Titel:
Verfolgung wegen homosexueller Neigung in Marokko
Normenkette:
AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, § 3c Nr. 3
Leitsatz:
Offen gelebte Homosexualität birgt in Marokko ein erhebliches Gefährdungspotenzial für - vornehmlich auch, aber nicht nur - staatliche Verfolgung in sich und dieses Potenzial kann sich im Einzelfall zu einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit asyl- bzw. flüchtlingsrelevanter Bedrohung verdichten. (Rn. 35) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Marokko, Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, Homosexualität, lesbische Freundinnen, drohende Anzeige bei Polizei, drohende Zwangsverheiratung, Schläge und sonstige Repressionen durch nichtstaatliche Akteure (wie Vater, Verlobter), Situation von Homosexuellen im Marokko, beachtlich wahrscheinliche Verfolgungsgefahr, ernsthafte Gefahr für Homosexuelle, Verzicht auf Ausleben der Homosexualität nicht zumutbar, verheimlichen der Homosexualität in Vergangenheit unschädlich, sexuelle Identität, soziale Gruppe
Fundstelle:
BeckRS 2019, 16489
Tenor
I. Die Nummern 1 und 3 bis 6 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 15. März 2019 werden aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
II. Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.
Tatbestand
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Die Klägerin, marokkanische Staatsangehörige, reiste nach eigenen Angaben am 17. November 2018 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 27. Februar 2019 einen Asylantrag. Zur Begründung des Asylantrages gab die Klägerin im Wesentlichen an: Sie habe Beziehungen zu anderen lesbischen Frauen gehabt. Im September 2018 seien sie und ihre Freundin im Bett im Hause der Familie vom Vater erwischt worden. Der Vater habe verlangt, dass sie einen anderen Mann heirate. Sie sei von ihrem Vater sowie von dem anderen Mann geschlagen worden. Diese hätten auch gedroht, sie bei der Polizei anzuzeigen. Sie sei zu ihrer Freundin gegangen und sei schließlich ausgereist. Im Sommer 2011 seien der Klägerin ihre sexuellen Neigungen bewusstgeworden.
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Mit Bescheid vom 15. März 2019 erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft nicht zu (Nr. 1), lehnte den Antrag auf Asylanerkennung ab (Nr. 2) und erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Nr. 3). Weiter stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4). Die Klägerin wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung, im Falle der Klageerhebung innerhalb von 30 Tage nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens, zu verlassen. Die Abschiebung nach Marokko oder in einen anderen Staat wurde angedroht (Nr. 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6). Zur Begründung ist im Wesentlichen ausgeführt: Unabhängig vom Wahrheitsgehalt ihres Sachvortrags habe die Klägerin im Rahmen der Schilderung zum Ausreisegrund trotz mehrerer Nachfragen kein aktuelles, konkretes, individuelles Verfolgungsschicksal darlegen können. Homosexualität, die im privaten Bereich ausgelebt werde, werde nur in Ausnahmefällen strafrechtlich verfolgt. Hinsichtlich der Repressalien durch den Vater und den in Rede stehenden Mann, mit dem die Klägerin verheiratet werden sollte, sei der Sachvortrag jedoch zu vage, detailarm und unsubstanziiert. Zudem habe sie ihren Sachvortrag gesteigert. Schließlich fehle ein zeitlicher Kausalzusammenhang zwischen den Schlägen bzw. den Drohungen und der Ausreise. Die Klägerin habe sogar noch Zeit gehabt, ein Visum zu beantragen. Die Klägerin sei wegen ihrer homosexuellen Neigung auch nicht vorbehaltlos von der Familie verurteilt worden. Bruder, Mutter und Schwester hätten keine Probleme mit der sexuellen Ausrichtung. Die Mutter habe sogar Verständnis. Bei einer Rückkehr sei davon auszugehen, dass die Klägerin - wenn überhaupt - ihrer sexuellen Neigung weiterhin wie seit Sommer 2012 im Verborgenen nachgehen werde. Von einer konkreten Zwangsheirat könne nicht die Rede sein. Der Klägerin stehe auch eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung. Dort könne sie auch das erforderliche Existenzminimum erlangen.
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Am 22. März 2019 ließ die Klägerin Klage gegen den streitgegenständlichen Bescheid erheben.
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Mit Schriftsatz vom 9. April 2019 ließ die Klägerin zur Klagebegründung im Wesentlichen ausführen: Die Klägerin habe ihr Herkunftsland verlassen, um enormen Repressionen und Verfolgung von staatlicher Seite und von seitens nichtstaatlicher Akteure zu entgehen. Die Klägerin habe einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe. Der Klägerin drohten aufgrund ihrer homosexuellen Neigung und sexuellen gleichgeschlechtlichen Orientierung im Falle einer Rückkehr nach Marokko mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erhebliche Verfolgungsmaßnahmen. In Marokko seien homosexuelle Handlungen mit Strafe bedroht. Die Klägerin habe glaubhaft und äußerst detailreich im Rahmen der Anhörung geschildert, dass und wie sie homosexuelle Kontakte gepflegt habe und welche Repressionen und Verfolgungshandlungen ihr deshalb drohten. In Deutschland habe sich die Klägerin sofort an den Verein Fliederlich gewandt, um Hilfe zu bekommen. Ein Verheimlichen oder Unterdrücken ihrer untrennbaren schicksalhaften Festlegung könne der Klägerin nicht zugemutet werden. Die Möglichkeit einer verfolgungsvermeidenden Diskretion dürfe nicht berücksichtigt werden. Die Klägerin habe zwangsverheiratet werden sollen. Durch das Erwischtwerden beim Geschlechtsverkehr drohe eine Anzeige. Weiterhin seien private Homophobe Gewalttaten gegenüber der Klägerin real zu befürchten. Kein staatlicher Schutz sei zu erlangen.
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Die Beklagte beantragte mit Schriftsatz vom 27. März 2019,
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Die Kammer übertrug den Rechtstreit mit Beschluss vom 22. März 2019 dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung.
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Mit Beschluss vom 29. April 2019 bewilligte das Gericht der Klägerin Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihrer Prozessbevollmächtigten, soweit dadurch keine weiteren Kosten als durch die Bevollmächtigung eines im Gerichtsbezirk ansässigen Rechtsanwalts entstehen.
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In der mündlichen Verhandlung am 17. Juni 2019 beantragte die Klägerbevollmächtigte,
die Beklagte unter Aufhebung der Nummern 1 und 3 bis 6 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 15. März 2019 zu verpflichten, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen;
hilfsweise der Klägerin den subsidiären Schutz zuzuerkennen;
hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
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Das Gericht hörte die Klägerin informatorisch an.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtakte sowie die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage, über die entschieden werden konnte, obwohl nicht alle Beteiligten in der mündlichen Verhandlung erschienen sind (§ 102 Abs. 2 VwGO), ist zulässig und begründet.
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Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 15. März 2019 ist in seinen Nummern 1 und 3 bis 6 rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO). Die Klägerin hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Aus diesem Grund war der streitgegenständliche Bescheid, wie beantragt, insoweit aufzuheben. Über die hilfsweise gestellten Anträge zum subsidiären Schutz (§ 4 AsylG) und zu den nationalen Abschiebungsverboten (§ 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG) war nicht zu entscheiden.
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Die Klägerin hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG.
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Unter Zugrundelegung des klägerischen Vorbringens sowie unter Berücksichtigung der vorliegenden Erkenntnisquellen steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Klägerin im Falle ihrer Rückkehr nach Marokko flüchtlingsrelevante Verfolgungsmaßnahmen drohen. Nach der in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Überzeugung und insbesondere aufgrund des persönlichen Eindrucks des Gerichts von der Klägerin hat die Klägerin ihr Heimatland aus begründeter Furcht vor politischer Verfolgung verlassen. Gleichermaßen besteht für die Klägerin eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr nach Marokko. Die Würdigung der Angaben der Klägerin ist ureigene Aufgabe des Gerichts im Rahmen seiner Überzeugungsbildung gemäß § 108 VwGO.
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Gemäß §§ 3 ff. AsylG darf ein Ausländer in Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit oder seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Eine Bedrohung liegt dann vor, wenn anknüpfend an Verfolgungsgründe wie die sexuelle Orientierung (vgl. dazu Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 - so genannte Anerkennungsrichtlinie bzw. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG) Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 der Anerkennungsrichtlinie (§ 3a AsylG) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Dabei ist es nicht zumutbar, von homosexuellen Betätigungen Abstand zu nehmen, um nicht verfolgt zu werden (EuGH, U.v. 7.11.2013 - C-199/12 bis C-201/12 - ABl. EU 2014, Nr. C 9 S. 8 - NVwZ 2014, 132; EuGH, U.v. 5.9.2012 - C-71/11 und C-99/11 - ABl. EU 2012, Nr. C 331 S. 5 - NVwZ 2012, 1612).
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Eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit (siehe zum einheitlichen Wahrscheinlichkeitsmaßstab BVerwG, U.v. 1.6.2011 - 10 C 25/10 - BVerwGE 140, 22; U.v. 27.4.2010 - 10 C 5/09 - BVerwGE 136, 377) liegt dann vor, wenn die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Maßgebend ist letztlich, ob es zumutbar erscheint, dass der Ausländer in sein Heimatland zurückkehrt (BVerwG, U.v. 3.11.1992 - 9 C 21/92 - BVerwGE 91, 150; U.v. 5.11.1991 - 9 C 118/90 - BVerwGE 89, 162). Über das Vorliegen einer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit gegebenen Gefahr politischer Verfolgung entscheidet eine wertende Gesamtbetrachtung aller möglichen verfolgungsauslösenden Gesichtspunkte, wobei in die Gesamtschau alle Verfolgungsumstände einzubeziehen sind, unabhängig davon, ob diese schon im Verfolgerstaat bestanden oder erst in Deutschland entstanden und von dem Ausländer selbst geschaffen wurden oder ob ein Kausalzusammenhang zwischen dem nach der Flucht eingetretenen Verfolgungsgrund und entsprechend den schon in dem Heimatland bestehenden Umständen gegeben ist (BVerwG, U.v. 18.2.1992 - 9 C 59/91 - Buchholz 402.25, § 7 AsylG Nr. 1).
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Aufgrund seiner prozessualen Mitwirkungspflicht hat ein Kläger (oder eine Klägerin) seine (ihre) Gründe für seine politische Verfolgung schlüssig und vollständig vorzutragen (§ 25 Abs. 1 und 2 AsylG, § 86 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz VwGO). Er muss unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildern, aus dem sich - als wahr unterstellt - bei verständiger Würdigung die behauptete Verfolgung ergibt. Bei den in die eigene Sphäre des Klägers fallenden Ereignissen, insbesondere seinen persönlichen Erlebnissen, muss er eine Schilderung abgeben, die geeignet ist, den Abschiebungsschutz lückenlos zu tragen. Unauflösbare Widersprüche und erhebliche Steigerungen des Vorbringens sind hiermit nicht vereinbar und können dazu führen, dass dem Vortrag im Ganzen nicht geglaubt werden kann. Bleibt ein Kläger hinsichtlich seiner eigenen Erlebnisse konkrete Angaben schuldig, so ist das Gericht nicht verpflichtet, insofern eigene Nachforschungen durch weitere Fragen anzustellen. Das Gericht hat sich für seine Entscheidung die volle Überzeugung von der Wahrheit, nicht bloß von der Wahrscheinlichkeit zu verschaffen (vgl. hierzu BVerwG, U.v. 16.4.1985 - 9 C 109.84 - BVerwGE 71, 180).
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Der Klägerin ist es gelungen, die für ihre Ansprüche relevanten Gründe in der dargelegten Art und Weise geltend zu machen. Unter Zugrundelegung der Angaben der Klägerin ist eine begründete Gefahr politischer Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit anzunehmen. Gerade durch die persönlichen glaubhaften Angaben der Klägerin in der mündlichen Verhandlung über ihr Schicksal im Zusammenhang mit ihrer Homosexualität hat das Gericht keine Zweifel, dass der Klägerin bei einer Rückkehr in ihr Heimatland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung droht.
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Die Klägerin hat im Gerichtsverfahren, insbesondere im Rahmen der informatorischen Anhörung in der mündlichen Verhandlung ihr Schicksal als Homosexuelle glaubhaft geschildert. Dazu ist zu anzumerken, dass im Lichte der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH, U.v. 2.12.2014 - C-148/13 bis 150/13 - ABl. EU 2015, Nr. C 46 S. 4 - NVwZ 2015, 132) zum einen darauf zu achten war, zu zudringliche, diskriminierende und menschenunwürdige Fragen gerade zum Intimbereich und zu Einzelheiten der sexuellen Erlebnisse zu vermeiden. Zum anderen ist bei der Würdigung der Aussagen der Klägerin zu bedenken, dass angesichts des sensiblen Charakters der Informationen, die die persönliche Intimsphäre einer Person, insbesondere ihre Sexualität, betreffen, allein daraus, dass diese Person, weil sie zögert, intime Aspekte ihres Lebens zu offenbaren und gewisse Sachverhalte gegenüber dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nicht so deutlich bzw. anders angegeben hat, nicht geschlossen werden kann, dass sie deshalb unglaubwürdig ist (vgl. EuGH, U.v. 2.12.2014 - C-148/13 bis 150/13 - ABl. EU 2015, Nr. C 46 S. 4 - NVwZ 2015, 132; siehe auch Gärlich, Anmerkung, DVBl. 2015, 165, 167 ff.). Weiter ist zu bedenken, dass die homosexuelle Entwicklung des Einzelnen und das Offenbaren sowie das Ausleben der Homosexualität individuell sehr unterschiedlich verlaufen und nicht zuletzt von der Persönlichkeitsstruktur des Betroffenen, seiner kulturellen, gesellschaftlichen und auch religiösen Prägung sowie seiner intellektuellen Disposition abhängen (vgl. Berlit, jurisPR-BVerwG 22/2015, Anm. 6).
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Das Gericht hat bei der gebotenen richterlichen Beweiswürdigung aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens die Überzeugung gewonnen, dass die Klägerin tatsächlich homosexuell veranlagt ist und diese homosexuelle Veranlagung schon in der Vergangenheit sowohl in Marokko ausgelebt hat als auch hier in der Bundesrepublik Deutschland auslebt bzw. ausleben will. Sie hat gleichgeschlechtliche Beziehungen zu anderen Frauen unterhalten. Das Gericht hat nicht den Eindruck, dass die Klägerin die Homosexualität nur aus asyltaktischen Gründen vorgibt. Vielmehr sprechen ihre Schilderungen von einem wirklich erlebten Schicksal und Werdegang als Lesbe.
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Die Klägerin hat bei ihrem Vorbringen in der mündlichen Verhandlung nicht bloß abstrakt von einem ausgedachten, flüchtlingsrelevanten Sachverhalt berichtet, sondern in umfangreichen Ausführungen detailreich ihr Schicksal als Homosexuelle geschildert. Anders als bei einem erfundenen Schicksal erwähnte die Klägerin dabei auch immer wieder nebensächliche Details und lieferte so eine anschauliche Schilderung ihrer Erlebnisse. Hinzu kommen die dabei gebrauchte Wortwahl sowie die gezeigte Mimik und Gestik, auch verbunden mit einem Einblick in ihre Gefühlslage und Gedankenwelt. Gerade die nicht verbalen Elemente bei der Aussage (Körpersprache, Gestik, Mimik usw.) sprechen gewichtig für die Ehrlichkeit der Klägerin und für den wahren Inhalt ihrer Angaben. Dabei kommt das Auftreten der Klägerin in der mündlichen Verhandlung und die Art und Weise ihrer Aussage in der Niederschrift über die mündliche Verhandlung nur ansatzweise zum Ausdruck. Erwähnenswert ist des Weiteren, dass die Klägerin bis auf einzelne Worte mit dem Gericht ohne Dolmetscher auf Deutsch kommunizierte. Die Schilderungen und Ausführungen der Klägerin in einer für sie fremden Sprache ist bei der richterlichen Würdigung ebenfalls zu berücksichtigen.
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Die Klägerin schilderte glaubhaft, dass sie schon im Jugendalter mit 14 Jahren festgestellt habe, dass ihr das probehalber Küssen einer Schulfreundin gefallen habe. Demgegenüber habe ihr das Küssen von Jungen missfallen. Sie habe sich über das Internet, konkret über Google, informiert und erfahren, dass lesbische Frauen keinen Sex mit Männern mögen. Sie habe es deshalb probieren wollen. Sie habe den Sex mit dem Jungen aber nicht als schön empfunden. Sie habe sich weiter über Facebook informiert und auch andere lesbische Mädchen gesucht und gefunden und mit diesen gesprochen. Sie habe jemand gesucht, mit dem sie sprechen könne. Mit ihrer Familie oder Schulfreundin habe sie nicht sprechen können. Die Klägerin betonte wiederholt ihre Angst, dass ihre Eltern, insbesondere ihr Vater, sagten, sie sei krank. Sie habe zu dem Zeitpunkt noch nicht gewusst, dass sie lesbisch sei. Sie habe ein schlechtes Gefühl gehabt. Die Personen über Facebook hätten ihr geholfen, ein besseres Gefühl zu erhalten. Sie hätten ihr gesagt, das sei normal. Sie habe weiterhin über Facebook ein Mädchen kennen gelernt. Sie beschrieb, wie es gedauert habe, dass dieses andere Mädchen Vertrauen gefasst habe. Sie beschrieb des Weiteren ausführlich die ersten Kontakte und das erste Treffen, bei dem sie noch schüchtern gewesen seien. Schließlich sei sie mit dieser Freundin ein lesbisches Verhältnis eingegangen. Zu dem Zeitpunkt sei sie 15 Jahre alt gewesen. Das Verhältnis habe ungefähr gedauert bis sie 18 Jahre alt gewesen sei. Sie hätten alles im Heimlichen gemacht. Dabei habe sie kein schlechtes Gewissen gehabt. Ihre Freundin habe zu ihr gesagt, sie brauche kein schlechtes Gewissen haben. Sie seien auch Menschen. Sie seien auch nur ein bisschen anders als die anderen und bräuchten kein schlechtes Gewissen zu haben. Nachdem ihre Freundin in eine weiter entfernte Stadt gezogen sei, hätten sie sich getrennt. Zwei Jahre sei sie allein gewesen. Sie habe dann über Facebook versucht, neue Kontakte zu knüpfen und habe die Bekanntschaft eines neuen Mädchens gemacht. Zu dem Zeitpunkt sei sie 20 Jahre alt gewesen.
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Die Klägerin schilderte weiter, wie der Vater sie im Alter von 21 Jahren mit ihrer Freundin erwischt habe. Er habe die Freundin geschlagen und aus dem Haus geworfen. Die Klägerin beschrieb sowohl verbal als auch nonverbal weiter, dass und wie der Vater sie mit den Händen geschlagen und mit den Füßen getreten und auch an den Haaren gezogen habe. Weiter habe er sie beschimpft.
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Der Vater habe die Mutter aufgefordert, einen Ehemann für die Klägerin zu suchen, sonst würde sie krank, wenn sie so weitermache. Über die Freundin der Mutter sei erst ein Kennenlernen der beiden Familien arrangiert worden. Nachher habe sie sich allein mit ihrem quasi Verlobten getroffen. Die Klägerin betonte auch in dem Zusammenhang, dass sie aus Angst vor den Drohungen weder im allgemeinen Kreis noch dem anderen Jungen persönlich gesagt habe, dass sie lesbisch sei. Der andere Junge habe es aber bei einem weiteren Treffen festgestellt, als er ihr Handy genommen und dort die Kommunikation mit ihren Freundinnen gelesen habe. Der Verlobte habe sie geschlagen, beschimpft und sei auch sehr laut gewesen. Er habe ihr Handy kaputt gemacht und gesagt, dass er nur als Spielzeug benutzt werde. Er habe auch gedroht, zur Polizei zu gehen. Die Klägerin habe große Angst gehabt, dass er zur Polizei gehe. Sie sei dann von daheim weg und zu einer Schulfreundin. Sie habe ihre Ausreise arrangiert. Ihr Bruder, der schon in Deutschland sei, habe ihr dabei geholfen.
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Die Klägerin schilderte weiter, dass sie in dieser Zeit von den Freunden ihres „Verlobten“ mit Steinen und Papier beworfen worden sei, weil er gesagt habe, dass sie lesbisch sei. Die Klägerin antwortete weiter auf entsprechende Frage aufrichtig, dass sie gegebenenfalls in die (aufgezwungene) Heirat eingewilligt hätte und bei einer Rückkehr gegebenenfalls einwilligen würde, weil sie Angst vor dem Vater habe, dass dieser andernfalls ihre Homosexualität anzeige und sie dann ins Gefängnis käme und dort möglicherweise umgebracht werde oder dass der Vater sie als krank bezeichne und in ein Krankenhaus für psychisch Kranke stecke.
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Der Bruder, der ihr geholfen habe, sei erst schockiert gewesen, aber er habe ihr dann geholfen. Genauso habe ihre Schwester ihr in der letzten Zeit geholfen. Auch diese sei zunächst schockiert gewesen, ebenso die Mutter. Auch heute verstehe ihre Mutter das nicht. Nach ihrer Ausreise nach Deutschland habe der Vater die Mutter geschlagen, weil sie noch Kontakt zur Klägerin habe.
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Die Klägerin verdeutlichte weiter, dass sie selbst, wenn das heimliche sexuelle Leben durch den Vater nicht aufgeflogen wäre, dann doch nicht auf Dauer hätte in Marokko bleiben wollen. Sie habe aber nicht in Deutschland um Asyl nachsuchen, sondern hier studieren wollen. Sie habe schon eine entsprechende Zusage einer deutschen Universität gehabt, das marokkanische Konsulat habe aber nicht zugestimmt. Wenn sie zwangsweise zurückmüsste, müsste sie in Angst leben. Sie habe Videos gesehen, in denen sowohl Männer als auch Frauen verurteilt und bestraft worden seien. Sie habe Angst vor den Folgen, wenn herauskäme, dass sie lesbisch sei. Sie könne bei Problemen in Marokko auch nicht zur Polizei gehen. Denn dann würden nicht die anderen Leute ins Gefängnis gehen, sondern sie würde ins Gefängnis gehen.
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Die Klägerin beschrieb weiter - ohne aufzubauschen -, wie sie in Deutschland schon bei der Asylantragstellung den Hinweis auf einen schwul-lesbischen Verein bekommen habe, zu dem sie Kontakt aufgenommen habe. Sie habe sich auch schon mit anderen lesbischen Frauen getroffen und unterhalten, sei aber bislang in Deutschland noch keine neue feste lesbische Beziehung eingegangen, wie sie ehrlich einräumte. Weiter verwies sie in dem Zusammenhang auch auf ihre eingeschränkte Situation in ihrer Unterkunft, gerade als alleinstehende Frau neben männlichen Flüchtlingen aus anderen Staaten.
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Die Klägerin erklärte weiter glaubhaft: Nach dem Abitur sei ihr klargeworden, dass es in Marokko so nicht weitergehe. Sie habe niemand vertrauen können und habe immer Angst gehabt. Sie habe ja gesehen, dass man in Europa und auch in Deutschland normal als Lesbe leben könne. Sie könne heute ihre Sexualität nicht mehr verstecken. Sie habe nicht mehr die Kraft. Sie habe Angst. Sie wolle frei und nicht in Angst leben, so wie alle anderen Menschen auch. Hier in Deutschland wolle sie eine Freundin suchen und ihre Homosexualität auch offen ausleben. Bei einer eventuellen Rückkehr nach Marokko müsste sie heiraten oder ihr Vater würde sie ins Krankenhaus bringen oder bei der Polizei anzeigen. Wenn sie zurückmüsste, würde ihr Vater einen anderen Mann suchen und, wenn sie nicht heiraten würde, dann würde der Vater zur Polizei gehen oder sie ins Krankenhaus bringen. Auch der Verlobte würde zur Polizei gehen.
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Nach dem Gesamteindruck bestehen für das Gericht keine Zweifel an der Richtigkeit der Angaben der Klägerin zu ihrer Homosexualität. Das Gericht ist davon überzeugt, dass die Klägerin die Wahrheit gesagt hat. Das Gericht ist weiter davon überzeugt, dass die Klägerin bei einer Rückkehr nach Marokko mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit Repressionen von Vertretern des Staates bzw. von Privatpersonen zu rechnen hätte, sofern sie ihre Homosexualität und deren Ausleben nicht aus Angst vor Verfolgung unterdrücken und verheimlichen würde. Vor diesem Hintergrund ist es der Klägerin nicht zuzumuten angesichts der in Marokko herrschenden Verhältnisse in ihr Heimatland zurückzukehren.
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Die Klägerin hat ihre sexuelle Identität als Lesbe schlüssig und im Kern widerspruchsfrei dargetan. Sie hat schlüssig dargestellt, wann sie ihre eigene Homosexualität wahrgenommen hat, welche Erfahrungen sie aufgrund dieser Homosexualität in Marokko gemacht hat, wie sie bis zur Ausreise in Marokko gelebt hat, was zur Ausreise geführt hat und wie es nach der Ausreise in Deutschland weitergegangen ist. Die Klägerin hat im Wesentlichen stimmig, detailreich und überzeugend dargelegt, welche Bedrohungen und körperliche Übergriffe, insbesondere durch ihren Vater, aber auch durch ihren Verlobten, sie beim Bekanntwerden ihrer Homosexualität habe erleben müssen. Die Klägerin hat weiter glaubhaft dargelegt, dass sie ihre sexuelle Neigung auch in Marokko ausgelebt hat, auch mit Hinweis auf die von ihr, sowohl über das Internet als auch sonst über die Freundin erhaltene Informationen und auch mt Hinweis auf ihre naturwissenschaftlichen Kenntnisse. Nicht zuletzt betonte die Klägerin, dass es wohl so gewollt sei, dass Menschen auch mit homosexueller Identität geboren würden.
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Homosexuellen droht in Marokko, nach den vorliegenden Informationen aus den Erkenntnisquellen flüchtlingsrelevante Verfolgung.
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LGBTI-Personen sind nach wie vor mit rechtlicher Diskriminierung in Marokko konfrontiert. Homosexuelle Handlungen sind sowohl für Männer als auch für Frauen strafbar. Art. 489 des Strafgesetzbuches sieht für homosexuelle Handlungen Haftstrafen von sechs Monaten bis zu drei Jahren oder eine Geldstrafe vor. In der Praxis wird Homosexualität toleriert, sofern sie privat gelebt wird und es zu keiner Anzeige Dritter kommt. Aus Angst, selbst verhaftet zu werden, vermeiden Homosexuelle die Anzeige von Übergriffen bei der Polizei. Homosexualität wird von Behörden geahndet, wenn es zu Anzeigen kommt. Im März 2016 sind zwei Männer von den Behörden strafrechtlich verfolgt worden, nachdem sie Opfer eines homofeindlichen Angriffs durch Jugendliche geworden sind. Die Männer wurden zu Bewährungsstrafen verurteilt. Mindestens zwei Männer wurden 2017 nach Art. 489 zu sechs Monaten Haft verurteilt. Im Februar 2019 haben marokkanische Behörden eine symbolische Hochzeitsfeier eines homosexuellen Paares in einem Touristenkomplex verhindert, nachdem Anwohner die Polizei anriefen. Acht Personen sollen festgenommen worden sein. Homosexualität ist in der marokkanischen Gesellschaft ein Tabu-Thema. LGBTI-Personen werden oft sozial ausgegrenzt. Die sexuelle Selbstbestimmung wird durch das generelle Verbot außerehelicher einvernehmlicher sexueller Beziehungen sowie durch die generelle Kriminalisierung der Homosexualität stark eingeschränkt. Offen gelebte Homosexualität wird gesellschaftlich nicht toleriert. Homosexualität, die im Privaten gelebt wird, wird in nur Ausnahmefällen strafrechtlich verfolgt, in der Regel auf Anzeige von Familien oder Nachbarn (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Länderreport 11, Algerien, Marokko, Tunesien, Menschenrechtslage, im Fokus: Vulnerable Personen, Stand: 6/2019; Länderreport 2, Marokko, Stand: November 2018; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Königreich Marokko, Stand: November 2018, vom 21.12.2018; BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Marokko vom 10.10.2018; Amnesty International, Jahresbericht Marokko und West-Sahara 2018, Stand: 12/2017).
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Auch wenn nach diesen Erkenntnissen nur wenige Fälle der Verurteilung wegen Homosexualität offiziell dokumentiert sind, ist festzuhalten, dass die Verurteilungen in Marokko nicht statistisch erfasst werden. Nach Aussage von Nichtregierungsorganisationen erfolgen tatsächlich deutlich mehr Verurteilungen (vgl. die Nachweise bei VG Berlin, U.v. 2.5.2019 - 34 K 74.19 A - juris), sodass von einer deutlich höheren Dunkelziffer auszugehen ist. Auch der Umstand, dass im Privaten gelebte Homosexualität in der Regel nur auf Anzeige von Familien und Nachbarn verfolgt wird, führt nicht zu einer anderen Beurteilung. Denn zum einen ist Homosexuellen nicht zuzumuten, ihre sexuelle Orientierung nur im Verborgenen zu leben und damit nicht an die Öffentlichkeit zu gehen. Zum anderen droht Homosexuellen aufgrund des gesellschaftlichen Klimas jederzeit die Anzeige aus ihrem privaten Umfeld heraus. Somit besteht auch kein interner Schutz in anderen Landesteilen. Maßgeblich ist, dass in der Praxis Freiheitsstrafen wegen homosexueller Handlungen verhängt werden und damit die konkrete Gefahr einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung besteht. Anzeigen erfolgen nicht allein aus dem Kreis der Familie, sondern aus Teilen der Öffentlichkeit. Infolgedessen geht die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung von einer flüchtlingsrelevanten Verfolgung Homosexueller in Marokko aus (vgl. zuletzt etwa, jeweils m.w.N., VG Berlin, U.v. 2.5.2019 - 34 K 74.19 A - juris; VG Aachen, U.v. 13.3.2019 - 8 K 4456/17.A - juris).
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Die vorstehend zusammenfassend skizzierte Auskunftslage belegt, dass offen gelebte Homosexualität in Marokko ein erhebliches Gefährdungspotenzial für - vornehmlich auch, aber nicht nur - staatliche Verfolgung in sich birgt und sich dieses Potenzial im Einzelfall zu einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit asyl- bzw. flüchtlingsrelevanter Bedrohung verdichten kann.
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Nach dieser Erkenntnislage droht der Klägerin bei einer Rückkehr flüchtlingsrelevante Verfolgung.
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Die Klägerin hat glaubhaft gemacht, dass sie sexuelle Handlungen vorgenommen hat, die die skizzierten Straftatbestände des marokkanischen Strafrechts erfüllen. Die Klägerin hat überzeugend dargelegt, dass sie schon seit ihrer Jugendzeit homosexuelle Neigungen hat und auch entsprechend homosexuell geprägt ist. Vor diesem Hintergrund kann es ihr nicht verwehrt werden, ihre Homosexualität auszuleben, wie sie dies zum Teil auch schon (wenn auch heimlich) in der Vergangenheit praktiziert hat. Zwar hat sie bisher ihre Homosexualität im Privaten und Verborgenen ausgelebt und bislang nicht die Aufmerksamkeit der marokkanischen Strafverfolgungsbehörden erregt, weil sie ihre Homosexualität sowohl mit Rücksicht auf ihre Familie wegen der fehlenden Akzeptanz sowie auch aus Furcht vor Strafverfolgung bzw. vor Repressionen durch ihren Vater bzw. Verlobten (angedrohte Einweisung in ein Krankenhaus für psychisch Kranke, Schläge, Drohung mit Anzeige) verheimlicht hat. Der unter dem Druck der Verfolgungsgefahr erzwungene Verzicht auf ein Ausleben der Homosexualität bzw. die Unterdrückung und Verheimlichung der eigenen Homosexualität kann der Klägerin jedoch nicht zu ihrem Nachteil angelastet werden. Der Klägerin kann darüber hinaus nicht zugemutet werden, bei einer Rückkehr weiter ihre sexuelle Identität zu verheimlichen oder ihre Zurückhaltung zu üben. Die Klägerin droht bei einer Rückkehr vielmehr verfolgt zu werden, wenn sie sich ihrer Sexualität entsprechend verhalten würde. Eine bisher fehlende staatliche Verfolgung der Homosexualität in Marokko ist unschädlich. Genauso ist unerheblich, dass die Klägerin ehrlich angegeben hat, aus Angst vor den gravierenden Repressionen und Folgen schlimmstenfalls sogar einer Zwangsheirat einzuwilligen. Dies kann ihr bei einer Rückkehr nicht angesonnen und zugemutet werden. Vielmehr sind in der Person der Klägerin gleichwohl die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gegeben.
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Denn die der Klägerin bei einer Rückkehr drohende Verfolgung hat die Qualität einer relevanten Verfolgung i.S. von § 3 ff. AsylG. Die drohenden Verfolgungshandlungen knüpfen an Verfolgungsgründe nach § 3b AsylG an, konkret an § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG. Homosexuelle bilden aufgrund ihrer sexuellen Orientierung und ihrer deutlichen abgegrenzten sexuellen Identität eine bestimmte soziale Gruppe (vgl. EuGH, U.v. 7.11.2013 - C-199/12 bis C-201/12 - ABl. EU 2014, Nr. C 9 S. 8 - NVwZ 2014, 132). Die homosexuelle Ausrichtung der Klägerin ist nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung so bedeutsam und prägend für ihre Identität, dass sie nicht gezwungen werden kann, darauf zu verzichten. Die befürchteten Verfolgungsmaßnahmen knüpfen an ihre geschlechtliche Identität unmittelbar an (vgl. auch Marx, AsylG, 9. Aufl. 2017, § 3b Rn. 22 f.).
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Der Europäische Gerichtshof hat ausdrücklich ausgeführt, dass von einem Asylbewerber nicht erwartet werden kann, dass er seine Homosexualität in seinem Herkunftsland geheim hält oder Zurückhaltung beim Ausleben seiner sexuellen Ausrichtung übt, um die Gefahr einer Verfolgung zu vermeiden. Infolgedessen kann einem Betroffenen auch von deutschen Behörden und Gerichten ein derartiges Verhalten zur Vermeidung von staatlichen Repressionen nicht zugemutet werden (EuGH, U.v. 7.11.2013 - C-199/12 bis C-201/12 - ABl. EU 2014, Nr. C 9 S. 8 - NVwZ 2014, 132; EuGH, U.v. 5.9.2012 - C-71/11 und C-99/11 - ABl. EU 2012, Nr. C 331 S. 5 - NVwZ 2012, 1612; vgl. auch Markard, EuGH zur sexuellen Orientierung als Fluchtgrund, Asylmagazin 12/2013, 402; Titze, Sexuelle Orientierung und die Zumutung der Diskretion, ZAR 2012, 93). Umgekehrt kann einem Homosexuellen nicht als nachteilig entgegengehalten werden, wenn er aus Furcht vor Verfolgung auf eine homosexuelle Betätigung verzichtet, sofern die verfolgungsrelevante homosexuelle Betätigung wie hier die sexuelle Identität des Schutzsuchenden kennzeichnet. Ein so unter dem Druck der Verfolgungsgefahr erzwungener Verzicht auf die betreffende Betätigung kann die Qualität einer Verfolgung erreichen und hindert nicht die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (vgl. so zur religiösen Betätigung BVerwG, B.v. 25.8.2015 - 1 B 40/15 - Buchholz 402.25 § 3 AsylVfG Nr. 19; U.v. 20.2.2013 - 10 C 23/12 - BVerwGE 146, 67; Berlit, jurisPR-BVerwG 22/2015, Anm. 6 und 11/2013, Anm. 1; Marx, Anmerkung, InfAuslR 2013, 308). Aus den gleichen Erwägungen hindert die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht, dass die Klägerin neben der Angst vor Verfolgung durch staatliche Behörden auch schon aus Angst vor ihrer Familie und der drohenden repressiven Folgen in Marokko vor einem Ausleben der Homosexualität ganz absieht bzw. dies tunlichst verheimlicht bzw. sogar schlimmstenfalls in eine Zwangsheirat einwilligen würde (Titze, Sexuelle Orientierung und die Zumutung der Diskretion, ZAR 2012, 93).
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Ergänzend wird noch angemerkt, dass der Klägerin nicht entgegengehalten werden kann, die (bisherige) von ihr angegebene bzw. befürchtete Verfolgung beschränke sich primär auf nichtstaatliche Akteure. Denn zum einen droht Homosexuellen in Marokko - wie bereits ausgeführt und auch von der Klägerin vorgebracht - konkret eine staatliche Strafverfolgung. Abgesehen davon kann zum anderen nach § 3c Nr. 3 AsylG eine Verfolgung auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern der marokkanische Staat wie hier nicht in der Lage und nicht willens ist, hinreichend Schutz vor Verfolgung zu bieten. Homosexuelle haben in Marokko keinen Anspruch auf staatliche Schutzgewährung. Im Gegenteil, der marokkanische Staat würde die Klägerin bei einem Bekanntwerden vielmehr selbst als Homosexuelle verfolgen.
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Gesamtbetrachtet wäre die Klägerin bei einer Rückkehr nach Marokko aufgrund ihrer Homosexualität der ständigen Gefahr einer staatlichen Verfolgung, konkret Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a AsylG ausgesetzt, die wiederum an einem Verfolgungsgrund des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG anknüpfen. Der Klägerin kann weiter nicht zugemutet werden, auf das Ausleben ihrer Homosexualität zu verzichten bzw. entgegen ihrer sexuellen Identität eine Ehe mit einem Mann einzugehen. Ein Schutz durch den marokkanischen Staat ist nicht gegeben. Dies gilt landesweit, so dass es auch keine interne Schutzmöglichkeit gibt. Eine Rückkehr nach Marokko ist der Klägerin unter diesem Vorzeichen nicht zumutbar.
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Nach alledem war der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG zuzuerkennen und der angefochtene Bundesamtsbescheid insoweit in seinen Nummern 1 und 3 bis 6 aufzuheben. Über die hilfsweise gestellten Anträge zum subsidiären Schutz (§ 4 AsylG) sowie zur nationalen Abschiebungsverboten (§ 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG) war nicht zu entscheiden (§ 31 Abs. 3 Satz 2 AsylG).
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Neben der Aufhebung der entsprechenden Antragsablehnung im Bundesamtsbescheid sind auch die verfügte Abschiebungsandrohung und Ausreisefristbestimmung rechtswidrig und daher aufzuheben. Denn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erlässt nach § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 und § 60 Abs. 10 AufenthG die Abschiebungsandrohung nur, wenn der Ausländer nicht als Asylberechtigter anerkannt und ihm die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt wird. Umgekehrt darf im Fall der Flüchtlingszuerkennung eine Abschiebungsandrohung nicht ergehen. Letzteres ist im gerichtlichen Verfahren - wenn auch noch nicht rechtskräftig - festgestellt.
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Schließlich war auch die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG (Nr. 6 des Bundesamtsbescheids) aufzuheben, weil mit der Aufhebung der Abschiebungsandrohung auch die Voraussetzungen für die Entscheidung über die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 2 AufenthG entfallen (vgl. § 75 Nr. 11 AufenthG).
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Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit erfolgt aus § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.