Inhalt

VGH München, Beschluss v. 26.07.2019 – 11 CS 19.1093
Titel:

Entziehung der Fahrerlaubnis

Normenketten:
StVG § 2 Abs. 9,§ 3 Abs. 1 S. 1
FeV § 11 Abs. 8 S. 1, 14 Abs. 1 S. 2, 46 Abs. 1 S. 1, Abs. 3
VwGO § 146 Abs. 4 S. 6
Leitsatz:
Hält die Fahrerlaubnisbehörde ein für den Betreffenden positives Gutachten für nicht nachvollziehbar, kann sie nicht ihre, regelmäßig nicht von ärztlicher Fachkunde getragene Auffassung an die Stelle des ärztlichen Gutachtens setzen, sondern muss beim Gutachter nachfragen und ggf. eine Nachbesserung des Gutachtens verlangen.
Schlagworte:
Entziehung der Fahrerlaubnis, Drogenbesitz, Nachvollziehbarkeit des ärztlichen Gutachtens, Fahrerlaubnis
Vorinstanz:
VG München vom 15.05.2019 – M 6 S 19.1168
Fundstellen:
VRS , 307
DÖV 2019, 885
BayVBl 2020, 100
DAR 2019, 648
LSK 2019, 17491
BeckRS 2019, 17491
ZfS 2019, 596

Tenor

I. Der Beschluss des Verwaltungsgerichts München vom 15. Mai 2019 wird in Ziffer I. und II. aufgehoben. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen Nr. 1 und 2 des Bescheids der Landeshauptstadt München vom 15. Februar 2019 wird wiederhergestellt.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 8.750,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.
1
Der 1982 geborene Antragsteller wendet sich gegen die sofortige Vollziehbarkeit der Entziehung seiner Fahrerlaubnis der Klassen A, A1, AM, B, C, C1 und L.
2
Das Amtsgericht München verurteilte den Antragsteller am 3. Mai 2018 wegen eines Vergehens nach § 29 des Betäubungsmittelgesetz (BtMG). Dem lag zu Grunde, dass der Antragsteller am 3. Juni 2017 gegen 6.45 Uhr vor einer Diskothek 0,52 Gramm Kokaingemisch mit einem Wirkstoffgehalt von 40% Cocain-Hydrochlorid mit sich führte, ohne die dafür erforderliche Erlaubnis zu besitzen.
3
Am 20. Juni 2018 forderte ihn die Antragsgegnerin daraufhin auf, binnen drei Monaten ein ärztliches Gutachten einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle vorzulegen. Es sei zu klären, ob er Kokain, andere Betäubungsmittel im Sinne des BtMG oder andere psychoaktiv wirkende Stoffe einnimmt oder einnahm. Dazu seien eine Haaranalyse von mind. drei Zentimetern sowie zwei Urinscreenings erforderlich. Am 27. August 2018 erklärte der Antragsteller sein Einverständnis mit der Begutachtung und benannte eine Begutachtungsstelle. Nachdem erst am 16. Oktober 2018 ein Begutachtungstermin stattfand, verlängerte die Antragsgegnerin die Vorlagefrist entsprechend.
4
Mit dem Gutachten der B. Gesundheitsvorsorge und S. GmbH vom 19. November 2018 wurde auf Basis zweier Urinuntersuchungen vom 25. Oktober und 6. November 2018 sowie einer Haaranalyse vom 16. Oktober 2018 festgestellt, dass der Antragsteller kein Kokain oder andere Betäubungsmittel oder psychoaktiv wirkende Stoffe einnimmt oder einnahm. Gemäß der durchgeführten Drogenanamnese habe der Antragsteller keine Angaben zu dem Vorfall vom 3. Juni 2017 gemacht, sondern nur angegeben, er habe noch nie Drogen genommen. Er habe eine Strafe bezahlt, damit sei die Sache erledigt. Ein Drogentest sei an diesem Tag nicht gemacht worden. Eine mangelnde Mitwirkung des Antragstellers wird vom Gutachter nicht gerügt.
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Mit Schreiben vom 28. November 2018 hörte die Antragsgegnerin den Antragsteller zur Entziehung seiner Fahrerlaubnis an. Er habe an der Gutachtenserstellung nicht hinreichend mitgewirkt, da er keine Angaben zu dem Vorfall vom 3. Juni 2017 gemacht habe. Eine Anfrage beim Gutachter oder ein Verlangen nach Nachbesserung des Gutachtens erfolgte nicht.
6
Mit Bescheid vom 15. Februar 2019 entzog die Antragsgegnerin dem Antragsteller die Fahrerlaubnis aller Klassen und ordnete unter Androhung eines Zwangsgelds die Ablieferung des Führerscheins innerhalb einer Woche sowie die sofortige Vollziehung an. Der Antragsteller sei ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen, da er an der Begutachtung nicht hinreichend mitgewirkt habe.
7
Mit dem gegen den Bescheid vom 15. Februar 2019 erhobenen Widerspruch legte der Antragsteller noch eine Haaranalyse der Forensisch T. C. GmbH vom 11. September 2018 vor. Danach ist Drogenfreiheit von Juni bis August 2018 nachgewiesen. Über den Widerspruch hat die Regierung von Oberbayern nach Aktenlage noch nicht entschieden. Ob der Antragsteller seinen Führerschein abgegeben hat, lässt sich den Behördenakten nicht entnehmen.
8
Den Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs gegen den Bescheid vom 15. Februar 2019 hat das Verwaltungsgericht München mit Beschluss vom 15. Mai 2019 abgelehnt. Die Entziehung der Fahrerlaubnis sei rechtmäßig. Der Antragsteller sei der rechtmäßigen Beibringungsanordnung nicht ausreichend nachgekommen. Die vorgelegten Haar- und Urinanalysen belegten nicht abschließend, dass der Antragsteller keine Betäubungsmittel eingenommen habe. Um den geforderten wissenschaftlichen Grundsätzen zu genügen, müsse im Gutachten zwischen der Anamnese und dem gegenwärtigen Befund unterschieden werden. Hier sei die Drogenanamnese nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden. Die Beantwortung der behördlichen Fragestellung im Gutachten dahingehend, dass der Untersuchte kein Kokain genommen habe, sei angesichts der fehlenden Äußerung des Antragstellers zu dem anlassgebenden Vorfall nicht nachvollziehbar. Die Eignungsfrage könne deshalb nicht als durch das Gutachten abschließend geklärt betrachtet werden. Er habe auch keine einjährige Abstinenz geltend gemacht.
9
Dagegen wendet sich der Antragsteller mit seiner Beschwerde, der die Antragsgegnerin entgegentritt. Er macht geltend, er habe hinreichend mitgewirkt und ausgeführt, dass er noch nie, also auch nicht am 3. Juni 2017, Drogen genommen habe. Über den Verwendungszweck der mitgeführten Drogen habe er keine Angaben machen müssen. Dies ergebe sich schon aus den Aussageverweigerungsrechten der StPO. Die Begutachtung sei eindeutig. Der Antragsteller habe nichts zu verbergen und habe noch eine zusätzliche Haaranalyse vorgelegt.
10
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen und die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
II.
11
Die Beschwerde, bei deren Prüfung der Verwaltungsgerichtshof gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO auf die form- und fristgerecht vorgetragenen Gründe beschränkt ist, hat Erfolg. Bei summarischer Prüfung ist der Bescheid vom 15. Februar 2019 rechtswidrig und verletzt den Antragsteller in seinen Rechten. Der Beschluss des Verwaltungsgerichts ist daher in Ziffern I. und II. aufzuheben.
12
1. Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 des Straßenverkehrsgesetzes vom 5. März 2003 (StVG, BGBl I S. 310), zuletzt geändert durch Gesetz vom 8. April 2019 (BGBl I S. 430), und § 46 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr vom 13. Dezember 2010 (Fahrerlaubnis-Verordnung - FeV, BGBl I S. 1980), zuletzt geändert durch Verordnung vom 4. Juli 2019 (BGBl I S. 1056), hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich deren Inhaber als ungeeignet oder nicht befähigt zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken begründen, dass der Inhaber einer Fahrerlaubnis zum Führen eines Kraftfahrzeugs ungeeignet oder bedingt geeignet ist, finden die §§ 11 bis 14 FeV entsprechend Anwendung (§ 3 Abs. 1 Satz 3 i.V.m. § 2 Abs. 8 StVG, § 46 Abs. 3 FeV). Nach § 14 Abs. 1 Satz 2 FeV kann die Beibringung eines ärztlichen Gutachtens angeordnet werden, wenn der Betroffene Betäubungsmittel im Sinne des Betäubungsmittelgesetzes widerrechtlich besitzt oder besessen hat. Nach § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV darf die Fahrerlaubnisbehörde bei ihrer Entscheidung auf die Nichteignung des Betroffenen schließen, wenn er sich weigert, sich untersuchen zu lassen, oder wenn er das von ihr geforderte Gutachten nicht fristgerecht beibringt. Der Schluss aus der Nichtvorlage eines angeforderten Fahreignungsgutachtens auf die fehlende Fahreignung ist gerechtfertigt, wenn die Anordnung formell und materiell rechtmäßig, insbesondere anlassbezogen und verhältnismäßig war (stRspr, vgl. BVerwG, U.v. 17.11.2016 - 3 C 20.15 - NJW 2017, 1765 Rn. 19 m.w.N.).
13
Übereinstimmend gehen die Beteiligten zutreffend davon aus, dass die Antragsgegnerin aufgrund des Vorfalls vom 3. Juni 2017 nach § 14 Abs. 1 Satz 2 FeV ein ärztliches Gutachten im Ermessen anordnen konnte. Die Antragsgegnerin kann dem Antragsteller aber nicht gestützt auf § 11 Abs. 8 FeV die Fahrerlaubnis entziehen, weil sie der Auffassung ist, er habe an der Gutachtenserstellung nicht hinreichend mitgewirkt, denn dies steht nach dem Inhalt des Gutachtens nicht fest. Im Rahmen eines Entziehungsverfahrens ist es Sache der Fahrerlaubnisbehörde, die Tatsachen zu ermitteln, die Zweifel an der Fahreignung rechtfertigen. Der Betroffene ist grundsätzlich nur verpflichtet, an der Aufklärung von aus bekannten Tatsachen resultierenden Eignungszweifeln mitzuwirken (vgl. BayVGH, B.v. 25.4.2016 - 11 CS 16.227 - juris Rn. 17; B.v. 20.7.2016 - 11 CS 16.1157 - juris Rn. 16). Steht, aus welchen Gründen auch immer, nicht fest, ob der Betreffende geeignet oder ungeeignet ist, so kann die Fahrerlaubnis nicht entzogen werden (vgl. OVG RhPf, B.v. 21.7.2009 - 10 B 10508/09 - Blutalkohol 46, 436 = juris Rn. 10). Hier kann dem vorgelegten Gutachten nicht entnommen werden, dass der Antragsteller ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen ist oder an der Begutachtung nicht hinreichend mitgewirkt hat. Der Antragsteller hat sich untersuchen lassen und das geforderte Gutachten fristgerecht beigebracht. Er hat die angeordneten Haar- und Urinanalysen durchführen lassen und bei der Drogenanamnese angegeben, er habe noch nie Drogen konsumiert. Mit dem in den Akten enthaltenen Polizeibericht vom 21. Juni 2017 und dem Strafbefehl vom 19. Juli 2017, auf dem das Urteil des Amtsgerichts München vom 30. Mai 2018 beruht, ist auch nicht festgestellt worden, dass der Antragsteller bei dem Vorfall am 3. Juni 2017 erkennbar unter Drogeneinfluss gestanden oder angegeben hat, die aufgefundenen Drogen dienten dem Eigenbedarf, sodass kein Widerspruch zwischen den Angaben des Antragstellers und der Aktenlage besteht. Angaben dazu, zu welchem konkreten Zweck der Antragsteller im Juni 2017 Drogen mit sich geführt hat, gehören nicht zur Drogenanamnese und wurden vom Gutachter auch nicht weiter hinterfragt. Der Gutachter selbst ist, trotz der Weigerung des Antragstellers, weitere Angaben zum Vorfall vom 3. Juni 2017 zu machen, nicht davon ausgegangen, dass mangels hinreichender Mitwirkung im Sinne der „Kriterien der Hypothese 0“ der von der Deutschen Gesellschaft für Verkehrspsychologie und der Deutschen Gesellschaft für Verkehrsmedizin herausgegebenen Beurteilungskriterien - Urteilsbildung in der Fahreignungsbegutachtung (3. Aufl. 2013, S. 113 ff.) eine Gutachtenserstellung nicht möglich sei, sondern er hat das Gutachten erstellt und die gestellten Fragen beantwortet.
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Hält die Fahrerlaubnisbehörde ein für den Betreffenden positives Gutachten für nicht nachvollziehbar, so wie hier die Antragsgegnerin, kann sie nicht ihre, regelmäßig nicht von ärztlicher Fachkunde getragene Auffassung an die Stelle des ärztlichen Gutachtens setzen, sondern muss beim Gutachter nachfragen und ggf. eine Nachbesserung des Gutachtens verlangen. Dies hat die Antragsgegnerin nicht getan. Es ist auch nicht ersichtlich, dass einem solchen Vorgehen durchgreifende Gründe entgegengestanden hätten. Ohne weitere Ermittlungen durfte die Antragsgegnerin dem Antragsteller auf der Basis des vorgelegten Gutachtens die Fahrerlaubnis daher nicht entziehen. Nur wenn der Gutachter selbst zutreffend von mangelnder Mitwirkung ausgeht (vgl. OVG SH, U.v. 15.4.2014 - 12 LB 64/13 - DAR 2014, 475) und deshalb ein negatives Gutachten erstellt, ist eine Entziehung der Fahrerlaubnis gerechtfertigt.
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2. Teilt die Widerspruchsbehörde die Zweifel an der Nachvollziehbarkeit des Gutachtens und hält es darüber hinaus für unschädlich, dass bei der Gutachtenserstellung offenbar Unterlagen verwertet worden sind, die Vorfälle aus dem Jahr 1999 betreffen und nach § 2 Abs. 9 StVG schon längst aus der Behördenakte hätten entfernt werden müssen, so obliegt es ihr, nunmehr beim Gutachter diesbezüglich nachzufragen. Sollte der Gutachter dann entgegen seiner ursprünglichen Auffassung davon ausgehen, dass die Angabe des Antragstellers, er habe noch nie Drogen eingenommen, ohne die Umstände des Drogenbesitzes im Jahr 2017 über die mit dem Urteil vom 30. Mai 2018 getroffenen Feststellungen hinaus zu erläutern, für eine Drogenanamnese nicht ausreicht und insoweit eine mangelnde Mitwirkung vorliegt, so wäre nunmehr wohl ein Drogenabstinenzprogramm anzuordnen. Mit der vorgelegten Haarprobe der Forensisch T. C. GmbH ist hinreichend belegt, dass der Antragsteller zumindest seit Juni 2018 und damit seit über einem Jahr keine Drogen mehr einnimmt. Es ist nicht ersichtlich, dass der Antragsteller, dem die Fahrerlaubnis nach § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV entzogen worden ist, schlechter gestellt werden dürfte als eine Person, bei der ein früherer Drogenkonsum feststeht und bei der nach Ablauf einer glaubhaften Abstinenzzeit von einem Jahr regelmäßig ein Drogenabstinenzprogramm anzuordnen ist (vgl. BayVGH, B.v. 19.6.2019 - 11 CS 19.936 - juris Rn. 28 m.w.N.).
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
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Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 3, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. den Empfehlungen in Nr. 1.5 Satz 1, 46.1, 46.3 und 46.4 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 (abgedruckt in Kopp/Schenke, VwGO, 24. Aufl. 2018, Anh. § 164 Rn. 14).
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).