abs. 5 EStG in Anspruch genommen werden.
39
cc) Nach § 43 Abs. 5 Satz 2 EStG entfällt die Abgeltungswirkung nach Satz 1 Halbsatz 1 auch in den Fällen des § 32d Abs. 2 EStG, in denen der Abgeltungssteuersatz von 25 Prozent nicht gilt, und für Kapitalerträge, die zu den Einkünften aus Land- und Forstwirtschaft, Gewerbebetrieb, selbständiger Arbeit oder aus Vermietung und Verpachtung gehören. Das ist hier nicht der Fall.
40
Auf Antrag des Gläubigers werden Kapitalerträge i. S. d. Satzes 1 in die besondere Besteuerung von Kapitalerträgen nach § 32d EStG einbezogen, § 43 Abs. 5 Satz 3 EStG. Einen solchen Antrag hat der Kläger nicht gestellt.
41
Würde man mit dem Finanzamt - entgegen dem Gesetzeswortlaut - für die Abgeltungswirkung des § 43 Abs. 5 Satz 1 Halbsatz 1 EStG auf die Abführung der Kapitalertragsteuer abstellen, so würde der Ausschluss nach § 43 Abs. 5 Satz 1 Halbsatz 2 i. V. m. § 44 Abs. 5 Satz 2 Nr. 2 EStG leerlaufen, der den Ausschluss unter die Voraussetzung der Kenntnis des Schuldners von der nicht vorschriftsmäßigen Abführung stellt.
42
Damit hat der Steuerabzug abgeltende Wirkung. Die Einkünfte werden nicht Teil des Veranlagungsverfahrens (vgl. Lammers, in Herrmann/Heuer/Raupach EStG Kommentar, § 36 Rn. 42). Dies ist kein Fall der Steueranrechnung nach § 36 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. a EStG. Eine Bescheinigung nach § 45a Abs. 2 oder 3 EStG ist nicht erforderlich.
43
Die angefochtenen Einkommensteuerbescheide 2010 - 2013 jeweils vom 28.02.2017 in der Gestalt der Änderungsbescheide vom 12.01.2018 und der Einspruchsentscheidung vom 15.08.2018 waren daher dahingehend abzuändern, dass die Einkommensteuer jeweils um den Betrag herabgesetzt wird, der auf die von der Finanzverwaltung zuletzt noch angesetzten privaten Aktiengewinne nach § 20 Abs. 2 EStG entfällt.
44
Daraus ergibt sich folgende Berechnung der Einkommensteuer:
 
II.
45
Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
III.
46
Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen, § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO, weil noch keine Rechtsprechung des BFH zu diesem Problem vorliegt und bei der Finanzverwaltung zahlreiche Parallelverfahren geführt werden.
IV.
47
Die Notwendigkeit der Hinzuziehung des Bevollmächtigten zum Vorverfahren ergibt sich aus der Schwierigkeit der zu beurteilenden Rechtsfragen (§ 139 Abs. 3 Satz 3 FGO).