Inhalt

LSG München, Urteil v. 11.04.2019 – L 16 AS 627/17
Titel:

Grundsicherung für Arbeitsuchende: Sachlicher und zeitlicher Anwendungsbereich der Fiktion des § 41a Abs. 5 S. 1 SGB II

Normenketten:
SGB II § 41a Abs. 5, § 80 Abs. 2 Nr. 1
SGG § 96
Leitsätze:
1. Die Übergangsregelung des § 80 Abs. 2 Nr. 1 SGB II ist bezüglich der Fiktion des § 41 a Abs. 5 SGB II auch auf die Bewilligungszeiträume anwendbar, die vor dem 01.08.2016 beendet waren.
2. Ein fiktiv und endgültiger gewordener Bescheidd ersetzt den vorläufigen und wird Gegenstand des Gerichtsverfahrens gegen den vorläufigen Bescheid.
3. Höhere Leistungen können im Gerichtsverfahren zugesprochen werden.
Nach dem bis zum 31.07.2016 geltenden Recht (§ 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II i.V.m. § 328 SGB III) gilt für vorläufig bewilligte Leistungen, deren Bewilligungszeiträume vor dem 01.08.2016 beendet waren, nach der Übergangsvorschrift in § 80 Abs. 2 Nr. 1 SGB II die Vorschrift des § 41a Abs. 5 S. 1 SGB II mit der Maßgabe, dass die Jahresfrist mit dem 1.08.2016 beginnt und die vorläufig bewilligten Leistungen nach Ablauf dieser Jahresfrist als abschließend festgesetzt gelten. Diese Fiktionsregelung ist auch auf Bewilligungszeiträume anwendbar, die vor dem 1.08.2016 beendet waren (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Grundsicherung, Fiktion, Vorläufige Festsetzung, Endgültige Festsetzung, Übergangsregelung, Bewilligungszeitraum
Vorinstanz:
SG München, Urteil vom 29.09.2016 – S 46 AS 489/14
Rechtsmittelinstanz:
BSG Kassel, Beschluss vom 10.12.2019 – B 14 AS 59/19 BH
Fundstelle:
BeckRS 2019, 22486

Tenor

I. Auf die Berufung wird das Urteil des Sozialgerichts München vom 29. September 2016, betreffend das ursprüngliche Verfahren S 46 AS 489/14 aufgehoben, sowie der Bescheid des Beklagten vom 24.01.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.02.2014, in der Fassung des Bescheides vom 11.06.2014, abgeändert. Der Beklagte wird verurteilt, der Klägerin für die Zeit von Februar bis Juli 2014 monatlich weitere Leistungen in Höhe von 94,69 € zu zahlen.
II. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
III. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1
Zwischen den Beteiligten ist die Höhe der für den Zeitraum von Februar bis Juli 2014 zu gewährenden Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II), insbesondere die Übernahme von Einlagerungskosten und die Anrechnung von Einkommen, streitig.
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Die 1963 geborene Klägerin ist österreichische Staatsangehörige und war im streitigen Zeitraum selbständig als Trainerin und Reiseleiterin tätig. Sie erhielt vom Beklagten Leistungen nach dem SGB II.
3
Die Klägerin bezog ab 01.03.2010 eine Ein-Zimmer-Wohnung mit ca. 30 m² in der H-Straße in R-Stadt. Zu der Wohnung gehörte laut Mietvertrag vom 24.02.2010 ein Kellerabteil. Für diese Wohnung betrug die Miete ab dem 01.03.2013 310 € zuzüglich Vorauszahlungen für Heizung und Warmwasser in Höhe von 30 € und eine Vorauszahlung auf die übrigen Betriebskosten in Höhe von 45 € (insgesamt monatlich 385 €).
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Am 30.12.2013 beantragte die Klägerin die Weitergewährung der laufenden Leistungen ab Februar 2014. Neben der Miete für ihre Wohnung machte sie 475 US Dollar für einen Lagerraum in den USA als Kosten der Unterkunft geltend. Sie legte eine Anlage EKS zur Tätigkeit als Trainerin für Berufsorientierung vor.
5
Der Beklagte forderte die Klägerin u.a. auf, eine Anlage EKS auch für ihre Tätigkeit als Reiseleiterin sowie die Kontoauszüge für die Monate Oktober bis Dezember 2013 vorzulegen.
6
Mit Bescheid vom 24.01.2014 bewilligte der Beklagte Leistungen nach dem SGB II für die Zeit von Februar bis Juli 2014 in Höhe von monatlich 681,31 € vorläufig. Kosten der Unterkunft wurden in Höhe von 385 € anerkannt. Die Vorläufigkeit beruhte auf den Einnahmen aus selbstständiger Tätigkeit. Das bereinigte zu berücksichtigende Gesamteinkommen betrug monatlich 94,69 €.
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Am 12.02.2014 legte die Klägerin Widerspruch ein und machte insbesondere geltend, dass die Übernahme der Lagerkosten in den USA wieder fehle.
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Mit Widerspruchsbescheid vom 14.02.2014 wurde der Widerspruch zurückgewiesen. Die Klägerin habe einen vorläufigen Anspruch auf Leistungen in Höhe von 681,33 €. Einlagerungskosten für die Gegenstände in den USA seien nicht als Bedarf zu berücksichtigen. Einkommen werde in Höhe von 94,67 € berücksichtigt, da die Klägerin in ihrer vorläufigen Erklärung zum Einkommen aus selbstständiger Tätigkeit Betriebseinnahmen in Höhe von 1181,25 € prognostiziert habe. Im Bewilligungsbescheid sei ein monatlich um 2 Cent zu niedriger Leistungsanspruch festgesetzt worden. Zur Änderung der vorläufigen Bewilligung fehle es jedoch an einem Rechtsschutzbedürfnis.
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Am 24.02.2014 erhob die Klägerin Klage zum Sozialgericht München (Az.: S 48 AS 489/14).
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Am 05.05.2014 wurde die Klägerin zu einem Meldetermin am 15.05.2014 eingeladen. Im Rahmen des Fallmanagements wollte der Beklagte ein weiteres persönliches Gespräch führen. In dem Schreiben wurde darauf hingewiesen, dass das Arbeitslosengeld II um 10% des maßgebenden Regelbedarfs für die Dauer von drei Monaten gemindert werde, wenn die Klägerin ohne wichtigen Grund der Einladung nicht Folge leiste. Dem Schreiben war eine Rechtsfolgenbelehrung beigefügt. Nachdem die Klägerin zu diesem Termin nicht erschien, hörte der Beklagte sie mit Schreiben vom 16.05.2014 zum möglichen Eintritt einer Sanktion an. Hierauf äußerte sich die Klägerin nicht.
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Mit Bescheid vom 11.06.2014 wurde der Regelbedarf der Klägerin erneut um 10%, d.h. 39,10 €, für die Zeit von Juli bis September 2014 unter Aufhebung der bisher ergangenen Bescheide gemindert, da die Klägerin den Meldetermin am 15.05.2014 nicht wahrgenommen habe. Die Leistungen der Klägerin wurden um 39,10 € gemindert, sie erhielt monatlich 642,21 € ausbezahlt.
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Mit Beschluss vom 03.09.2014 verband das Sozialgericht München die Streitsachen S 46 AS 1278/14, S 46 AS 2017/12, S. 46 2018/12, S 46 AS 2993/12, S 46 AS 393/13, S 46 AS 2639/13, S 46 AS 2727/13, S 46 AS 3033/13, S 46 AS 3112/13, S 46 AS 48/14, S 46 AS 158/14, S 46 AS 489/14, S 46 AS 666/14 und S 46 AS 1195/14 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung und führte die Verfahren unter dem Aktenzeichen S 46 AS 1278/14 fort.
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Mit Urteil vom 29.09.2016 wies das Sozialgericht unter Ziffer IV die Klage im ursprünglichen Verfahren S 46 AS 489/14 ab. Es legte den Antrag der Klägerin sinngemäß dahingehend aus, dass diese beantragt habe, den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 24.01.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.02.2014 zu verurteilen, der Klägerin höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II für den Leistungszeitraum 01.02.2014 bis 31.07.2014 unter Berücksichtigung der Einlagerungskosten in den USA, der prognostizierten Personalkosten und der Telefonkosten zu gewähren. Der Beklagte habe korrekt und ausführlich dargestellt, dass der Bescheid vom 24.01.2014 rechtmäßig sei. Es hat daher zur Darstellung der Entscheidungsgründe gemäß § 136 Abs. 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auf die zutreffenden Gründe des Widerspruchsbescheides vom 14.02.2014 verwiesen.
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Gegen Ziffer „IV. des Urteils“ hat die Klägerin Berufung zum Bayerischen Landessozialgericht erhoben.
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Mit Beschluss vom 22.08.2017 hat der Senat die durch Beschluss des Sozialgerichts München vom 03.04.2014 verbundenen Streitsachen getrennt. Die Berufung bezüglich der Streitsache S 46 AS 489/14 wird unter dem Aktenzeichen L 16 AS 627/17 fortgeführt.
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Der ehemalige Prozessbevollmächtigte der Klägerin hat zur Berufungsbegründung vorgetragen, dass die ursprünglich vorläufig bewilligten Leistungen gemäß § 41a Abs. 5 Satz 1 SGB II zwischenzeitlich als endgültig festgesetzt zu betrachten seien. Die streitigen Bescheide seien in mehrfacher Hinsicht insbesondere hinsichtlich der nicht gewährten Einlagerungskosten und des angesetzten Einkommens aus selbstständiger Tätigkeit rechtswidrig. Das tatsächliche Einkommen der Klägerin ergebe sich aus der als Anlage beigefügten abschließenden EKS. Er hat eine Anfrage der Klägerin in den USA über die „storage fee“ für die Jahre 2006 bis 2017, sowie die abschließende EKS für die Zeit von Februar 2014 bis Juli 2014 vorgelegt. Hiernach war die Klägerin als Reiseleitung und Trainerin tätig. Sie hat Betriebseinnahmen in Höhe von insgesamt 897,80 € angegeben, denen sie Betriebsausgaben in Höhe von insgesamt 572,51 € gegenübergestellt hat. Als Betriebsausgaben hat sie u.a. Raumkosten von insgesamt 58,43 € angegeben. Auf Nachfrage hat sie erklärt, dass es sich hierbei um Energiekosten für ihre eigene Wohnung handle. Sie hat als weitere Betriebsausgaben Beratungskosten von 59,50 € geltend gemacht. Zu den Beratungskosten hat die Klägerin in der Anlage EKS vermerkt, dass diese sich auf eine Strafanzeige wegen Urkundenunterdrückung im Jobcenter beziehen würden.
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Der ehemalige Prozessbevollmächtigte der Klägerin hat beantragt,
den Beklagten unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts München vom 29.09.2016 hinsichtlich des ursprünglich unter dem Aktenzeichen S 46 AS 489/14 geführten Rechtsstreits und unter Abänderung des Bescheides vom 24.01.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.02.2014 zu verurteilen, der Klägerin für den Zeitraum 01.02.2014 bis 31.07.2014 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
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Der Beklagte hat beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
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Er hat ausgeführt, dass die Regelung des § 41a Abs. 5 Satz 1 SGB II zur Folge habe, dass der vorläufige Verwaltungsakt ohne jedes Tätigwerden der Beteiligten sein Wesen verändere und zum endgültigen Verwaltungsakt werde. Dies solle zugunsten wie zulasten des Berechtigten gelten, mit der Folge, dass der Leistungsberechtigte nach Ablauf der Jahresfrist keine Nachzahlung mehr verlangen könne, selbst wenn im Rahmen der vorläufigen Entscheidung nachweislich eine zu niedrige Leistung festgesetzt worden sei. Den Einwänden der Klägerin hinsichtlich der Höhe der Leistungen wäre damit die Grundlage entzogen.
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Zur Ergänzung des Sachverhaltes wird auf die beigezogene Verwaltungsakte des Beklagten sowie auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die Berufung der Klägerin ist gemäß §§ 143,151 SGG zulässig und teilweise begründet.
22
Das Urteil des Sozialgerichts München vom 29.09.2016 ist, soweit es die ursprünglich unter dem Aktenzeichen S 46 AS 489/14 erhobene Klage betrifft, aufzuheben und der Bescheid des Beklagten vom 24.01.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.02.2014 in der Fassung des (Sanktions-) Bescheides vom 11.06.2014 ist abzuändern.
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Die Klägerin hat Anspruch auf höhere Leistungen nach dem SGB II für die Zeit von Februar bis Juli 2014, ihr stehen monatlicih um 94,69 € höhere Leistungen zu.
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1. Die Klägerin verfolgt ihr Begehren zu Recht im Wege einer statthaften Anfechtungs- und Leistungsklage hinsichtlich des Bescheides vom 24.01.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.02.2014, in der Fassung des (Sanktions-) Bescheides vom 11.06.2014.
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2. Die streitgegenständlichen Leistungen nach dem SGB II gelten als endgültig festgesetzt. Nach dem bis zum 31.07.2016 geltenden Recht (§ 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II i.V.m. § 328 SGB III) gilt für vorläufig bewilligte Leistungen, deren Bewilligungszeiträume vor dem 01.08.2016 beendet waren, nach der mit dem Neunten Gesetz zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch vom 26.07.2016 (BGBl. I 1824) eingeführten Übergangsvorschrift in § 80 Abs. 2 Nr. 1 SGB II die Vorschrift des § 41a Abs. 5 S. 1 SGB II mit der Maßgabe, dass die Jahresfrist mit dem 01.08.2016 beginnt und die vorläufig bewilligten Leistungen nach Ablauf dieser Jahresfrist als abschließend festgesetzt gelten. Die Übergangsregelung des § 80 Abs. 2 Nr. 1 SGB II ist bezüglich der Fiktionsregelung des § 41a Abs. 5 S. 1 SGB II auch auf Bewilligungszeiträume anwendbar, die vor dem 01.08.2016 beendet waren (vgl. auch Grote-Seifert in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Aufl. 2015, § 80, Rn. 10; Kemper in Eicher/Luik, SGB II, 4. Aufl.2017, § 80, Rn. 10). Der Gesetzgeber wollte mit dieser Übergangsregelung auch für Bewilligungszeiträume, die vor dem 01.08.2016 beendet waren, die Jahresfrist nach § 41a Abs. 5 S. 1 SGB II zum 31.07.2017 begrenzen. Erst ab diesem Zeitpunkt sollten die bisher vorläufig bewilligten Leistungen als abschließend festgesetzt gelten, sofern keine Entscheidung nach § 41a Abs. 3 SGB II ergangen ist. Dies bestätigt die Gesetzesbegründung, die die Anwendbarkeit des § 41a SGB II auch für bereits beendete Bewilligungszeiträume vorsieht (BT-Drs. 18/8041, S. 62). Nach der Intention des Gesetzgebers sollte die Übergangsregelung in § 80 Abs. 2 Nr. 1 SGB II lediglich verhindern, dass die Fiktionswirkung des § 41a Abs. 5 Satz 1 SGB II bereits mit Inkrafttreten des 9. SGB II-Änderungsgesetzes dazu führt, dass alte Bewilligungszeiträume als endgültig festgesetzt gelten. Darin liegt kein Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot. Die Leistungen waren bisher nur vorläufig festgesetzt, ein Vertrauensschutz bestand nicht. Auch ein Verstoß gegen das Geltungszeitraumprinzip ist nicht erkennbar. Diese Auffassung widerspricht schließlich nicht den Ausführungen im Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 12.09.2018, B 4 AS 39/17 R. Dort führt das BSG aus, dass § 41a Abs. 3 SGB II auf vor dem 01.08.2016 beendete Bewilligungszeiträume nicht anwendbar ist. Zur Anwendung des § 41a Abs. 5 i.V.m. § 80 Abs. 2 Nr. 1 SGB II macht das BSG keine Ausführungen (vgl. BSG, aaO, Rn. 33, 34).
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3. Die Klägerin hat Anspruch auf höhere Leistungen nach dem SGB II.
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3.1 Der Überprüfung des Leistungsanspruchs der Klägerin steht § 41a Abs. 5 S. 1 SGB II nicht entgegen. Streitgegenstand des Gerichtsverfahrens war zunächst die Gewährung von höheren vorläufigen Leistungen. Der Bescheid vom 24.01.2014, mit dem die Leistungen vorläufig gewährt wurden, veränderte durch die Fiktion nach § 41a Abs. 5 i.V.m. § 80 Abs. 2 Nr. 1 SGB II sein Wesen. Er gewährt nunmehr endgültige Leistungen. Durch den Eintritt der Fiktion erledigt sich die vorläufige Entscheidung (vgl. Kemper a.a.O., § 41a, Rn. 64). Der fiktiv endgültig gewordene Bescheid „ersetzt“ den vorläufigen. Im Ergebnis unterscheidet sich dies nicht grundlegend von der Situation, in der die Behörde einen endgültigen Bescheid erlässt, der nach der Rechtsprechung des BSG den vorläufigen Bescheid ersetzt und gemäß § 96 SGG Gegenstand des bereits anhängigen Gerichtsverfahrens wird (vgl. z.B. BSG, Urteil vom 10.05.2011 - B 4 AS 139/10 R -, SozR 4-4200 § 11 Nr. 38, Rn. 13). § 41a Abs. 5 S. 1 SGB II ist nicht als Regelung zu verstehen, die die gerichtliche Überprüfung eines durch gesetzliche Fiktion endgültig gewordenen Bescheides ausschließt, wenn dieser Bescheid bereits Gegenstand eines Gerichtsverfahrens ist. Eine solche Intention des Gesetzgebers lässt sich weder dem Wortlaut noch der Gesetzesbegründung entnehmen. Soweit es in der Gesetzesbegründung heißt, dass die leistungsberechtigte Person nach Fristende keine Nachzahlung mehr geltend machen kann (vgl. BT-Drs. 18/8041, 54), bezieht sich dies jedenfalls nicht auf (zunächst vorläufige) Bescheide, die noch nicht gemäß § 77 SGG bindend und Gegenstand eines noch anhängigen Gerichtsverfahrens sind. Eine derartige Einschränkung wäre schon aus verfassungsrechtlichen Gründen nur in engen Grenzen möglich und müsste ausdrücklich durch den Gesetzgeber erfolgen. Sie widerspräche zudem § 96 SGG.
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3.2 Die Klägerin erfüllt die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 iVm § 19 Satz 1 SGB II. Gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II erhalten Leistungen nach diesem Buch Personen, die das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht vollendet haben (Nr. 1), erwerbsfähig (Nr. 2) und hilfebedürftig (Nr. 3) sind sowie ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (Nr. 4). Die Klägerin ist insbesondere hilfebedürftig iS des § 9 Abs. 1 SGB II, weil sie ihren Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, vor allem nicht durch Aufnahme einer zumutbaren Arbeit, aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern konnte und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen erhielt. Als Einkommen sind nach § 11 Abs. 1 S. 1 SGB II zu berücksichtigen Einnahmen in Geld oder Geldeswert abzüglich der nach § 11b SGB II abzusetzenden Beträge mit Ausnahme der in § 11a SGB II jeweils in der Fassung vom 13.05.2011 genannten Einnahmen.
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3.3 Der Bedarf der Klägerin beträgt im streitigen Zeitraum 776 €. Er setzt sich zusammen aus dem Regelbedarf nach § 20 Abs. 2 S. 1 SGB II und den Bedarf für Unterkunft und Heizung gemäß § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II. Der Regelbedarf betrug im Jahr 2014 monatlich 391 € (Bekanntmachung über die Höhe der Regelbedarfe nach § 20 Abs. 5 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch für die Zeit ab 01.01.2014 vom 16.10.2013, Bundesgesetzblatt I 3857). Bedarfe für Unterkunft und Heizung werden gemäß § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen anerkannt, soweit diese angemessen sind. Ist es wegen der Größe der konkreten Unterkunft erforderlich, vorübergehend nicht benötigten, angemessenen Hausrat und persönliche Gegenstände anderweitig unterzubringen, können auch die angemessenen Kosten einer Einlagerung Teil der Unterkunftskosten sein (BSG, Urteil vom 16.12.2008, B 4 AS 1/08 R, Rn. 12). Zweck der Vorschrift des § 22 Abs. 1 SGB II ist es, die existenziell notwendigen Bedarfe der Unterkunft sicherzustellen. Die Unterkunft muss daher auch sicherstellen, dass der Leistungsberechtigte seine persönlichen Gegenstände verwahren kann. Deshalb kann es Konstellationen geben, in denen der angemietete Wohnraum so klein ist, dass für die Unterbringung von Gegenständen aus dem persönlichen Lebensbereich des Hilfebedürftigen in einem angemessenen Umfang zusätzliche Räumlichkeiten erforderlich sind. Wird der dem Leistungsberechtigten zugebilligte Standard in einem solchen Maße unterschritten, dass der Leistungsberechtigte nicht mehr als ein „Dach über dem Kopf“ hat, entspricht es den Zielsetzungen des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II, den zuzubilligenden Standard gegebenenfalls durch die Anmietung eines weiteren Raumes sicherzustellen, wenn hierdurch die Kosten der Unterkunft nicht unangemessen im Sinne des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II sind (BSG, a.a.O. Rn. 16).
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Die Klägerin hat nach § 22 Abs. SGB II einen Bedarf in Höhe von 385 € (Grundmiete 310 €, Heizkosten 30 €, Nebenkosten 45 €). Weitere Kosten, insbesondere Einlagerungskosten von Hausrat in den USA, sind nicht Teil der Kosten gemäß § 22 Abs. 1 SGB II. Zum einen hat die Klägerin bereits nicht nachgewiesen, dass ihr im streitigen Zeitraum Einlagerungskosten tatsächlich entstanden sind. Eine Rechnung der mit der Einlagerung ihres Hausrates betrauten Firma hat sie nicht vorgelegt. Zum anderen ist nicht ersichtlich, dass der Wohnraum der Klägerin so klein war, dass in ihrer Wohnung bzw. in dem dazugehörigen Kellerraum nicht ausreichend Platz für ihren Hausrat gewesen wäre. Damit scheidet die Übernahme weiterer Kosten der Unterkunft und Heizung aus.
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Anhaltspunkte für das Bestehen eines Mehrbedarfes gemäß § 21 SGB II sind nicht vorhanden.
32
3.4 Die Klägerin erzielte im streitigen Zeitraum kein anrechenbares Einkommen, auch wenn die Energiekosten für die Wohnung und die geltend gemachten Beratungskosten nicht als Betriebsausgaben anerkannt werden. Insoweit ist die Berufung begründet.
33
Der Senat legt bei der Berechnung des Einkommens aus selbstständiger Tätigkeit die von der Klägerin angegebenen Betriebseinnahmen von 897,80 € zugrunde und zieht Betriebsausgaben in Höhe von 454,58 € ab. Nicht als Betriebsausgaben anzuerkennen sind die Energiekosten der eigenen Wohnung in Höhe von 58,43 € sowie Beratungskosten von 59,50 €. Die Beratungskosten sind offensichtlich im Zusammenhang mit dem Leistungsbezug nach dem SGB II entstanden und nicht aufgrund der selbstständigen Tätigkeit. Bei den Kosten für Haushaltsenergie „ohne die auf Heizung entfallenden Anteile“ handelt es sich um einen Bedarf, der von der Regelleistung umfasst ist (Behrend in: Schlegel/ Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Aufl. 2015, § 20, Rn. 41). Daher können grundsätzlich betrieblich bedingte Energiekosten als Betriebsausgaben berücksichtigt werden. Die Klägerin hat die Energiekosten nicht näher erläutert und keine Nachweise vorgelegt, dass die geltend gemachten Betriebskosten betrieblich bedingt sind.
34
Dies ergibt im streitigen Zeitraum ein Einkommen in Höhe von insgesamt 443,22 € bzw. von monatlich 73,87 € (§ 3 Abs. 1, 2 und 4 Arbeitslosengeld II/Sozialgeld-Verordnung - Alg II-V in der Fassung vom 21.06.2011).
35
Von diesem Einkommen ist der Grundfreibetrag in Höhe von 100 € nach § 11b Abs. 2 S. 1 SGB II abzuziehen. Nach Abzug des Grundfreibetrags ergibt sich kein anzurechnendes Einkommen.
36
Die Klägerin erhielt im Februar 2014 eine Gutschrift des Versorgungsunternehmens für Strom. Diese Einnahme bleibt gemäß § 22 Abs. 3, 2. HS SGB II außer Betracht.
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3.5 Im Juli 2014 hat die Klägerin Anspruch auf um 39,10 € geminderte Leistungen, da der Beklagte mit Bescheid vom 11.06.2014 das Arbeitslosengeld II der Klägerin in nicht zu beanstandender Weise um 10% minderte. Der Bescheid vom 11.06.2014 wurde hinsichtlich des Monats Juli 2014 gemäß § 96 SGG Gegenstand der am 24.02.2014 erhobenen Klage gegen den Bescheid vom 24.01.2014, da er den angefochtenen Verwaltungsakt abändert.
38
3.5.1 Nach § 32 SGB II mindert sich das Arbeitslosengeld II jeweils um 10% des nach § 20 maßgebenden Regelbedarfs, wenn Leistungsberechtigte trotz schriftlicher Belehrung über die Rechtsfolgen oder deren Kenntnis eine Aufforderung des zuständigen Trägers, sich bei ihm zu melden, nicht nachkommen. Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt. Ein Meldeversäumnis liegt bereits dann vor, wenn der Hilfebedürftige am vorgesehenen Tag nicht bei der in der Meldung bezeichneten Stelle persönlich erschienen ist. Die Klägerin ist zu dem Meldetermin nicht erschienen. Ein wichtiger Grund für das Nichterscheinen liegt nicht vor. Ein solcher wurde weder vorgetragen noch ist er ersichtlich. Die Meldeaufforderung enthielt eine ordnungsgemäße Rechtsfolgenbelehrung bei Nichterscheinen zum Termin (vgl. BSG, Urteil vom 16.12.2008, B 4 AS 60/07 R). Sie informierte konkret, einzelfallbezogen, verständlich, richtig und vollständig über die Folgen des Nichterscheinens zum Meldetermin.
39
3.5. Dem ungedeckten Bedarf der Klägerin in Höhe von 776 € für die Monate Februar bis Juni 2014 und den um 10% der Regelleistung geminderten Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II für den Monat Juli 2014 in Höhe von 736,90 stehen bewilligte Leistungen in Höhe von 681,33 € für Februar bis Juni 2014 (Widerspruchsbescheid vom 14.02.2014) und von 642,21 € für Juli 2014 (Sanktionsbescheid vom 11.06.2014) gegenüber. Damit hat die Klägerin Anspruch auf höhere Leistungen von monatlich 94,69 € für die Monate Februar bis Juli 2014.
40
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG. Dabei hat der Senat berücksichtigt, dass die Klägerin erst im Berufungsverfahren Angaben zur Höhe ihres Einkommens aus selbständiger Tätigkeit gemacht hat.
41
Gründe die Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG zuzulassen sind nicht ersichtlich.