Inhalt

VG Bayreuth, Urteil v. 27.02.2019 – B 4 K 17.761
Titel:

Ausschlussfrist für die Erhebung von Erschließungsbeiträgen

Normenketten:
BauGB § 131 Abs. 1, § 133 Abs. 2
BayKAG Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 lit. b, lit. bb
Leitsätze:
1. Grundstücke gelten als im Sinne des § 131 Abs. 1 BauGB durch die Anlage erschlossen, wenn die Eigentümer die tatsächliche und rechtliche Möglichkeit haben, von der Erschließungsanlage eine Zufahrt bzw. einen Zugang zu ihren Grundstücken zu nehmen. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
2. Hat im Fall eines sog. „Hinterliegergrundstücks“ das trennende Grundstück eine so geringe Tiefe, dass es selbst nicht bebaut werden kann und darf, so ist es im Sinne des § 131 Abs. 1 BauGB dann erschlossen, wenn es entweder eine Zufahrt bzw. einen Zugang bereits besitzt oder die tatsächlichen oder rechtlichen Hindernisse, die dieser Zugänglichkeit derzeit entgegenstehen, ausräumbar sind. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
2. Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 lit. b) lit. bb) BayKAG gewährleistet eine bestimmbare zeitliche Obergrenze in Gestalt einer Ausschlussfrist, die durch den Eintritt der Vorteilslage ausgelöst wird und nach deren Ablauf eine Beitragserhebung zwingend und ausnahmslos ausscheidet, auch dann, wenn die Beitragsschuld noch nicht entstanden ist und deshalb auch noch nicht hätte festgesetzt werden dürfen und verjähren können. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
4. Der Begriff der Vorteilslage nach Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 lit. b) lit. bb) BayKAG knüpft an rein tatsächliche, für den möglichen Beitragsschuldner erkennbare Gegebenheiten an und lässt rechtliche Entstehungsvoraussetzungen für die Beitragsschuld außen vor. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Ausschlussfrist für die Erhebung von Erschließungsbeiträgen, Beurteilung nach der konkreten Planung der Gemeinde für die Anlage, Eintritt der Vorteilslage, Erschließung eines Hinterliegergrundstücks
Fundstelle:
BeckRS 2019, 39757

Tenor

1. Der Bescheid der Beklagten vom 22. April 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids des Landratsamts Bayreuth vom 18. August 2017 wird aufgehoben.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Zuziehung des Bevollmächtigten der Klägerin im Vorverfahren war notwendig.
3. Die Kostenentscheidung ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 v.H. des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

1
Die Klägerin wendet sich gegen die Erhebung eines Erschließungsbeitrags für die Herstellung der Erschließungsanlage „W…straße, U-Abschnitt“ in P… Die Klägerin ist Eigentümerin des Grundstücks mit der Fl.-Nr. aaaa/24 in der Gemarkung P… (Anwesen W…straße **). Das 1.152 m² große Grundstück ist mit einem Einfamilienhaus bebaut und wird an der südlichen Grundstücksgrenze über die W…straße erschlossen. Es setzt sich aus Teilflächen der früheren Fl.-Nrn. aaaa/24, aaaa/25 und bbbb/6 der Gemarkung P… zusammen, die zu der neuen Fl.-Nr. aaaa/24 verschmolzen wurden.
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Der am 11. Mai 1984 in Kraft getretene Bebauungsplan „…“ weist den streitgegenständlichen Ausbauabschnitt der W…straße als ringförmigen Bogen aus, der westlich jeweils von der H…Straße begrenzt wird und die Fl.-Nrn. bbbb/1 und cccc/1 umfasst.
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Zwischen der W…straße und den nördlich davon gelegenen Fl.-Nrn. aaaa/21 bis aaaa/26 lag ursprünglich der im Eigentum der Beklagten gestandene Grundstücksstreifen mit der vormaligen Fl.-Nr. bbbb/2. Ab dem Jahr 1983 wurden die Fl.-Nrn. aaaa/22 und aaaa/23 bebaut. In diesem Zug übertrug die Beklagte den Bauherrn der beiden Flurnummern die jeweils zwischen ihren Grundstücken und der W…straße gelegene Teilfläche des gemeindlichen Grundstücks mit der Fl.-Nr. bbbb/2.
4
Mit notariellen Kaufverträgen vom 22. Dezember 2011 erwarb die Klägerin jeweils eine Teilfläche der Fl.-Nrn. aaaa/24 und aaaa/25 von zwei Privatpersonen sowie den südlich zur W…straße vorgelagerten Grundstücksstreifen der Beklagten, der mittlerweile die Fl.-Nr. bbbb/6 trug. Am 30. April 2012 erteilte das Landratsamt Bayreuth der Klägerin eine Baugenehmigung für ein Einfamilienwohnhaus mit Einliegerwohnung und Doppelgarage für das verschmolzene Grundstück.
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Mit Schreiben der Beklagten vom 7. April 2016 wurde die Klägerin über die beabsichtigte Inanspruchnahme zur Zahlung eines Erschließungsbeitrags für die W…straße in Höhe von 9.163,59 Euro informiert.
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Nachdem keine Äußerung der Klägerin eingegangen war, wurde sie mit Bescheid der Beklagten vom 22. April 2016 zu einem Erschließungsbeitrag in Höhe von 9.163,59 Euro in Anspruch genommen. Die Beitragsschuld für die W…straße sei mit dem Grundstückserwerb durch die Klägerin im Jahr 2012 entstanden.
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Mit Schreiben vom 19. Mai 2016 legte die Klägerin gegen den Bescheid Widerspruch ein. Darin führt sie begründend aus, dass die Beitragspflicht mit dem Abschluss der Maßnahmen zur erstmaligen endgültigen Herstellung einer Erschließungsstraße entstehe. Daher bitte sie um Klarstellung durch die Beklagte, wann die letzte Unternehmerrechnung für die Herstellung der W…straße eingegangen sei. Zudem handele es sich bei der W…straße nicht um eine erst kürzlich hergestellte Straße. Auch lägen die nun herangezogenen Grundstücke seit Jahrzehnten im Geltungsbereich des rechtsverbindlichen Bebauungsplans „…“ und dürften deshalb spätestens seit der Rechtsverbindlichkeit dieses Bebauungsplans als bebaubar anzusehen sein. Bereits mit Erlass des Bebauungsplans und der Ausweisung der Grundstücke als Bauplatz müssten die Voraussetzungen für eine Beitragspflicht erfüllt gewesen sein, sodass eine Beitragserhebung im Jahr 2016 aufgrund der Festsetzungsverjährung längst nicht mehr möglich sei. Außerdem hätten bereits die damaligen Eigentümer zu den Erschließungsbeiträgen herangezogen werden müssen.
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Hierauf antwortete die Beklagte mit Schreiben vom 6. Juni 2016. Für die Entstehung einer Erschließungsbeitragspflicht müssten fünf Kriterien erfüllt sein. Zunächst müsse die Berechenbarkeit des Erschließungsaufwands möglich sein, was im Jahr 1980 mit der Rechnung über die Vermessungskosten der Fall gewesen sei. Zudem habe die W…straße im gleichen Jahr auch den Merkmalen der Erschließungsbeitragssatzung der Beklagten entsprochen, die ihrerseits seit dem Jahr 1973 bestanden habe. Im Übrigen müsse die Straße als öffentliche Straße gewidmet sein und mit dem Bebauungsplan übereinstimmen. Dies alles sei im Jahr 1984 erstmalig der Fall gewesen, habe aber nicht gleichzeitig zur Beitragspflicht für die Grundstücke mit den damaligen Fl.-Nrn. aaaa/24 und aaaa/25 geführt. Grundsätzlich seien alle von der Erschließungsstraße erschlossenen Grundstücke am Erschließungsaufwand zu beteiligen. Die Grundstücke Fl.-Nrn. aaaa/22 bis aaaa/25 seien nach dem Bebauungsplan zur W…straße hin orientiert und die Eigentümer der weiteren erschlossenen Grundstücke hätten aufgrund der sich aus dem Bebauungsplan ergebenden planerischen Erschließung über die W…straße schutzwürdig erwarten können, dass diese Grundstücke bei der Verteilung des Erschließungsaufwandes mit berücksichtigt würden. Die Beklagte als Eigentümerin des Vorderliegergrundstücks hätte bei einem entsprechenden Bauantrag für die Hinterliegergrundstücke die Bestellung einer dinglichen Sicherung der Zufahrt oder einen Verkauf des Vorderliegergrundstücks nicht verweigert. Daher seien die Grundstücke gem. § 131 Abs. 1 BauGB zum damaligen Zeitpunkt zwar erschlossen, die Beitragspflicht nach § 133 Abs. 1 BauGB aber noch nicht entstanden gewesen. Nach der Rechtsprechung unterlägen Grundstücke, für die eine bauliche Nutzung festgesetzt ist, der Beitragspflicht, sobald sie bebaut werden könnten. Dies sei erst dann der Fall, wenn die hergestellte Anlage von dem Grundstück aus tatsächlich wie rechtlich ungehindert genutzt werden könne. Zum Zeitpunkt der Abrechnung habe das städtische Vorderliegergrundstück dies verhindert. Die sachliche Beitragsschuld habe erst mit der Beseitigung dieses Hindernisses durch die Eintragung des Eigentums der Klägerin am gemeindlichen Grundstück im Grundbuch am 10. Oktober 2012 entstehen können.
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Mit Schreiben des Klägerbevollmächtigten vom 31. August 2016 an die Beklagte beantragte dieser die Aufhebung des Erschließungsbeitragsbescheids. Die Festsetzungsverjährung sei bereits in den 80er-Jahren, spätestens in den 90er-Jahren abgelaufen, da die Flurnummern bereits zum damaligen Zeitpunkt im Sinne des § 133 Abs. 1 Satz 1 BauGB bebaubar gewesen seien. Die Grundstücke seien trotz des städtischen Grundstücksstreifens über die Fl.-Nr. bbbb/6 erreichbar gewesen und hätten eine Zuwegung gehabt. Zudem habe seit der endgültigen Herstellung der Erschließungsstraße jederzeit eine latente Bereitschaft der Beklagten zur Veräußerung des städtischen Grundstücksstreifens an Bauwillige bestanden, wie sich auch anhand der benachbarten Grundstücke mit den Fl.-Nrn. aaaa/23 und aaaa/22 zeige. Anders gesagt habe der Umstand des städtischen Vorderliegergrundstücks zu keinem Zeitpunkt die Bebaubarkeit verhindern können. Dies habe die Beklagte durch ihr Schreiben vom 6. Juni 2016 bestätigt. Die Bebaubarkeit werde auch durch den Herstellungsbeitragsbescheid zur Wasserversorgung vom 1. Dezember 2011 sowie durch die Baugenehmigung vom 30. April 2012 bestätigt, die beide vor dem Eigentümerwechsel im Grundbuch am 10. Oktober 2012 ergangen seien. Weiter ergebe sich aus den internen Stellungnahmen der Beklagten vom 8. März 2012 und vom 19. März 2012, dass diese von einer gesicherten Erschließung der Grundstücke ausgegangen seien. Davon abgesehen genüge es für die Erschließung eines Hinterliegergrundstücks bereits, wenn die Stadt als Eigentümerin des Vorderliegergrundstücks die Bestellung einer Grunddienstbarkeit zur Sicherung der Zufahrt oder den Verkauf des Vorderliegergrundstücks anbiete. Diese Voraussetzungen hätten bereits seit den 80er Jahren vorgelegen; spätestens hätten sie mit Abschluss des notariellen Kaufvertrages vom 22. Dezember 2011 vorgelegen, da damit eventuell der Bebaubarkeit entgegenstehende Hindernisse beseitigt worden seien. Insbesondere habe der Kaufvertrag nur ein zugunsten der Klägerin wirkendes Rücktrittsrecht vorgesehen, sodass eine ausreichende rechtliche Sicherung vorgelegen habe. Die vierjährige Festsetzungsfrist sei damit Ende des Jahres 2015 abgelaufen. Zudem sei die Geltendmachung der Beitragsschuld nach mehr als dreißig Jahren nach dem Eintritt der Vorteilslage ausgeschlossen.
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Mit Beschluss des Stadtrats der Beklagten in der nichtöffentlichen Sitzung vom 23. November 2016 wurde der Widerspruch einstimmig zurückgewiesen und dem Landratsamt Bayreuth zur Entscheidung vorgelegt. Dies wurde von der Beklagten mit Schreiben des ersten Bürgermeisters vom 9. Dezember 2016 dahingehend begründet, dass die Beitragsschuld erst entstehe, wenn die erschlossenen Grundstücke bebaut werden dürfen oder „in rechtlich gesicherter Weise und auf Dauer Zugang oder Zufahrt genommen werden kann“. Dies sei erst mit dem Eigentumserwerb der Klägerin eingetreten, sodass keine Festsetzungsverjährung vorliege. Es könne auch nicht angenommen werden, dass die Beitragsschuld bereits mit der Aufstellung des Bebauungsplans entstanden sei, da den Voreigentümern niemals ein Angebot zum Verkauf des städtischen Grundstücks oder der Einräumung eines Geh- und Fahrtrechts gemacht worden sei. Im Übrigen entstehe die Beitragsschuld bei Gemeindeeigentum erst mit dem Eigentumsübergang, der definitiv erst im Oktober 2012 mittels der Eintragung im Grundbuch erfolgt sei.
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Dieser Begründung schloss sich das Landratsamt Bayreuth vollumfänglich an und wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 18. August 2017, der dem Klägerbevollmächtigten am 23. August 2017 zuging, zurück.
12
Mit Telefax vom 22. September 2017 hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin Klage erhoben und beantragt,
den Bescheid der Stadt P… vom 22. April 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids des Landratsamts Bayreuth vom 18. August 2017 aufzuheben.
13
Mit Schriftsätzen vom 1. Dezember 2017 sowie vom 21. Februar 2019 begründete der Klägerbevollmächtigte die Klage und nahm dabei zunächst auf die Widerspruchsbegründung vom 31. August 2016 Bezug. Des Weiteren konkretisierte er, dass bereits im Jahr 1984 die fünf Kriterien einer Erschließungsbeitragspflicht erfüllt gewesen seien und somit die Vorteilslage der Herstellung der Erschließungsanlage eingetreten sei. Da die Festsetzung eines Beitrags ohne Rücksicht auf die Entstehung der Beitragsschuld spätestens zwanzig Jahre nach Ablauf des Jahres, in dem die Vorteilslage eintrat, nicht mehr zulässig sei, hätte die Beklagte aufgrund dieser klar formulierten Vorschrift nach mehr als dreißig Jahren keinen Erschließungsbeitrag mehr erheben dürfen. Überdies sei die vierjährige Festsetzungsfrist längstens abgelaufen. Für den Fristbeginn sei bereits ein einseitiges, verbindliches Angebot der Gemeinde zur dinglichen Sicherung der Erreichbarkeit des Hinterliegergrundstücks und nicht erst die tatsächliche Eintragung des Geh- und Fahrtrechts entscheidend. Dies gelte jedenfalls für die typischen Hinterliegergrundstücke, die durch Vorderliegergrundstücke, die selbstständig nicht bebaubar seien, von der Erschließungsstraße getrennt werden. Dies sei aufgrund der geringen Fläche des städtischen Grundstücks hier der Fall. Zudem habe die Beklagte mehrfach zu erkennen gegeben und durch Zulassung der Bebauung auf den Nachbargrundstücken auch dokumentiert, dass sie einem Bebauungswunsch der Rechtsvorgänger der Klägerin jederzeit zugestimmt hätte und in Bezug auf die Erschließung der Hinterliegergrundstücke entgegengekommen wäre. Spätestens der Abschluss des notariellen Kaufvertrages erfülle die Voraussetzung einer gesicherten Erschließung, da er weit über die Grenze eines einseitigen Angebots hinausgehe. Im Übrigen seien die Grundstücke mit den ehemaligen Fl.-Nrn. aaaa/24 und aaaa/25 bereits vor dem Erwerb der Klägerin jeweils selbständig bebaubar gewesen.
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Für die Beklagte erwiderte deren Bevollmächtigter mit Schriftsatz vom 31. Januar 2018 und beantragte,
die Klage kostenpflichtig abzuweisen.
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Zur Begründung wird mit weiterem Schriftsatz vom 19. Februar 2018 angeführt, dass die in Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 b) bb) und Art. 19 Abs. 1 und Abs. 2 BayKAG getroffenen Regelungen auf die Vorteilslage abstellen würden, die nach der Rechtsprechung an rein tatsächliche, für den möglichen Beitragsschuldner erkennbare Gegebenheiten anknüpfe und rechtliche Entstehungsvoraussetzungen für die Beitragsschuld außen vor lasse. Nach Auffassung der Beklagten benötige die Vorteilslage als weiteren Bezugspunkt stets auch das angrenzende Grundstück, sodass die Vorteilslage erst in dem Zeitpunkt habe entstehen können, als die Klägerin als Eigentümerin des Grundstücks Fl.-Nr. bbbb/6 eingetragen worden sei. Die ursprünglichen Grundstücke Fl.-Nrn. aaaa/24 und aaaa/25 seien nach § 131 BauGB zwar bei der Verteilungsberechnung mit zu berücksichtigen gewesen, eine Beitragspflicht habe jedoch erst mit dem Erwerb des Grundstücks Fl.-Nr. bbbb/6 entstehen können. Bei gemeindeeigenen Grundstücken könne die Beitragspflicht solange nicht entstehen, wie das veranlagte Grundstück noch im Eigentum der erhebungsberechtigten Gebietskörperschaft stehe. Das Vorhandensein eines Fiskalvorderliegergrundstücks stelle kein behebbares Hindernis dar.
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Hinsichtlich des Verlaufs der mündlichen Verhandlung wird auf die Sitzungsniederschrift vom 27. Februar 2019 Bezug genommen. Ergänzend wird nach § 117 Abs. 3 Satz 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) auf die Gerichtsakte und die vorgelegten Behördenakten verwiesen.

Entscheidungsgründe

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1. Die zulässige Klage ist begründet. Der Erschließungsbeitragsbescheid der Beklagten vom 22. April 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids des Landratsamts Bayreuth vom 18. August 2017 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
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a) Rechtsgrundlagen für den geltend gemachten Erschließungsbeitrag sind Art. 5a KAG, §§ 127 ff. BauGB i.V.m. der Erschließungsbeitragssatzung (EBS) der Beklagten vom 23. Oktober 1979 i.d.F. der dritten Änderungssatzung vom 28. Juli 1995.
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Nach diesen Vorschriften erheben die Gemeinden zur Deckung ihres anderweitig nicht gedeckten Aufwands für Erschließungsanlagen einen Erschließungsbeitrag. Erschließungsanlagen in diesem Sinne sind u.a. die öffentlichen zum Anbau bestimmten Straßen (Art. 5a Abs. 2 Nr. 1 KAG). Beiträge können gemäß Art. 5a Abs. 9 KAG i.V.m. § 129 Abs. 1 Satz 1 BauGB nur insoweit erhoben werden, als die Erschließungsanlagen erforderlich sind, um die Bauflächen entsprechend den baurechtlichen Vorschriften zu nutzen (beitragsfähiger Erschließungsaufwand). Dabei wird der um einen Gemeindeanteil nach Art. 5a Abs. 9 KAG i.V.m. § 129 Abs. 1 Satz 3 BauGB verringerte umlagefähige Aufwand auf die durch die Anlage erschlossenen Grundstücke (Art. 5a Abs. 9 KAG i.V.m. § 131 Abs. 1 BauGB) verteilt.
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Gemessen an diesen Maßstäben hat die Beklagte die vormaligen Grundstücke mit den Fl.-Nrn. aaaa/24 und aaaa/25 zu Recht in die Aufwandsverteilung miteinbezogen. Zunächst bestehen keine Zweifel an der Rechtmäßigkeit der EBS der Beklagten, da weder Bedenken vorgetragen wurden noch solche ersichtlich sind. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts gelten Grundstücke als im Sinne des § 131 Abs. 1 BauGB durch die Anlage erschlossen, wenn die Eigentümer die „tatsächliche und rechtliche Möglichkeit“ haben, von der Erschließungsanlage eine Zufahrt bzw. einen Zugang zu ihren Grundstücken zu nehmen. Die rechtliche Möglichkeit einer Zufahrt oder eines Zugangs besteht, wenn nur solche rechtlichen Hindernisse entgegenstehen, die ausräumbar sind. Im Fall eines sog. „Hinterliegergrundstück“, das zwar zu der Erschließungsanlage hin orientiert, von einem fremden Grundstück zu dieser aber abgetrennt ist, reicht dies für ein Erschlossensein im Sinne des § 131 Abs. 1 BauGB nicht aus. Hat das trennende Grundstück jedoch eine so geringe Tiefe, dass es selbst nicht bebaut werden kann und darf, wird also das an sich zu der Erschließungsanlage orientierte Hinterliegergrundstück durch diesen schmalen und unbebauten Grundstücksstreifen derart von der Anlage getrennt, dass es bei räumlich-natürlicher Betrachtungsweise - gerade auch aus der Sicht der anderen Anlieger - als in den Kreis der von der Anlage erschlossenen Grundstücke gehörend anzusehen ist, so ist es von ihr im Sinne des § 131 Abs. 1 BauGB dann erschlossen, wenn es entweder eine Zufahrt bzw. einen Zugang zu ihr bereits besitzt oder die tatsächlichen oder rechtlichen Hindernisse, die dieser Zugänglichkeit derzeit entgegenstehen, ausräumbar sind. Dies ist dann der Fall, wenn im konkreten Fall eine die Zufahrt bzw. den Zugang sichernde rechtliche Regelung objektiv möglich ist, so etwa durch ein entsprechendes Vertragsangebot des Eigentümers des trennenden Grundstücks. Ob der Hinterlieger von dieser rechtlichen Möglichkeit Gebrauch macht, ist insoweit unerheblich (vgl. BVerwG, U.v. 7.10.1977 - IV C 103/74 - juris).
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Diese Voraussetzungen liegen im Hinblick auf die vormaligen Grundstücke mit den Fl.-Nrn. aaaa/24 und aaaa/25 vor. Im Bebauungsplan ist festgesetzt, dass die Erschließung dieser Grundstücke über die W…straße erfolgt, sodass die Grundstücke dorthin orientiert sind. Zudem wurden die Grundstücke von der W…straße durch den davor liegenden gemeindlichen Grundstücksstreifen mit der Fl.-Nr. bbbb/6 abgetrennt, womit auch die Eigenschaft als Hinterliegergrundstück einschlägig ist. Ferner wies das gemeindliche Grundstück eine so geringe Größe auf, dass es selbst nicht bebaubar war. Da die Grundstücke zudem bei räumlich-natürlicher Betrachtung und aus Sicht der weiteren Anlieger als von der Anlage erschlossen anzusehen waren und die Zufahrt, unabhängig davon, ob eine solche bereits bestand, zumindest durch die Eintragung eines Geh- und Fahrtrechts objektiv möglich war, wurden die Grundstücke zu Recht mit in die Aufwandsverteilung miteinbezogen.
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b) Die Geltendmachung eines Erschließungsbeitrags ist zeitlich jedoch nicht unbegrenzt möglich. Nach Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b) Doppelbuchst. bb) KAG ist die Festsetzung eines Beitrags ohne Rücksicht auf die Entstehung der Beitragsschuld spätestens 20 Jahre nach Ablauf des Jahres, in dem die Vorteilslage eintrat, nicht mehr zulässig; liegt ein Verstoß gegen die Mitwirkungspflicht nach Art. 5 Abs. 2a) Satz 2 KAG vor und kann der Beitrag deswegen nicht festgesetzt werden, beträgt die Frist 25 Jahre. Nach der Übergangsvorschrift des Art. 19 Abs. 2 KAG gilt diese Regelung für Beiträge, die vor dem 1. April 2014 durch einen nicht bestandskräftigen Bescheid festgesetzt sind, mit der Maßgabe, dass die Frist einheitlich 30 Jahre beträgt.
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aa) Hintergrund dieser Regelung war eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, in der festgelegt wurde, dass das Rechtsstaatsprinzip in seiner Ausprägung als der Rechtssicherheit dienendes Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit gesetzliche Regelungen verlangt, die sicherstellen, dass Abgaben zum Vorteilsausgleich nicht zeitlich unbegrenzt nach Erlangung des Vorteils festgesetzt werden können. Dem Gesetzgeber obliege es, einen Ausgleich zu schaffen zwischen dem Interesse der Allgemeinheit an der Erhebung von Beiträgen für solche Vorteile einerseits und dem Interesse des Beitragsschuldners andererseits, irgendwann Klarheit zu erlangen, ob und in welchem Umfang er zu einem Beitrag herangezogen werden kann (BVerfG, B.v. 5.3.2013 - 1 BvR 2457/08 - juris Rn. 40ff.).
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Durch die Schaffung von Ausschlussfristen hat der Bayerische Landesgesetzgeber der zuvor bestehenden einseitigen Belastung der Beitragsschuldner Rechnung getragen. Denn ohne die Ausschlussfristen wurde im Fall der Ungültigkeit einer Abgabensatzung der Verjährungsbeginn ohne zeitliche Obergrenze auf den Ablauf des Kalenderjahres festgelegt, in dem die gültige Satzung bekannt gemacht wurde.
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bb) Nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs gewährleistet Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b) Doppelbuchst. bb) KAG eine bestimmbare zeitliche Obergrenze in Gestalt einer Ausschlussfrist, die durch den Eintritt der Vorteilslage ausgelöst wird und nach deren Ablauf eine Beitragserhebung zwingend und ausnahmslos ausscheidet, auch dann, wenn die Beitragsschuld noch nicht entstanden ist und deshalb auch noch nicht hätte festgesetzt werden dürfen und verjähren können. Der Begriff der Vorteilslage knüpft dabei an rein tatsächliche, für den möglichen Beitragsschuldner erkennbare Gegebenheiten an und lässt rechtliche Entstehungsvoraussetzungen für die Beitragsschuld außen vor. Demnach kommt es für die Ausschlussfrist mit Blick auf die beitragsfähige Erschließungsanlage auf die tatsächliche - bautechnische - Durchführung der jeweiligen Erschließungsmaßnahme an, nicht aber auf die rechtlichen Voraussetzungen für das Entstehen der sachlichen Beitragspflichten, wie die Widmung der Anlage, die planungsrechtliche Rechtmäßigkeit ihrer Herstellung, die Wirksamkeit der Beitragssatzung oder den vollständigen Grunderwerb als Merkmal der endgültigen Herstellung. Der Eintritt der Vorteilslage beurteilt sich nicht nach - kaum greifbaren - allgemeinen Vorstellungen von einer „Benutzbarkeit“ und „Gebrauchsfertigkeit“ der Anlage oder einer „ausreichenden Erschließung“ der angrenzenden Grundstücke. Vielmehr sei die konkrete Planung der Gemeinde für die jeweilige Anlage der Beurteilungsmaßstab, denn allein die Gemeinde entscheidet im Rahmen der ihr obliegenden Erschließungsaufgabe und der sich daraus ergebenden gesetzlichen Schranken über Art und Umfang der von ihr für erforderlich gehaltenen Erschließungsanlagen. Anders gesagt kommt es darauf an, ob die wirksame, konkrete gemeindliche Planung für die Erschließungsmaßnahme sowohl im räumlichen Umfang als auch in der bautechnischen Ausführung bislang nur provisorisch ausgeführt oder schon vollständig umgesetzt ist (vgl. BayVGH, U.v. 24.2.2017 - 6 BV 15.1000 - juris Rn. 30f.; B.v. 4.5.2017 - 6 ZB 17.546 - juris Rn. 10f.).
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cc) Daran gemessen ist im vorliegenden Fall die Festsetzung und Erhebung eines Erschließungsbeitrags - ohne Rücksicht auf das Entstehen der Beitragsschuld nach § 133 Abs. 1 BauGB und unbeschadet der abgabenrechtlichen Verjährungsregelungen - ausgeschlossen, da seit dem Entstehen der Vorteilslage durch die endgültige technische Fertigstellung der W…straße entsprechend der gemeindlichen Planung mehr als 20 Jahre vergangen sind.
27
Die Ausschlussfrist war zum Zeitpunkt des Bescheidserlasses am 22. April 2016 abgelaufen, da die Vorteilslage bereits im Jahr 1980 eingetreten ist. Die W…straße wurde in diesem Jahr endgültig technisch hergestellt und stimmte mit den in § 7 der EBS der Beklagten in der Fassung vom 23. Oktober 1979 festgelegten Merkmalen der endgültigen Herstellung der Erschließungsanlage überein. Dies wurde von der Beklagten selbst im Widerspruchsverfahren vorgetragen und im gerichtlichen Verfahren nicht bestritten. Der hergestellte Ausbauzustand der W…straße entsprach den konkreten, gemeindlichen Planungen, die vollständig umgesetzt wurden.
28
Das Entstehen der Vorteilslage als relevantes Ereignis für den Fristbeginn der Ausschlussfrist ist zudem unabhängig von der Widmung der Erschließungsanlage, der Wirksamkeit des zugrundeliegenden Bebauungsplans sowie der ausreichenden Erschließung der Grundstücke, die von der Vorteilslage betroffen sind. Diese formellen Voraussetzungen sind mangels ihrer Erkennbarkeit für den Bürger bei der Bestimmung des Eintritts der Vorteilslage irrelevant. Selbst wenn dies anders wäre, hätte spätestens der wirksame Bebauungsplan den Fristbeginn ausgelöst. Auch auf die ausreichende, rechtlich gesicherte Erschließung des klägerischen Grundstücks über die W…straße kommt es - entgegen der Ansicht der Beklagten - für die Beurteilung des Eintritts der Vorteilslage gerade nicht an. Der Erwerb des gemeindlichen Grundstücks kann zwar für die Entstehung der Beitragsschuld i.S.d. § 133 Abs. 2 BauGB relevant sein; für den Beginn der Ausschlussfrist nach den oben genannten Maßstäben ist er aber ohne Bedeutung. Andernfalls käme es in derartigen Fällen erneut zu der Konstellation, dass - trotz technischer Fertigstellung der Erschließungsanlage - der Verjährungsbeginn ohne zeitliche Obergrenze hinausgeschoben werden könnte, was wiederum dem Gebot der Belastungsklarheit entgegenstünde.
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Da der Bescheid zudem am 22. April 2016 erlassen wurde, findet die Übergangsvorschrift des Art. 19 Abs. 2 KAG keine Anwendung. Vielmehr ist die Höchstfrist von 20 Jahren einschlägig, sodass die Beklagte seit Ablauf des Jahres 2000 an der Erhebung des Erschließungsbeitrags rechtlich gehindert war.
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Die Gemeinde war insoweit auch nicht hilflos gestellt. Sie hätte schon damals - nach dem Herbeiführen der übrigen Voraussetzungen für das Entstehen der Beitragspflichten - ein verbindliches Angebot zur Übereignung des gemeindlichen Grundstücksstreifens bzw. zur Einräumung eines Geh- und Fahrtrechts über das gemeindliche Grundstück an die vormaligen Eigentümer der Grundstücke aaaa/24 und aaaa/25 abgeben können, das nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs für das Entstehen der Beitragspflichten nach § 133 Abs. 2 BauGB ausreichend gewesen wäre (BayVGH, B.v. 30.1.2001 - 6 ZS 00.833 - juris Rn. 3f.).
31
c) Ob zum Zeitpunkt des Bescheidserlasses im Übrigen auch die vierjährige Festsetzungsverjährungsfrist des Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b) Doppelbuchst. bb) KAG i.V.m. § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, § 170 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO) abgelaufen war, bedarf zwar keiner Entscheidung. Rein vorsorglich sei aber darauf hingewiesen, dass die Beitragspflicht - zur Überzeugung des Gerichts - im Übrigen auch verjährt ist. Nach § 133 Abs. 1 Satz 1 BauGB unterliegen Grundstücke der Beitragspflicht, sobald sie bebaut werden können. Dies ist nach bayerischer Rechtsprechung nicht erst durch die tatsächliche Eintragung eines Geh- und Fahrtrechts im Grundbuch, sondern bereits durch ein einseitiges verbindliches Angebot der Gemeinde zur dinglichen Sicherung der Erreichbarkeit des Hinterliegergrundstücks der Fall (BayVGH, B.v. 30.1.2001 - 6 ZS 00.833 - juris Rn. 3f.; VG Augsburg, B.v. 21.2.2000 - Au 2 S 99.287 - juris). Entsprechend dieser Rechtsprechung entstand die Beitragspflicht vorliegend bereits mit Abschluss des notariellen Kaufvertrags am 22. Dezember 2011, sodass die Verjährung nach Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b) Doppelbuchst. bb) KAG i.V.m. § 170 Abs. 1 AO mit Ablauf des Jahres 2011 zu laufen begann und gemäß Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b) Doppelbuchst. bb) KAG i.V.m. § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO Ende des Jahres 2015 endete. Der Abschluss eines notariellen Kaufvertrags, der die Verpflichtung der Beklagten zur Übertragung des Eigentums am Vorderliegergrundstück begründet und zudem ein nur zugunsten der Klägerin wirkendes Rücktrittsrecht vorsieht, stellt im Vergleich zu einem einseitigen, verbindlichen Angebot einer dinglichen Sicherung der Zufahrt des Hinterliegergrundstücks eine mindestens gleichwertig gesicherte Rechtsposition dar. Entgegen der Ansicht der Beklagten ist daher nicht auf die Eintragung im Grundbuch im Jahr 2012 als relevantes Ereignis für den Beginn der Verjährungsfrist abzustellen.
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2. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Zuziehung eines Rechtsanwaltes im Vorverfahren wird gemäß § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO für notwendig erklärt, denn der Klägerin war es wegen der Schwierigkeit der Sache auf dem Gebiet des Kommunalabgabenrechts nicht zuzumuten, das Vorverfahren selbst zu führen (vgl. BayVGH, B.v. 29.4.2016 - 5 C 16.574 - juris Rn. 7). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 709 VwGO.
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3. Gründe für eine, von der Beklagtenseite angeregte Zulassung der Berufung durch das Verwaltungsgericht nach § 124 Abs. 1, § 124 a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Nr. 3 und Nr. 4 VwGO liegen nicht vor.