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BayObLG, Beschluss v. 06.05.2019 – 201 ObOWi 276/19
Titel:

Unzulässiges Absehen von Regelfahrverbot aufgrund Opportunitätserwägungen

Normenketten:
GG Art. 3 Abs. 1
OWiG § 47, § 67 Abs. 2, § 73 Abs. 2, § 79 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, Abs. 3 S. 1, Abs. 5, Abs. 6, § 80a Abs. 1
StVO § 37 Abs. 2 Nr. 1, Nr. 2, Abs. 3, § 49 Abs. 3 Nr. 1 StVO
StVG § 24, § 25 Abs. 1 S. 1, § 26a
BKatV § 1 Abs. 1, § 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, S. 2
Leitsatz:
Dem Opportunitätsgedanken sind insbesondere in den Fällen eines nach der Vorbewertung des Verordnungsgebers über die §§ 24, 25 Abs. 1, 1. Alt., 26a StVG i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 1 bis 4 BKatV tatbestandlich einen groben Pflichtenverstoß indizierenden Verstoßes Grenzen gesetzt. Denn die in diesem Bereich ansetzende und von den Rechtsbeschwerdegerichten zu überwachende Bindung der Sanktionspraxis ist Ausdruck einer allgemein anerkannten Anwendungsschranke des Opportunitätsgrundsatzes, nämlich der gerade im Straßenverkehrsrecht anzustrebenden Gleichbehandlung aller Verkehrsteilnehmer und damit der Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit staatlichen Reaktionshandelns, von der nur in begründeten Ausnahmefällen abgewichen werden darf.
Schlagworte:
Fahrverbot, Regelfall, Pflichtenverstoß, grob, Rechtsbeschwerde, Rechtsfolgenausspruch, Absehen, Härtefall, Rotlichtverstoß, qualifiziert, Sachbeschädigung, Opportunitätsgrundsatz, Opportunitätsprinzip, Opportunitätsermessen, Zweckmäßigkeit, Verfahrenseinstellung, Eigenschaden, Willkürverbot, Gleichheitssatz, Schranken, Vorbewertung, Regelfahrverbot, Opportunitätsgedanke, grober Pflichtenverstoß, Gleichbehandlung, Verkehrsteilnehmer, Kraftfahrzeugführer, Verletzung der Pflichten
Fundstelle:
BeckRS 2019, 17049

Tenor

I. Auf die Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Amtsgerichts vom 04.12.2018 mit den Feststellungen aufgehoben.
II. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an eine andere Abteilung des Amtsgerichts zurückverwiesen.

Gründe

I.
1
Das Amtsgericht hat gegen die Betroffene wegen eines am 30.06.2018 innerorts mit einem Pkw begangenen fahrlässigen Rotlichtverstoßes mit unfallbedingter Sachbeschädigung (§ 24 Abs. 1 StVG i.V.m. §§ 37 Abs. 2 Nr. 1 Sätze 7, 11, Nr. 2, Abs. 3; 49 Abs. 3 Nr. 2 StVO) eine Geldbuße von 240 Euro festgesetzt. Von der Anordnung eines wegen dieser Tat im Bußgeldbescheid vom 14.08.2018 neben einer dort festgesetzten Geldbuße in gleicher Höhe vorgesehenen einmonatigen Fahrverbots hat es demgegenüber abgesehen. In der in erlaubter Abwesenheit der Betroffenen (§ 73 Abs. 2 OWiG) durchgeführten Hauptverhandlung vom 04.12.2018 beschränkte die dort für die Verteidigerin der Betroffenen auftretende und mit einer schriftlichen Untervollmacht ausgestattete unterbevollmächtigte Verteidigerin den Einspruch auf den Rechtsfolgenausspruch. Mit ihrer zu Ungunsten der Betroffenen eingelegten Rechtsbeschwerde rügt die Staatsanwaltschaft die Verletzung materiellen Rechts. Sie beanstandet, dass das Amtsgericht von der Verhängung eines an sich nach den §§ 24, 25 Abs. 1 Satz 1 [1. Alt.], 26 a StVG i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 mit Satz 2 BKatV i.V.m. lfd. Nr. 132.2 BKat verwirkten einmonatigen Regelfahrverbots abgesehen hat.
II.
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Die gemäß § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 OWiG statthafte und auch im Übrigen zulässige, insbesondere fristgerecht eingelegte und begründete, schon aufgrund der wirksamen Einspruchsbeschränkung (§ 67 Abs. 2 OWiG) auf den Rechtsfolgenausspruch nur noch diesen betreffende Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft ist begründet, weil die Begründung, mit der das Amtsgericht von der Anordnung eines Fahrverbots abgesehen hat, einer rechtlichen Überprüfung nicht standhält.
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1. Aufgrund der Feststellungen des Amtsgerichts kam gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BKatV i.V.m. lfd. Nr. 132.2 der Anlage zu § 1 Abs. 1 BKatV die Anordnung eines Regelfahrverbots wegen grober Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers in der Regel in Betracht. Dies hat das Amtsgericht zwar nicht verkannt, jedoch von der Anordnung eines Fahrverbots (ohne gleichzeitige Erhöhung des als Regelsatz vorgesehenen Bußgeldes von 240 Euro) im Wesentlichen mit der Begründung abgesehen, dass aufgrund der Einlassung der Betroffenen „ein Tatnachweis […] nur durch die Vernehmung“ des geschädigten 82-jährigen Unfallgegners „zu führen gewesen wäre“, da die Personalien zweier in der Akte erwähnter „unbeteiligten Zeugen […] weder polizei- noch aktenkundig“ gemacht worden seien. Der als Zeuge an sich zur Verfügung stehende (betagte) Unfallgegner habe dem Gericht jedoch mitgeteilt, „dass er wegen Erkrankung zum Gerichtstermin nicht erscheinen könne“ und dies mit einem Attest belegt; der Zeuge befinde sich nach eigenen Angaben, die von seiner Ehefrau im Rahmen eines Telefonats mit dem Vorsitzenden bestätigt worden seien, in einem langwierigen Rekonvaleszenzprozess, wobei dieser Zustand bis auf weiteres anhalte. Insgesamt sei deutlich geworden, „dass die Zeugenladung für den Zeugen […] stark belastend“ sei. Vor diesem Hintergrund sei der Betroffenen vom Gericht in Aussicht gestellt worden, „dass bei Beschränkung [des Einspruchs] auf die Rechtsfolgen“ nur „die Regelgeldbuße verhängt, aber […] von einem Fahrverbot“ abgesehen werde. Im Übrigen sei sich das Amtsgericht durchaus darüber bewusst, dass die Anforderungen für ein Absehen vom Regelfahrverbot wegen unzumutbarer Härte „nicht erfüllt“ bzw. „nicht festgestellt“ seien; „ob derartige Feststellungen noch getroffenen werden könnten“, sei „nicht bekannt“. Gleichwohl werde die Auffassung vertreten, dass der das Bußgeldverfahren beherrschende Opportunitätsgrundsatz bei der gegebenen Sachlage, insbesondere auch eine „unverhältnismäßige Belastung von Zeugen in Bagatellfällen“, ein Absehen vom Fahrverbot rechtfertigen könne. Im Übrigen folge dies schon daraus, dass diese Umstände sogar eine Verfahrenseinstellung begründen könnten, weshalb sie „erst Recht“ ein Absehen von einem an sich verwirkten Regelfahrverbot rechtfertigen könnten. Schließlich habe die bislang unauffällige Betroffene durch den Unfall einen nicht unerheblichen Eigenschaden erlitten.
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2. Diese Begründung für ein Absehen vom an sich verwirkten Regelfahrverbot hält einer rechtlichen Überprüfung nicht stand, weil das Amtsgericht die für seine Rechtsfolgenentscheidung allein gültigen ‚bekannten‘ Maßstäbe verkannt und diese in unzulässiger Art und Weise mit hier nicht maßgeblichen und deshalb rechtsfehlerhaften Erwägungen zu Geltung und Umfang des Opportunitätsgrundsatzes vermengt hat.
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a) Zwar ist richtig, dass § 47 OWiG nach allgemeiner Meinung als zentraler Ausdruck des das Ordnungswidrigkeitenrecht dominierenden Opportunitätsgrundsatzes anzusehen ist. Allerdings verkennt das Amtsgericht bei seinen von hier aus abgeleiteten weiteren Thesen schon, dass hier gerade keine Entscheidung über eine Einstellung des Verfahrens, also über die Verfolgung der Verkehrsordnungswidrigkeit als solcher, zu treffen war, was im Übrigen ein Einvernehmen mit der Staatsanwaltschaft geboten hätte.
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b) Verkannt wird ferner, dass die pflichtgemäße Ausübung des Opportunitätsermessens weit, jedoch nicht ‚frei‘ ist. Neben den allgemeinen, u.a. aus dem Willkürverbot und dem Gleichheitssatz folgenden Schranken, sind gerade bei der Verfolgung von massenhaft im Straßenverkehr begangenen Ordnungswidrigkeiten vielmehr die vorhandenen gesetzlichen Vorbewertungen zu beachten mit der Folge, dass es etwa eine Gleichheit im Unrecht und ein hieraus abgeleiteter Anspruch auf Nichtverfolgung und damit Nichtahndung auch im Verkehrsordnungswidrigkeitenrecht nicht geben kann, mag es auch ‚nur‘ um die Verfolgung und Ahndung von Ordnungswidrigkeiten gehen und jedenfalls prinzipiell unter der Geltung des Opportunitätsprinzips im Einzelfall auch Zweckmäßigkeitsgesichtspunkte - u.a. ein bestimmter Ermittlungs- oder Aufklärungsaufwand - Verfolgungswille und -dichte mitbeeinflussen können. Nur in diesem Sinne entfaltet der das Bußgeldverfahren umspannende Grundsatz der Opportunität seine Wirksamkeit bis in das gerichtliche Verfahren hinein und bleibt etwa auch dann wirksam, wenn es um die Frage geht, ob bestimmte Teile einer Tat von der Verfolgung ausgeschlossen werden sollen (vgl. hierzu z.B. die Darstellungen bei Göhler/Seitz/Bauer OWiG 17. Aufl. [2017] § 47 Rn 4 ff., 24 ff., 30 ff.; Rebmann/Roth/Herrmann [26. Aktualisierung 2018] § 47 Rn 1, 6 f., 9; BeckOK/Bücherl [Stand: 15.03.2019] § 47 Rn 3, 14 f.; KK/Mitsch OWiG 5. Aufl. [2018] § 47 Rn. 4 ff., 17 ff. und Burhoff [Hrsg.]/Gieg, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 5. Aufl. [2018], Rn. 1033 ff., jeweils m.w.N.).
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c) Wie dargelegt, ist die Ausübung pflichtgemäßen Ermessens im Rahmen des Opportunitätsgrundsatzes weit, jedoch nicht schrankenlos. Dies bedeutet, dass unter der Geltung des mit Verfassungsrang ausgestatteten allgemeinen Willkürverbots (Art. 3 Abs. 1 GG) die Ermessensausübung ausnahmslos auf sachlich begründbare Kriterien zurückführbar sein muss und schon der bloße Anschein einer unsachgemäßen Ausübung zu vermeiden oder gegebenenfalls durch einen entsprechenden Begründungsaufwand zu rechtfertigen ist (Göhler/Seitz/Bauer § 47 Rn 6 ff.; BeckOK/Bücherl § 47 Rn 8 ff.; Rebmann/Roth/Herrmann § 47 Rn 11 ff.; Bohnert/Krenberger/Krumm OWiG 5. Aufl. [2018] § 47 Rn 5 f.; Burhoff/Gieg a.a.O. Rn. 1037).
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d) Diese Grenze einer sachlich vertretbaren Entscheidung ist hier allerdings schon deshalb überschritten, weil das Amtsgericht zu Unrecht meint, über die Rechtsfolgen eines ‚Bagatellfalles‘ zu befinden, wovon freilich auf dem weiten Feld der Verkehrsordnungswidrigkeiten eingedenk der Kategorisierungen der Bußgeldkatalogverordnung und des Bußgeldkataloges und der dort vorgesehenen Regelgeldbußen regelmäßig nur für Verstöße unterhalb der Eintragungsfähigkeit ausgegangen werden könnte (Burhoff/Gieg a.a.O. Rn. 1044 ff.).
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e) Vor allem aber hat das Amtsgericht verkannt, dass dem Opportunitätsgedanken insbesondere in den Fällen eines - wie hier - nach der Vorbewertung des Verordnungsgebers über die §§ 24, 25 Abs. 1, 1. Alt., 26a StVG i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 1 bis 4 BKatV tatbestandlich einen groben Pflichtenverstoß indizierenden Verstößen, zu denen nicht zuletzt auch bestimmte Rotlichtverstöße (vgl. § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 i.V.m. lfd. Nrn. 132.1, 132.2 [mit Gefährdung bzw. Sachbeschädigung], 132.3 [Rotphase länger als 1 Sekunde] oder 132.3.1, 132.3.2 BKat [Rotphase länger als 1 Sekunde mit Gefährdung bzw. Sachbeschädigung]) zählen, Grenzen gesetzt sind. Denn die in diesem Bereich praktizierte und von den Rechtsbeschwerdegerichten zu überwachende Bindung der Sanktionspraxis ist wiederum signifikanter Ausdruck einer allgemein anerkannten Anwendungsschranke des Opportunitätsgrundsatzes, nämlich der gerade im Straßenverkehrsrecht anzustrebenden Gleichbehandlung aller Verkehrsteilnehmer (Anwendungsgleichheit) und damit der Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit staatlichen Reaktionshandelns, von der nur in begründeten Ausnahmefällen, etwa bei Eingreifen des rechtsstaatlichen Übermaßverbotes oder bei einer Kumulation sonstiger Milderungsgründe, von einem an sich verwirkten Regelfahrverbot abgewichen werden darf (Burhoff/Gieg a.a.O. Rn. 1044 f.; ähnlich Göhler/Seitz/Bauer § 47 Rn. 33).
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3. Hinreichende Gründe dieser Art (hier: Nicht unerheblicher eigener Sachschaden der bislang verkehrsrechtlich nicht in Erscheinung getretenen und zumindest teilgeständigen Betroffenen) zeigen die Feststellungen und Wertungen des Amtsgerichts - wie es selbst konstatiert - allerdings auch in der Zusammenschau der Urteilsgründe gerade nicht auf, weshalb diesen und etwaigen weiter hinzutretenden Umstände gegebenenfalls in einer neuen Verhandlung nachzugehen sein wird.
III.
11
Nach alledem ist auf die nur noch den Rechtsfolgenausspruch betreffende Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft das angefochtene Urteil mit den diesem zugrunde liegenden Feststellungen sowie in der Kostenentscheidung aufzuheben (§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, § 353 StPO).
12
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an eine andere Abteilung des Amtsgerichts zurückverwiesen (§ 79 Abs. 6 OWiG).
IV.
13
Der Senat entscheidet durch Beschluss gemäß § 79 Abs. 5 Satz 1 OWiG.
14
Gemäß § 80a Abs. 1 OWiG entscheidet der Einzelrichter.