Inhalt

VG Ansbach, Urteil v. 17.07.2019 – AN 2 K 18.02269, AN 2 K 18.02465
Titel:

Nachteilsausgleich bei Sehnenscheidenentzündung und psychogener Dysphonie

Normenkette:
JAPO § 9, § 10, § 13
Leitsätze:
1. Um den Nachteil beim Anfertigen von Klausuren im juristischen Staatsexamen durch eine Sehnenscheidenentzündung auszugleichen, genügt die Gewährung einer Schreibkraft; die Bereitstellung eines Laptops würde eine Überkompensation darstellen. (Rn. 33) (redaktioneller Leitsatz)
2. Für eine psychogene Dysphonie besteht kein Anspruch auf Nachteilsausgleich, weil es sich um ein Dauerleiden handelt, das das abgeprüfte Leistungsbild betrifft. (Rn. 35) (redaktioneller Leitsatz)
3. Eine psychogene Dysphonie als inhaltlich prüfungsrelevantes Dauerleiden berechtigt nicht zum Rücktritt von einer Prüfung wegen Prüfungsunfähigkeit. (Rn. 43) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Zweites Juristisches, Staatsexamen, zweierlei Dauerleiden (Sehnenscheidenentzündung, Psyche), kein Nachteilsausgleich bei inhaltlich relevanten Dauerleiden (hier psychisch bedingte Dysphonie), Nachteilsausgleich, Prüfungsrecht, psychogene Dysphonie, Laptop, Schreibkraft
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Urteil vom 02.06.2022 – 7 B 21.349
Fundstelle:
BeckRS 2019, 23566

Tenor

Die Klagen werden abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Tatbestand

1
Die Beteiligten streiten um einen Nachteilsausgleich für den schriftlichen Teil des Zweiten Juristischen Staatsexamens (Termin 2018/2) in Form der Nutzung eines Laptops (AN 2 K 18.02269) sowie um die Bewertung der Zweiten Juristischen Staatsprüfung der Klägerin mit der Note „ungenügend“ (AN 2 K 18.02465).
2
Die Klägerin wurde erstmals zur Zweiten Juristischen Staatsprüfung im Termin 2018/1 vom 12. Juni 2018 bis 26. Juni 2018 zugelassen. Sie leidet an einer chronischen Sehnenscheidenentzündung. Nach eigenen Angaben hat die Klägerin seit der elften Klasse alle Prüfungen (einschließlich der Abiturprüfungen) mit Hilfe eines Laptops geschrieben. Auch die Prüfungen an der Universität seien auf einem Laptop angefertigt worden. Das Erste Juristische Staatsexamen habe sie nur mittels Kortisonspritzen und Schmerzmitteln handschriftlich anfertigen können, wobei trotzdem nur maximal elf bis zwölf Seiten pro Prüfungstag geschrieben werden konnten.
3
Ihren im Vorfeld der Prüfung gestellten Antrag auf Nachteilsausgleich verbeschied das Landesjustizprüfungsamt mit Bescheid vom 7. Mai 2018 dahingehend, dass ihr Nachteilsausgleich in Form eines Einsatzes einer juristisch nicht vorgebildeten Schreibkraft gewährt wurde; die Benutzung eines Laptops oder einer elektronischen Schreibmaschine wurde abgelehnt. Der daraufhin gestellte Antrag, ihr im Wege einer einstweiligen Anordnung die Benutzung eines Laptops zu gestatten, wurde mit Beschluss der Kammer vom 6. Juni 2018 abgelehnt.
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Die Klägerin fertigte daraufhin Aufgabe 1 des Termins 2018/1 mit Hilfe einer Schreibkraft an und machte ab dem 2. Prüfungstag Prüfungsverhinderung wegen psychischer Probleme geltend. Die Verhinderung wurde vom Antragsgegner mit Bescheid vom 14.Juni 2018 anerkannt.
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Mit Schreiben vom 4. Juli 2018 beantragte die Klägerin erneut Nachteilsausgleich in Form der Benutzung eines Laptops. Mit Bescheid vom 16. November 2018 wurde der Klägerin gestattet, die Zweite Juristische Staatsprüfung 2018/2 mit Hilfe einer Schreibkraft zu fertigen.
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Die Klägerin erhob hiergegen Klage (AN 2 K 18.02269) und beantragte,
den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 16.11.2018 zu verpflichten, der Klägerin als Nachteilsausgleich im Rahmen der 2. Juristischen Staatsprüfung 2018/2 die Benutzung eines Notebooks zu gestatten.
7
Auch im Wege einer einstweiligen Anordnung wurde beantragt, ihr als Nachteilsausgleich im Rahmen der Zweiten Juristischen Staatsprüfung 2018/2 die Benutzung eines Notebooks zu gestatten. Der Antrag wurde mit Beschluss der Kammer vom 26. November 2018 abgelehnt.
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Unter Vorlage eines fachärztlichen Attests vom 6. November 2018 sowie einer daraufhin erfolgten amtsärztlichen Bescheinigung vom 12. November 2018 wurde im Wesentlichen geltend gemacht, dass die Klägerin neben der unstreitig eingeschränkten Schreibfähigkeit auch an einer hochgradigen chronischen Stimmstörung leide, welche ein Diktieren unmöglich mache.
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Das Landesjustizprüfungsamt beantragte für den Beklagten,
die Klage (AN 2 K 18.02269) abzuweisen.
10
Das von der Klägerin in Bezug genommene amtsärztliche Attest enthalte keine belastbaren Aussagen bezüglich einer akuten Stimmstörung, die es der Klägerin unmöglich mache, die Klausurtexte zu diktieren.
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In einer ergänzenden Stellungnahme führte der Amtsarzt … am 15. November 2018 weiter aus, dass bei der Untersuchung eine ausreichende flüssige Kommunikation möglich gewesen sei, wobei die Klägerin auf gestellte Fragen mit leiser, flüsternder Stimme antwortete. Eine weitere Objektivierung des HNOärztlichen Befundes sei ihm als Psychiater nicht möglich gewesen. Über die im Gesprächskontakt berichtete flüsternd tonlose Stimme hinaus hätten keine weiteren objektivierbaren Feststellungen getroffen werden können. Die Diagnose der funktionellen Dysphonie scheine aus medizinischer/psychiatrischer Sicht nachvollziehbar. Das Explorationsgespräch sei mit der Klägerin möglich gewesen.
12
Zum ersten Prüfungstag des Termins 2018/2, dem 27. November 2018, erschien die Klägerin. Sie zeigte unmittelbar nach Antritt ihre Verhinderung gegenüber der örtlichen Prüfungsleitung beim OLG Nürnberg an. Sie fertigte keinerlei schriftliche Arbeiten in diesem Termin an und legte dem Beklagten ein amtsärztliches Zeugnis des Gesundheitsamts … vom 27. November 2018 vor, in dem die Ärztin … der Klägerin neben ihrer Erkrankung der Handgelenke auch eine „chronische Erkrankung aus dem HNOärztlichen Formenkreis, die es ihr zur Zeit nicht möglich macht, mündliche Prüfungen abzulegen“ bescheinigte.
13
Der Beklagte forderte von der Ärztin eine weitere Stellungnahme ein. Diese gab daraufhin an, dass sie die im fachärztlichen Attest getroffenen Feststellungen durch eigene Untersuchungen und Beobachtungen überprüft habe und objektivierbar bestätigen konnte.
14
Auf die Fragen
„Konnten Sie insbesondere im Gespräch feststellen, dass bei Frau … tatsächlich eine Einschränkung beim Sprechen vorliegt? In wie weit war die Sprachfähigkeit von Frau … bei der Vorstellung beim Gesundheitsamt eingeschränkt? Traten während des Gesprächs in Ihrem Hause schwerwiegende Auffälligkeiten hervor?“
antwortete die Ärztin, dass sie diese Fragen leider auf Grund der ärztlichen Schweigepflicht nicht beantworten könne. Die Weitergabe von genauen Diagnosen und subjektiven Befunden sei ihr nicht gestattet.
15
Mit Bescheid vom 11. Dezember 2018 wurde daraufhin der Antrag auf Anerkennung einer Verhinderung an der Ablegung der Zweiten Juristischen Staatsprüfung 2018/2 abgelehnt und festgesetzt, dass die Prüfung für die Klägerin als nicht abgelegt und mit der Note „ungenügend 0 Punkte“ als nicht bestanden gelte.
16
Zur Begründung wurde ausgeführt, dass eine Verhinderung nicht habe anerkannt werden können. An der vorgetragenen hochgradigen Stimmstörung bestünden erhebliche Zweifel. In der Stellungnahme des … vom 15. November 2018 sei ausgeführt worden, dass mit ihm eine flüssige Kommunikation möglich gewesen sei. Dass seit der Begutachtung des … am 12. November 2018 bis zum Beginn der schriftlichen Prüfung am 27. November 2018 eine Verschlechterung der behaupteten Erkrankung aus dem HNOärztlichen Formenkreis eingetreten sei, ergebe sich aus dem amtsärztlichen Attest der Frau … nicht. Da sie auch auf Nachfrage keine weiteren Angaben gemacht habe, bestünden weiterhin erhebliche Zweifel.
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Die Klägerin erhob daraufhin Klage (AN 2 K 18.02465) und beantragte,
den Bescheid des Beklagten vom 11.12.2018 mit der Bewertung der Zweiten Juristischen Staatsprüfung 2018/2 als abgelegt mit der Note - „ungenügend“ (0 Punkte) nicht bestanden - aufzuheben.
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Die Klägerin berief sich in der Klagebegründung im Wesentlichen darauf, dass sie an einer chronischen Erkrankung aus dem HNOärztlichen Formenkreis gelitten und deshalb unmittelbar nach Antritt der Prüfung ihre Verhinderung gegenüber dem örtlichen Prüfungsleiter geltend gemacht habe. Sie habe dann ein amtsärztliches Attest vorgelegt. Der Nachweis der Prüfungsunfähigkeit sei dadurch in umfassendem Maße erbracht worden.
19
Der Beklagte beantragte,
die Klage (AN 2 K 18.02465) abzuweisen.
20
Die Klägerin habe keinen genügenden Nachweis ihrer Verhinderung erbracht. Die untersuchende Ärztin habe im Attest vom 27. November 2018 keine näheren objektivierbaren Feststellungen getroffen. Insbesondere fänden sich keine Symptome im Attest. Die von der Klägerin benannten Zeugen, die ihren Angaben zufolge ihre Stimmstörung belegen könnten, seien kein taugliches Beweismittel, da § 10 Abs. 2 JAPO ein Zeugnis eines amtlich tätigen Arztes fordere.
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Im Laufe des Klageverfahrens führte die Klägerin aus, dass sie die untersuchende Ärztin erneut von der Schweigepflicht entbunden habe und sie auf die im Vorfeld der Untersuchung unterschriebene Schweigepflichtentbindung hingewiesen habe. Hierauf erfolgte eine erneute Stellungnahme der Ärztin mit Schreiben vom 25. März 2019. Sie führte darin aus, dass sie die HNOärztliche Erkrankung objektiv bestätigen habe können. Zu den oben abgedruckten Fragen, die die Ärztin zunächst unbeantwortet gelassen hatte, führte sie aus:
22
Bei Frau … lag eine Aphonie vor, die sich dadurch zeigte, dass sie nur sehr leise flüsternd sprechen konnte und die Stimme teilweise auch ganz versagte. Diese Problematik war stark psychisch überlagert, da bei Frau … zudem auch eine bipolare affektive Störung mit einer schweren Depression vorliegt, die in der Untersuchung ebenfalls objektiv bestätigt werden konnte. Aufgrund dieser Erkrankungen war es Frau … aus medizinischer Sicht nicht möglich im genannten Zeitraum eine mündliche Prüfung abzulegen.
23
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Akteninhalt der Gerichts- und Behördenakten sowie auf die Sitzungsniederschrift Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässigerweise mit Schriftsatz vom 12. Juli 2019 gemäß § 173 VwGO i.V.m. § 264 ZPO in eine Fortsetzungsfeststellungsklage umgestellte Klage (AN 2 K 18.02269) sowie die Anfechtungsklage nach § 42 Abs. 1 Var. 1 VwGO (AN 2 K 18.02465) sind zulässig, aber unbegründet und deshalb abzuweisen.
25
Die angefochtenen Bescheide des Landesjustizprüfungsamtes sind rechtmäßig. Weder die Versagung der Gewährung eines Nachteilsausgleichs in Form eines Laptops (I.) durch Bescheid vom 16. November 2018 (AN 2 K 18.02269) noch die Bewertung der Prüfung der Klägerin mit der Note „ungenügend 0 Punkte“ (II.) durch Bescheid vom 11. Dezember 2018 (AN 2 K 18.02465) verletzen die Klägerin in ihren Rechten.
I.
26
Rechtsgrundlage des Nachteilsausgleichs ist § 13 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 der Ausbildungs- und Prüfungsordnung für Juristen (JAPO) in der Fassung der Bekanntmachung vom 13. Oktober 2003. § 13 Abs. 1 JAPO besagt, dass schwerbehinderten Menschen und Gleichgestellten auf Antrag durch das vorsitzende Mitglied des Prüfungsausschusses nach der Schwere der nachgewiesenen Prüfungsbehinderung eine Arbeitszeitverlängerung bis zu einem Viertel der normalen Arbeitszeit gewährt werden soll, soweit die Behinderung nicht das abgeprüfte Leistungsbild betrifft. In Fällen besonders weitgehender Prüfungsbehinderung kann auf Antrag die Arbeitszeit bis zur Hälfte der normalen Arbeitszeit verlängert werden. Neben oder an Stelle einer Arbeitszeitverlängerung kann ein anderer angemessener Ausgleich gewährt werden, soweit dieser den Wettbewerb nicht beeinträchtigt. § 13 Abs. 2 JAPO gewährt anderen Prüfungsteilnehmern, die wegen einer festgestellten Behinderung bei der Fertigung der Prüfungsarbeiten erheblich beeinträchtigt sind, nach Maßgabe des § 13 Abs. 1 JAPO einen Nachteilsausgleich, soweit die Behinderung nicht das abgeprüfte Leistungsbild betrifft. Gemäß § 13 Abs. 3 JAPO sind die Anträge auf Nachteilsausgleich spätestens sechs Wochen vor Beginn der schriftlichen Prüfung einzureichen. Der Nachweis der Prüfungsbehinderung ist durch ein Zeugnis eines Landgerichtsarztes oder eines Gesundheitsamts zu führen.
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Bezüglich der Prüfungsbehinderung ist zu unterscheiden zwischen akuten Beeinträchtigungen des Gesundheitszustandes (z.B. durch eine Infektionskrankheit), die vorübergehen und somit den Urzustand der vorhandenen Befähigung des Prüflings nicht in Frage stellen und den sogenannten Dauerleiden. Unter einem Dauerleiden versteht man eine erhebliche Beeinträchtigung des Gesundheitszustandes, die die Einschränkung der Leistungsfähigkeit trotz ärztlicher Hilfe bzw. des Einsatzes medizinisch-technischer Hilfsmittel prognostisch nicht nur vorübergehend, sondern dauerhaft oder doch auf unbestimmte Zeit ohne sichere Heilungschance bedingt. Erfasst werden auch Erkrankungen, die schubweise auftreten und in deren Verlauf es zu Phasen höherer und niedrigerer Leistungsfähigkeit kommt (Niehues/Fischer/Jeremias, Prüfungsrecht, 7. Auflage 2018, Rn. 258).
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§ 13 Abs. 2 JAPO gewährt den Prüfungsteilnehmern, die wegen einer festgestellten Behinderung bei der Fertigung der Prüfungsarbeiten erheblich beeinträchtigt sind, nach Maßgabe des § 13 Abs. 1 JAPO einen Nachteilsausgleich, soweit die Behinderung nicht das abgeprüfte Leistungsbild betrifft. Es ist deshalb zwischen inhaltlich prüfungsrelevanten Dauerleiden, die das abgeprüfte Leistungsbild betreffen und inhaltlich nicht prüfungsrelevanten Dauerleiden zu unterscheiden.
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Dauerleiden sind inhaltlich prüfungsrelevant, wenn sie - maßgeblich ist insoweit der Zeitraum der Prüfung, wobei das Leiden nicht auch bereits zu dieser Zeit als Dauerleiden erkannt worden sein musste - eine in der Person des Prüflings auf unbestimmte Zeit begründete generelle Einschränkung seiner durch die Prüfung festzustellenden Leistungsfähigkeit darstellen. Derartige konstitutionelle oder sonst auf unabsehbare Zeit andauernde, nicht oder nur ungenügend therapiefähige Leiden sind zumeist die chronischen Erkrankungen, insbesondere psychischer Art; umfasst sind auch deren psychosomatische Auswirkungen (Niehues/Fischer/Jeremias, Prüfungsrecht, 7. Auflage 2018, Rn. 258).
30
Der gewährte Nachteilsausgleich darf nicht zu einer Überkompensation von Prüfungsbehinderungen und damit zu einer Verletzung der Chancengleichheit der anderen Prüfungsteilnehmer führen. Vielmehr muss grundsätzlich jeder Prüfling die gleichen Leistungen erbringen und sich den gleichen Bewertungsmaßstäben unterziehen. Deshalb muss sich ein zu gewährender Nachteilsausgleich darauf beschränken, dem behinderten Prüfungsteilnehmer eine Leistungserbringung unter Bedingungen zu ermöglichen, die denen der Mitprüflinge möglichst nahekommen. Für die Frage, ob und wie ein Ausgleich einzuräumen ist, kommt es auf den Prüfungsgegenstand und Prüfungszweck an (VGH München, B.v. 28.6.2012 - 7 CE 12.1324 - juris Rn. 18). Im Falle des juristischen Staatsexamens liegt der Schwerpunkt der Prüfung eindeutig in der fachlichen und somit geistigen Leistungsfähigkeit. Zur Wahrung der Chancengleichheit kann deswegen ein Ausgleich nur bei Prüfungsbehinderungen erfolgen, die die Umsetzung bzw. das textliche Abfassen der geistigen Leistungsfähigkeit beeinträchtigen, nicht jedoch bei solchen, die die geistige Leistungsfähigkeit an sich betreffen, wie beispielsweise psychische Leiden.
31
1. Die Klägerin hat - nach eigenen Angaben - einen Grad der Behinderung von 30. Amtsärztlich festgestellt wurde bereits im Verfahren AN 2 E 18.00968 eine angeborene Knochenanomalie, die zu einer anhaltenden schmerzhaften Erkrankung beider Handgelenke führt. Dies resultiert in einer chronischen Sehnenscheidenentzündung, die als Dauerleiden einzuordnen ist. Die Klägerin hat diese Erkrankung nach eigenen Angaben bereits seit ihrer Schulzeit. Da eine chronische Sehnenscheidenentzündung im Falle der Juristischen Staatsprüfung jedoch nicht inhaltlich prüfungsrelevant ist, ist der Klägerin nach § 13 Abs. 2 JAPO ein Nachteilausgleich zu gewähren.
32
Der Ausgleich nach § 13 Abs. 2 JAPO muss gemäß § 13 Abs. 1 JAPO zum einen angemessen sein, zum anderen darf er den Wettbewerb nicht beeinträchtigen. Es gilt der Grundsatz der Chancengleichheit, der gewahrt werden muss. Deshalb dürfen die Prüfungsbedingungen nicht über das Notwendige hinaus geändert werden, das zum Ausgleich der Beeinträchtigung des Prüfungsteilnehmers erforderlich ist. Eine technische Schreibhilfe in Form eines Laptops kann nur in medizinisch begründeten Ausnahmefällen in Betracht kommen (BayVGH B. v. 1.3.2011 - 7 CE 11.376 - juris), zum Beispiel wenn sich die gesundheitliche Beeinträchtigung des Prüfungsteilnehmers erst während der laufenden Prüfung akut verschärft. Die Prüfungsteilnehmer haben einen verfassungsrechtlich verbürgten Anspruch auf gleiche Prüfungschancen (Art. 12 Abs. 1 GG; Art. 3 Abs. 1 GG). Die Gerichte haben aufgrund der Garantie des effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG zu kontrollieren, ob die organisatorischen Maßnahmen der Prüfungsbehörde ausreichen, um die Chancengleichheit zu erreichen (vgl. BVerfG B.v. 1.12.1992 - 1 BvR 1295/90 - NJW 1993, 917).
33
Um die Beeinträchtigung der Klägerin durch ihre Sehnenscheidenentzündung auszugleichen, genügt in diesem Einzelfall nach Ansicht des Gerichts die Gewährung einer Schreibkraft. Die Gewährung des Laptops würde eine Überkompensation darstellen, da die Nutzung einige Vorteile mit sich bringt, die den handschriftlich schreibenden Prüfungsteilnehmern verwehrt bleiben. So kann sich die Nutzung der Tatstatur zeitsparend auswirken. Zum anderen entsteht ein die ganze Prüfung über gleichbleibendes und allzeit leserliches Schriftbild, welches bei einer handschriftlichen Prüfung so gut wie ausgeschlossen ist. Dies kann zu einer positiveren Bewertung durch den Korrektor führen. Es können zudem Textpassagen gelöscht werden. Es kann Text kopiert und an anderen Stellen eingefügt werden. Zudem können Ergänzungen und Korrekturen vorgenommen werden, ohne dass dies im Nachhinein für den Korrektor erkennbar ist. Im Gegensatz dazu müssen die Prüfungsteilnehmer, die handschriftlich arbeiten, ihren Text aus einem Guss anfertigen. Bei ihnen sind Streichungen oder das Einfügen von Text stets im Nachhinein erkennbar. Dies wirkt sich negativ auf das gesamte Erscheinungsbild der Klausur aus, was sich in einer schlechteren Bewertung durch den Korrektor niederschlagen kann. Zuletzt rechtfertigt auch die Umstellung der Arbeitsweise der Klägerin vom selbständigen Verfassen eines Textes auf das Diktieren eines Textes keine andere rechtliche Beurteilung des Falles. Bereits am 28. März 2018 (Verfahren AN 2 E 18.00968) wurde die Klägerin auf den Nachteilsausgleich mittels Schreibkraft hingewiesen. Ihr blieb also genug Zeit, sich auf die veränderte Situation einzustellen und diese Arbeitsweise einzuüben.
34
2. Die Klägerin befindet sich ihren Angaben in der mündlichen Verhandlung zufolge bereits seit 2014 in psychologischer/psychiatrischer Behandlung. Im Termin 2018/1 erfolgte seitens der Klägerin ein Prüfungsrücktritt aufgrund psychischer Probleme. Bei der Stimmerkrankung der Klägerin handelt es sich dem Attest des Privatarztes Prof. … vom 6. November 2018 zufolge um eine chronische Dysphonie. Bereits im Verfahren AN 2 E 18.00968 stellte der Privatarzt die Diagnose „Dysphonie“. Diese Diagnose wurde von der Amtsärztin … bestätigt. Die Stimme der Klägerin sei zumeist aphon, also tonlos. Das Gericht konnte sich hiervon in der mündlichen Verhandlung vom 17. Juli 2019 selbst ein Bild machen. Die Klägerin konnte nur leise flüsternd und mit tonloser Stimme sprechen. Die Klägerin gab an, dass ihre Stimme zum Zeitpunkt des Prüfungstermins in etwa so schlecht gewesen sei, wie in der mündlichen Verhandlung. Eine Dysphonie kann nach Angaben der als Zeugin vernommenen Amtsärztin organische oder psychogene Ursachen haben. Bei einer organischen Dysphonie sehe man eine Veränderung am Kehlkopf. Bei der psychogenen Dysphonie sei der Kehlkopf unauffällig. Die Stimmbänder hätten dann aber eine andere Stellung. Bei der Klägerin ist laut privatärztlichem Attest der Kehlkopf in Gestalt, Form und Bau unauffällig (im Attest heißt es hierzu: „Larynx: morphologisch unauffällig“). Die Klägerin gab über ihren Klägerbevollmächtigten im Schriftsatz vom 12. Juli 2019 an, dass es sich bei ihrer Erkrankung um eine psychogene Dysphonie handle, die in Stresssituationen wie der Prüfung zum Tragen komme. Auch die Amtsärztin bestätigte, dass die Ursache der stimmlichen Erkrankung der Klägerin psychischer Natur sei. Die Klägerin leide unter einer bipolaren Störung mit depressiver Episode. Bei der Dysphonie handelt es sich somit um die psychosomatische Auswirkung der zugrunde liegenden psychischen Erkrankung der Klägerin. Die Klägerin hat selbst eingeräumt, dass sich der Zustand der Stimme nur bessern könne, wenn der durch die Prüfungen und das Verfahren bedingte Stress wegfalle. Erst dann sei auch eine entsprechende Therapie sinnvoll. Nach den Darstellungen der Klägerin ist jedoch nicht davon auszugehen, dass es möglich ist, in Zukunft einen Prüfungstermin in einem beschwerdefreien Zeitraum der Krankheit abzuhalten, da die Verschlechterung der Stimme mit den jeweils bevorstehenden Examensterminen unmittelbar zusammenhängt.
35
Bezüglich der von der Klägerin geltend gemachten chronischen Dysphonie besteht deshalb kein Anspruch auf einen Nachteilsausgleich, da es sich vorliegend um ein Dauerleiden handelt, welches inhaltlich prüfungsrelevant ist und somit aus Gründen der Chancengleichheit nicht ausgeglichen werden darf. § 13 Abs. 2 JAPO gewährt einen Nachteilsausgleich, soweit die Behinderung nicht das abgeprüfte Leistungsbild betrifft. Da die bei der Klägerin vorliegende Dysphonie keine organischen Ursachen hat, es sich mithin um eine psychogene Dysphonie handelt, betrifft die Erkrankung der Klägerin das abgeprüfte Leistungsbild der geistigen Leistungsfähigkeit.
36
Letztendlich wurde der Klägerin durch das Landesjustizprüfungsamt mit Bescheid vom 16. November 2018 ein ausreichender Ausgleich ihrer körperlichen Beeinträchtigung (Sehnenscheidenentzündung) dadurch gewährt, dass ihr der Einsatz einer Schreibkraft, welche den diktierten Text handschriftlich niederlegt, gestattet wurde. Ein darüber hinausgehender Anspruch auf Nachteilsausgleich aufgrund der Dysphonie ist somit nicht gegeben.
II.
37
Auch der Bescheid des Beklagten vom 11. Dezember 2018 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 VwGO. Die Bewertung der Prüfung mit der Note „ungenügend 0 Punkte“ ist nicht zu beanstanden. Weder war die Klägerin aufgrund von Prüfungsunfähigkeit zum Rücktritt von der Prüfung berechtigt (1.) noch besteht ein Anspruch der Klägerin auf Wiederholung der streitgegenständlichen Prüfung zur Korrektur von Prüfungsmängeln (2.).
38
1. Treten Prüfungsteilnehmer nach Zulassung und vor Beginn einer Staatsprüfung zurück, so gilt die Prüfung für sie als abgelegt und mit der Note „ungenügend” (0 Punkte) nicht bestanden, § 9 Abs. 1 JAPO. Gemäß Absatz 2 gilt dies entsprechend, wenn Prüfungsteilnehmer den schriftlichen Teil versäumen. Die Klägerin erschien am ersten Prüfungstag und machte unmittelbar nach Antritt Verhinderung im Sinne des § 10 JAPO gegenüber dem örtlichen Prüfungsleiter geltend.
39
Bezüglich der Verhinderung bestimmt § 10 Abs. 1 JAPO, dass die Folgen der Säumnis nicht eintreten, wenn Prüfungsteilnehmer aus Gründen, die sie nicht zu vertreten haben, den schriftlichen oder den mündlichen Teil einer Staatsprüfung nicht oder nicht vollständig ablegen, die Voraussetzungen nach Absatz 2 erfüllt sind und keine Ausschlussgründe nach Absatz 3 vorliegen. Absatz 2 regelt, dass eine Verhinderung unverzüglich beim Landesjustizprüfungsamt geltend zu machen und nachzuweisen ist. Der Nachweis ist im Fall einer Krankheit grundsätzlich durch ein Zeugnis eines Landgerichtsarztes oder eines Gesundheitsamts zu erbringen, das in der Regel nicht später als am Prüfungstag ausgestellt sein darf.
40
Die Klägerin wurde am ersten Prüfungstag bei der Amtsärztin vorstellig. Das amtsärztliche Zeugnis vom 27. November 2018 legte die Klägerin dem Beklagten vor. Dieser erachtete das Attest als nicht ausreichend.
41
Ob das amtsärztliche Attest vom 27. November 2018 als ausreichender Nachweis im Sinne des § 10 Abs. 2 Satz 2 JAPO zu sehen gewesen wäre, kann dahingestellt bleiben, da maßgeblicher Zeitpunkt für die gerichtliche Beurteilung der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ist. Nach ständiger Rechtsprechung des BVerwG (siehe u.a. BVerwG, U.v. 31. 3. 2004 - 8 C 5/03; BVerwG, U.v. 3.11.1987 - 9 C 254/86; BVerwG, U.v. 21. 5. 1976 - 4 C 80/74 - juris) ergibt sich für die Frage des richtigen Zeitpunkts für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage für Anfechtungsklagen wie für Verpflichtungsklagen aus dem Prozessrecht nur, dass ein Kläger im verwaltungsgerichtlichen Rechtsstreit mit einem Aufhebungsbegehren nur dann Erfolg haben kann, wenn er im Zeitpunkt der letzten gerichtlichen Entscheidung einen Anspruch auf die erstrebte Aufhebung des Verwaltungsaktes hat. Eine Anfechtungsklage kann nur dann begründet sein, wenn im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung der Kläger einen Anspruch auf die Aufhebung des angegriffenen Verwaltungsaktes hat, weil dieser rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt (BeckOK, VwGO, Posser/Wolff, 49. Edition, Stand: 01.04.2019, § 113 Rn. 21). Im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung erwies sich der Verwaltungsakt jedoch als rechtmäßig, da ein inhaltlich prüfungsrelevantes Dauerleiden besteht, das nicht zu einem Prüfungsrücktritt berechtigt.
42
Nur wenn wegen der gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Aussagewert einer Prüfungsleistung für die Feststellung der „wahren“ Kenntnisse und Fähigkeiten des Prüflings erheblich eingeschränkt ist und die derzeitige Prüfung damit ihren Zweck verliert, Aufschluss über seine Befähigung für einen bestimmten Beruf oder für eine bestimmte Ausbildung zu geben, ist es gerechtfertigt und zur Wahrung der Chancengleichheit geboten, die Prüfung abzubrechen und den Prüfling noch einmal zu prüfen (Niehues/Fischer/Jeremias, Prüfungsrecht, 7. Auflage 2018, Rn. 257). Eine zum Rücktritt berechtigende Prüfungsunfähigkeit im Rechtssinne liegt grundsätzlich bei Dauerleiden, deren Behebung nicht in absehbarer Zeit erwartet werden kann, nicht vor (VGH Mannheim, B.v. 2.4.2009 - 9 S 502/09 - juris). Dauerleiden prägen als persönlichkeitsbedingte Eigenschaften die Leistungsfähigkeit des Prüflings. Ihre Folgen bestimmen deshalb im Gegensatz zu sonstigen krankheitsbedingten Leistungsminderungen das normale Leistungsbild des Prüflings. Sie sind mithin zur Beurteilung der Befähigung bedeutsam, die durch die Prüfung festzustellen ist. Der in Art. 3 Abs. 1 GG verankerte prüfungsrechtliche Grundsatz der Chancengleichheit lässt es daher nicht zu, eine von den Auswirkungen eines Dauerleidens betroffene Prüfungsleistung unberücksichtigt zu lassen (BVerwG, B.v. 13.12.1985 - 7 B 210/85 - juris).
43
Die chronische Dysphonie der Klägerin hat psychische Ursachen. Sie ist aus den oben bereits dargestellten Gründen als inhaltlich prüfungsrelevantes Dauerleiden zu sehen. Die Klägerin war nicht aufgrund von Prüfungsunfähigkeit zum Rücktritt von der Prüfung berechtigt. Ihre Prüfung war deshalb mit der Note „ungenügend 0 Punkte“ zu bewerten.
44
2. Es besteht auch kein Anspruch der Klägerin auf Wiederholung der streitgegenständlichen Prüfung zur Korrektur von Prüfungsmängeln.
45
Die Wiederholung der Prüfung kommt als Maßnahme zur Korrektur von Mängeln im Prüfungsverfahren in Betracht, die mit oder ohne Rüge des Prüflings von der Prüfungsbehörde von Amts wegen oder durch das Gericht festgestellt werden und infolgedessen zu beheben sind. In dem Fall eines fehlerhaften „Ermittlungsverfahrens“ (Verfahrensfehler) ist regelmäßig das Leistungsbild verfälscht, sodass die Grundlage für eine korrekte Leistungsbewertung fehlt. Die Prüfung muss in diesem Fall wiederholt werden (Niehues/Fischer/Jeremias, Prüfungsrecht, 7. Auflage 2018, Rn. 758 f.). Ein fehlerhafter Nachteilsausgleich würde einen Verfahrensfehler darstellen und wäre mittels einer Prüfungswiederholung zu beheben. Der Klägerin wurde, siehe oben, jedoch ein ausreichender Nachteilsausgleich ihrer körperlichen Beeinträchtigung gewährt, sodass die Prüfung 2018/2 an keinerlei Verfahrensmängeln litt. Die Nichtablegung der Prüfung führte dementsprechend zur Bewertung „ungenügend 0 Punkte“.
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Nach alledem waren die Klagen abzuweisen.
47
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 161 Abs. 1, 154 Abs. 1 VwGO.