Inhalt

OLG München, Endurteil v. 29.07.2019 – 21 U 2981/18
Titel:

Anforderungen an Verkehrssicherungspflicht gegenüber Kindern

Normenkette:
BGB § 823 Abs. 1
Leitsatz:
Bei einer Verkehrssicherungspflicht gilt einerseits, dass zugunsten von Kindern ein strenger Sicherheitsmaßstab anzulegen ist, andererseits aber auch, dass ein vollständiges Maß an Sicherheit nicht erreichbar ist und Kinder im Alter von sieben bis acht Jahren schon ein gewisses Maß an Selbständigkeit haben und nicht „auf Schritt und Tritt“ überwacht werden müssen. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Verkehrssicherungspflicht, Kinder, Maßstab, Sicherungsanforderungen
Vorinstanz:
LG Ingolstadt, Endurteil vom 20.07.2018 – 31 O 1970/17
Fundstellen:
FamRZ 2020, 300
BeckRS 2019, 16171
NJW-RR 2020, 88
LSK 2019, 16171
NJW 2020, 485

Tenor

1. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Landgerichts Ingolstadt vom 20.07.2018, Az. 31 O 1970/17, aufgehoben. Es wird festgestellt, dass die Beklagten verpflichtet sind, als Gesamtschuldner der Klägerin alle immateriellen und materiellen Schäden zu ersetzen, die dieser aufgrund des Vorfalls vom 03.03.2014 zwischen 12:00 und 13:00 Uhr am Baggersee in Ingolstadt entstanden sind und in Zukunft noch entstehen werden, soweit Ansprüche nicht kraft Gesetzes auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder in Zukunft übergehen werden.
2. Die Beklagten haben als Gesamtschuldner die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagten können die Vollstreckung durch die Klägerin durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
4. Die Revision gegen dieses Urteil wird nicht zugelassen.

Tatbestand

I.
1
Im Streit ist ein Antrag auf Feststellung eines Schadensersatzanspruches auf Grund einer Verletzung, die die am 07.01.2005 geborene Klägerin bei der Teilnahme an einer vom Beklagten zu 1) veranstalteten Jugendfreizeit erlitten hat. Der Beklagte zu 2) leitete die Veranstaltung.
2
Der Beklagte zu 1) veranstaltete in den Faschingsferien 2014 von 03.03. bis 07.03.2014 eine Freizeit … in Ingolstadt mit dem Titel . Ausweislich des - erst im Berufungsverfahren als Anlage KU 1 vorgelegten - Flyers bestand das Programm aus „Feuer machen, Unterschlupf bauen, Spuren lesen.“
3
Am 03.03.2014 wurde der Klägerin ein Klappmesser übergeben, mit dem sie Rinde von Birken abschälen sollte, um Feuer zu machen. Beim Rinden abschälen geriet ihr das Messer in das rechte Auge. Sie erlitt eine perforierende Hornhaut-Iris-Linsenverletzung, die mehrfach operativ versorgt werden musste. Das rechte Auge ist dauerhaft geschädigt.
4
Die Klägerin trägt vor, anlässlich der Anmeldung zur Veranstaltung und beim Abliefern am Morgen des 03.03.2014 sei ihre Mutter als ihre gesetzliche Vertreterin nicht darüber aufgeklärt worden, dass auf der Veranstaltung mit Messern hantiert werde. Eine Aufklärung der Klägerin sei lediglich hinsichtlich Auf- und Zuklappen des Messers erfolgt.
5
Die Beklagten sind der Auffassung, anhand des Programms sei von vornherein ersichtlich gewesen, dass Messer zum Einsatz kommen. Die Klägerin sei hinreichend in den Gebrauch des Messers eingewiesen worden. Der Unfall sei nur durch einen anweisungswidrigen Umgang mit dem Messer erklärbar. Die Kinder seien auch ausreichend überwacht worden. Sämtliche Vorgaben und Mindeststandards seien eingehalten worden, der Betreuungsschlüssel sei mit 1:5,5 sogar besser gewesen als vorgeschrieben. Eine Entschädigung durch den Unfallversicherer sei bereits erfolgt. Bezüglich des immateriellen Schadens sei die Klage bereits unzulässig.
6
Die Klägerin hatte die Klage zunächst gegen den . erhoben. Auf Hinweis der Beklagten, dass es sich dabei um eine unselbständige Gliederung des . handele, hat sie mit Schriftsatz vom 14.03.2018 Rubrumsberichtigung beantragt. Zwar ist ein formeller Beschluss zur Berichtigung des Rubrums nicht erfolgt, doch benennt das Urteil zutreffend den ... als Beklagten.
7
Das Landgericht Ingolstadt hat die Mutter der Klägerin und den Beklagten zu 2) angehört und Beweis erhoben durch Einvernahme der minderjährigen Klägerin als Zeugin sowie der Mitarbeiterin der Beklagten … Mit Urteil vom 20.07.2018 hat es die Klage abgewiesen mit der Begründung eine Verletzung vertraglicher Pflichten oder von Verkehrssicherungspflichten sei nicht nachgewiesen.
8
Mit der Berufung verfolgt die Klägerin ihren Antrag weiter. Sie ist der Auffassung, das Landgericht habe zu Unrecht eine Pflichtverletzung der Beklagten verneint. Es sei ohne entsprechende Tatsachenfeststellung davon ausgegangen, dass der Mutter die Broschüre des Beklagten zu 1) zu der Freizeit bekannt gewesen sei. Der Inhalt der Broschüre sei aber nicht Gegenstand des Rechtsstreits und dem Landgericht nicht bekannt gewesen. Tatsächlich ergebe sich aus der Broschüre auch nicht, dass den Kindern Messer ausgehändigt werden und Holz geschnitzt werde. Es sei auch nicht unstreitig, dass die Beklagten die bestehenden Vorgaben eingehalten hätten.
9
Die Beweiswürdigung des Erstgerichts sei lückenhaft und widersprüchlich. Auch die Zeugin . habe nicht bestätigt, dass den Kindern gezeigt worden sei, wie man Rinde vom Baum abschält. Das Landgericht habe auch zu Unrecht eine hinreichende Überwachung der Schnitzvorgänge angenommen. 8-jährige Kinder (richtig: 9-jährige), die im Umgang mit Messern nicht geübt seien, bedürften einer besonderen Überwachung und Unterweisung.
10
Sie beantragt zuletzt,
1.
Das Urteil des Landgerichts Ingolstadt vom 20.07.2018 aufzuheben
2.
festzustellen, dass die Beklagten verpflichtet sind, als Gesamtschuldner der Klägerin alle immateriellen und materiellen Schäden zu ersetzen, die dieser aufgrund des Vorfalls vom 03.03.2014 zwischen 12:00 und 13:00 Uhr am Baggersee in Ingolstadt entstanden sind und in Zukunft noch entstehen werden, soweit Ansprüche nicht kraft Gesetzes auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder in Zukunft übergehen werden.
11
Die Beklagten beantragen,
die Berufung zurückzuweisen.
12
Sie sind der Auffassung, das Urteil des Landgerichts sei zutreffend. Generell erscheine nicht das Fernhalten von jedem Gegenstand, der bei unsachgemäßem Umgang gefährlich werden könne, sondern die Erziehung des Kindes zu verantwortungsbewusstem Hantieren mit einem solchen Gegenstand vorzugswürdig. Die Aufklärung und Überwachung sei hinreichend gewesen.
13
Der Umgang mit Werkzeugen (so auch Messern) sei Kindern frühzeitig zu vermitteln. Die Beklagten hätten davon ausgehen können, dass 7 - 12-jährige Kinder Messer bereits in der Hand hatten und deren grundsätzliche Funktionsweise kennen.
14
Die Mutter habe bei der Anmeldung oder zu Beginn der Freizeit in keiner Weise darauf hingewiesen, dass es sich bei der Klägerin um ein besonders betreuungsbedürftiges Kind handele.
15
Aus der Aussage der Mutter der Klägerin ergebe sich, dass ihr der Inhalt der Broschüre bekannt gewesen sei. Aus der Broschüre lasse sich schließen, dass die Kinder auf der Freizeit ein Messer bekommen könnten. Der Flyer sei inhaltlich zutreffend. Auf einem Bild sei auch eine am Boden liegende Säge zu sehen.
16
Die Klägerin hätte im Übrigen nicht mit dem Messer hantieren müssen. Das sei ihre freie Entscheidung gewesen. Sie habe um das Messer gebeten. Den Kindern sei nicht nur erklärt worden, wie man ein Messer auf- und zuklappt, sondern auch wie man damit umgehen müsse.
17
In dem nachgelassenen Schriftsatz haben die Beklagten neben der Vertiefung der bereits vorgebrachten Argumente betont, dass die Klägerin bei der Freizeit 9 Jahre alt gewesen sei. Die Angabe des Geburtsdatums in der Klageschrift sei falsch. Die Beklagten beantragen insoweit auch die Berichtigung des Tatbestands des Urteils des Landgerichts Ingolstadt. Der Unfall wäre auch bei ordnungsgemäßer Wahrung der Aufsichtspflicht geschehen. Im Übrigen treffe die Klägerin ein Mitverschulden. Eine Haftung des Beklagten zu 2) bestehe nicht.
18
Auf die gewechselten Schriftsätze wird verwiesen.
19
Der Senat hat die minderjährige Klägerin als Zeugin vernommen, den Beklagten zu 2) angehört sowie die Zeugin … vernommen. Auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 13.05.2019 wird verwiesen.

Entscheidungsgründe

II.
20
Die zulässige Berufung ist begründet.
21
1. Das Landgericht hat über den zuletzt gestellten Antrag entschieden, auch wenn der im Tatbestand des Urteils aufgeführte Antrag nur den immateriellen Schaden benennt. Bei der unterbliebenen Nennung der materiellen Schäden handelt sich um ein offensichtliches Schreibversehen. Dies ergibt sich bereits aus dem letzten Halbsatz des Antrags, da nur Schadensersatzansprüche auf Grund materieller Schäden auf Sozialversicherungsträger übergehen.
22
Es bedurfte auch keiner Zuleitung des Urteils an das Landgericht zur mit Schriftsatz vom 07.06.2019 beantragten Tatbestandsberichtigung. Ohne dass hier entschieden werden müsste, ob es sich um eine offenbare Unrichtigkeit nach § 319 ZPO oder um einen - dann verspäteten -Tatbestandsberichtigungsantrag nach § 320 ZPO, handelt, hat jedenfalls das Berufungsgericht den ganzen Streitstoff im Rahmen der §§ 529 - 531 ZPO zu berücksichtigen, mithin auch das richtige Geburtsdatum der Klägerin. Zwar wurde in der Klageschrift das falsche Geburtsjahr angegeben (2006 statt 2005), doch findet sich im Inhalt der Klage das richtige Alter (S. 8: die zum Unfallzeitpunkt 9-jährige Klägerin). Der Sachverhalt ist insoweit unstreitig. Im Übrigen hat die Klägerin auch bei ihrer Einvernahme als Zeugin am 13.05.2019 ihr Alter zutreffend mit 14 Jahren angegeben. Mit der in diesem Urteil ausgesprochenen Aufhebung des Urteils des Landgerichts und Korrektur der Feststellung bedarf es der Berichtigung nicht.
23
2. Das Landgericht hat zwar in zutreffender Weise die Voraussetzungen für eine Haftung der Beklagten dargelegt, der Senat teilt aber nach eigener Beweisaufnahme nicht die Auffassung des Landgerichts, dass eine Pflichtverletzung nicht nachgewiesen sei.
24
Wie das Landgericht zutreffend ausführt, sind im vorliegenden Fall die vertraglichen Verpflichtungen des Beklagten zu 1) und die Verkehrssicherungs-/Aufsichtspflichten der Beklagten im Rahmen des § 823 BGB deckungsgleich. Dass die Klägerin keinen Vertrag mit dem Beklagten zu 2) geschlossen hat und nicht er es war, der der Klägerin das Messer gegeben hat, ändert grundsätzlich an seiner Haftung nichts, da er der Veranstaltungsleiter war. In der Klageerwiderung vom 15.02.2018, dort S. 5/6 (= Bl. 23/24 d.A.) heißt es ausdrücklich, dass mit der Veranstaltungsleitung der Beklagte zu 2) betraut war. Er hat für einen ordnungsgemäßen Ablauf der Veranstaltung zu sorgen und ist damit passivlegitimiert. Darauf, ob und wie er angesichts des doch eher geringen Maß des Verschuldens im Innenverhältnis zur Beklagten zu 1) haftet, kommt es im Verhältnis zur Klägerin nicht an.
25
Die Beklagten mussten die Vorkehrungen treffen, die erforderlich und für sie zumutbar waren, um die Schädigung Dritter möglichst zu verhindern. Dabei gilt einerseits, dass zugunsten von Kindern ein strenger Sicherheitsmaßstab anzulegen ist (beispielsweise BGH NJW 1999, 2364), andererseits aber auch, dass ein vollständiges Maß an Sicherheit nicht erreichbar ist (Palandt/Sprau, BGB, 79. Aufl., § 823, Rn. 46) und Kinder im Alter von sieben bis acht Jahren schon ein gewisses Maß an Selbständigkeit haben und nicht „auf Schritt und Tritt“ überwacht werden müssen (BGH, NJW 2009, 1954). Der Bundesgerichtshof führt - allerdings zur Aufsichtspflicht nach § 832 BGB - ausdrücklich aus: Zum Spiel der Kinder gehört auch, Neuland zu entdecken und zu „erobern“. Dies kann ihnen, wenn damit nicht besondere Gefahren für das Kind oder für andere verbunden sind, nicht allgemein untersagt werden. Vielmehr muss es bei Kindern dieser Altersstufe, die in der Regel den Schulweg allein zurücklegen, im Allgemeinen genügen, dass die Eltern sich über das Tun und Treiben in großen Zügen einen Überblick verschaffen, sofern nicht konkreter Anlass zu besonderer Aufsicht besteht. Andernfalls würde jede vernünftige Entwicklung des Kindes, insbesondere der Lernprozess im Umgang mit Gefahren, gehemmt (BGH, aaO). Die Beklagten führen hierzu umfassend und im Grundsatz zutreffend aus, dass es wichtig ist, Kindern in bewusstem Gegensatz zu Konsum, reiner Spaßorientierung und Fremdbestimmung Angebote der Freizeitgestaltung zu unterbreiten, die wesentliche persönlichkeitsprägende Fähigkeiten wie Selbständigkeit, Eigenverantwortung und Risikobewusstsein fördern. Auch unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hält der Senat eine Haftung der Beklagten für nachgewiesen:
26
a. Die Rüge der Klägerin, dass das Landgericht bei der Beweiswürdigung den Flyer berücksichtigt habe, obwohl dieser in erster Instanz nicht vorgelegen habe, ist zwar berechtigt, führt aber nicht zum Erfolg der Berufung, weil die Mutter der Klägerin in ihrer Anhörung vom 13.06.2018 selbst angegeben hat, dass ihr der Flyer bekannt war (S.4 des Protokolls = Bl. 44 d.A.). Aus dem Inhalt des Flyers („Feuer machen, Unterschlupf bauen“) ergibt sich die Möglichkeit, dass die Kinder auch mit Messern umgehen. Einen ausdrücklichen Hinweis darauf, dass die Kinder möglicherweise mit einem Messer hantieren werden, hält das Gericht nicht für erforderlich, weil bei einer Wildnisfreizeit naturgemäß auch „gefährliche Sachen“ gemacht werden. Schließlich begründet auch „Feuer machen“ eine erhebliche Gefahrenlage. Der Senat hält es auch nicht für von vornherein pflichtwidrig, Kindern im Alter von 7 bis 12 Jahren im Rahmen einer Freizeit ein Schnitzmesser in die Hand zu geben.
27
b. Der Senat ist allerdings der Auffassung, dass die Beklagten bei der konkreten Belehrung und Beaufsichtigung der damals 9-jährigen Klägerin vorwerfbar eine Pflichtverletzung begangen haben. Sowohl der Beklagte zu 2) als auch die Zeugin die beide überzeugende und glaubhafte Angaben gemacht haben, haben in ihrer Anhörung/Einvernahme ausgeführt, dass die Kinder zwar zum Umgang mit Messern generell (Zuklappen beim Laufen, Schnitzen vom Körper weg) belehrt worden seien, die Klägerin aber nicht darüber belehrt oder ihr gezeigt worden sei, wie Rinde abzuschälen sei. Aufgrund des Parteivortrags und der durchgeführten Beweisaufnahme ist außerdem davon auszugehen, dass die Klägerin bei dem Schadensvorgang allein war. Die Beklagten hätten der Klägerin aber entweder vorab erläutern müssen, wie man Rinde möglichst gefahrlos abschält, oder sie bei ihrer Tätigkeit vor Ort beaufsichtigen müssen:
28
(1) Eine generelle Belehrung „vom Körper weg“ zu schnitzen ist nach der Überzeugung des Senats erfolgt. Der Beklagte zu 2) und die Zeugin . haben dies bestätigt. Eine solche generelle Belehrung reicht aber nicht aus. Rinde abzuschälen ist grundsätzlich etwas anderes als Schnitzen. Beim Schnitzen hält man den zu schnitzenden Gegenstand in der Hand und es ist eindeutig, was „vom Körper weg schnitzen“ meint. Bei einem lebenden, stehenden Baum hingegen gibt es kein eindeutiges „vom Körper weg schnitzen“, sondern nur ein Führen des Messers nach oben oder nach unten. Bei Birken können Rindenstücke in der Regel mit der Hand weggezogen werden, so dass das Messer allenfalls unterstützend verwendet werden sollte. Ein „Hineinschneiden“ in die Rinde ist nicht erforderlich und man kann mit dem Messer abrutschen. Bei anderen Bäumen ist die Rinde nur schwer zu entfernen und die Gefahr abzurutschen, ist noch höher.
29
Die Argumentation der Beklagten, dass ein Baum feststeht und damit derjenige, der Rinde abschält, anders als beim Schnitzen eine Hand frei hat, die Koordinationsanforderungen also geringer seien als beim Schnitzen, vermag nicht zu überzeugen. Wie vom Beklagten zu 2) geschildert, erhalten die teilnehmenden Kinder für das Schnitzen den Hinweis, sich zu setzen, allenfalls zu stehen, aber sie dürfen nicht laufen. Größere Anforderungen an die Koordination als beim Stehen vor einem Baum sind nicht ersichtlich. Die Problematik liegt jedoch darin, dass man - wie dargelegt - vor einem Baum eben nicht „vom Körper wegschnitzen“ kann und dass bei einem - nicht fernliegenden - Abrutschen mit dem Messer an der Rinde ersichtlich eine erhebliche Verletzungsgefahr besteht. Aus diesen Erwägungen war es geboten, den Kindern zu erläutern, dass man das Messer gar nicht zum regelrechten Scheiden in die Baumrinde verwenden muss (und soll), sondern dass das Messer allenfalls vorsichtig als unterstützendes Hilfsmittel beim Ablösen loser bzw. leicht lösbarer Rindenteile eingesetzt werden sollte, ggf. dass auf einen ausreichenden Abstand von Kopf/Körper zum Messer geachtet wird oder man beaufsichtigt den Vorgang.
30
Sowohl der Beklagte zu 2) als auch die Zeugin . haben nicht angegeben, zum konkreten Vorgang des „Rinde abschälen mit einem Messer“ Hinweise gegeben zu haben. Vielmehr hat die Zeugin . ausdrücklich bestätigt, dass spezielle Hinweise, wie man Rinde von einer Birke abmacht, nicht erteilt worden seien (Seite 7 des Protokolls vom 13.05.2019 = Bl. 125 d.A.). Der Beklagte zu 2) hat angegeben, er habe schon gesagt, dass die Rinde von einer Birke mit der Hand abgeschält wird (Seite 5 des Protokolls vom 13.05.2019 = Bl. 123 d.A.). Er war sich aber zum einen nicht sicher, ob alle Kinder das gehört hatten (Protokoll aaO) und zum anderen, ob er eine Anweisung gegeben hat, kein Messer beim Schälen der Rinde zu benutzen. Nachdem die Kinder aber offensichtlich häufig Messer zum Abschälen von Baumrinde verwenden (Angabe des Beklagten zu 2), Protokoll aaO: „Manche Kinder schneiden zu tief hinein. Im Grunde kann man das mit dem Messer auch lassen.“), hätte man sie diesbezüglich auch über die richtige Vorgehensweise aufklären müssen oder ihnen eben klar und deutlich sagen müssen, dass man nicht mit Messern an lebenden Bäumen schneidet oder aber wie man in diesem Zusammenhang das Messer verwenden sollte bzw. was zu vermeiden ist. Die im Schriftsatz der Beklagten vom 07.06.2019 dargelegten „erhöhten Schadensrisiken“ des erlebnispädagogischen Angebots („learningbydoing“) führen nicht zu einem anderen Sorgfaltsmaßstab. Es geht auch nicht darum, dass ein Kind im Zuge einer solchen Veranstaltung („Wildnisfreizeit“) gar keine Erfahrungen im Umgang mit gefährlichen Gegenständen machen darf. Es kann und soll dies dort lernen, allerdings unter der Aufsicht und Anleitung der Betreuer. Vorliegend war das Schadensrisiko auch nicht völlig abwegig oder fernliegend, wie die Beklagten meinen.
31
(2) Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass die Klägerin bei der Freizeit unstreitig bereits 9 Jahre alt war. Zwar müssen Kinder im Alter von 9 Jahren nicht mehr ständig überwacht werden, aber die Fähigkeit zum Umgang mit Messern kann in diesem Alter sehr unterschiedlich sein. Der tägliche Umgang mit Messer und Gabel beim Essen, von dem bei einem 9-jährigen Kind auszugehen ist (auch wenn es wie hier als unerfahren bezeichnet wird), unterscheidet sich auch grundlegend von dem Umgang mit einem (scharfen) Schnitzmesser, zumal beim Einsatz an einem Baum. Vorerfahrungen der Teilnehmer mit dieser Situation sind nicht zu erwarten. Der Beklagte zu 2) und die Zeugin . wussten auch nichts über die konkreten Fähigkeiten der Klägerin. Sie war ihnen nicht von früheren Freizeiten bekannt. Der Beklagte zu 2), die Zeugin . und die weiteren Mitarbeiter wussten also nicht, ob die Klägerin im Umgang mit (Schnitz-)Messern (zumal bei der streitgegenständlichen Tätigkeit) hinreichend geübt bzw. erfahren ist.
32
Unter diesen Umständen hätte, nachdem ausweislich der Angaben der Zeugin … bekannt war, dass die Klägerin mit einem Messer „Rinde abmachen“ wollte, es entweder einer vorherigen ausdrücklichen Belehrung und Demonstration bedurft oder jemand mit ihr zum Baum gehen und es ihr zeigen müssen. Dass es bei Kindern im Alter von 9 Jahren keiner grundsätzlichen ständigen Überwachung bedarf, macht nicht die Einweisung und/oder Überwachung in einer konkreten, bekannten und von der Beklagten geschaffenen Gefahrenlage entbehrlich. Die gilt auch für den Fall, dass sich die Klägerin „nur“ in den Finger geschnitten hätte.
33
(3) Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Klägerin „ein Messer in die Hand gedrückt“ wurde oder ob der Impuls, mit einem Messer Rinde abzuschälen, von ihr kam. Wie dargelegt, hätte sie auch im letzteren Fall konkret unterwiesen werden müssen.
34
(4) Die haftungsbegründende Kausalität ist gegeben. Grundsätzlich gilt, dass eine Ursächlichkeit der Pflichtverletzung (keine hinreichende Belehrung/Überwachung) für die Augenverletzung der Klägerin nur besteht, wenn diese bei pflichtgemäßer Erfüllung der Aufsichts- und Belehrungspflichten vermieden worden wäre, wobei die Möglichkeit oder eine gewisse Wahrscheinlichkeit nicht ausreichen (BGH, Urteil vom 23.11.2017, Az. III ZR 60/16). Eine grobe Verletzung der Aufsichtspflichten, die zu einer Beweislastumkehr führen könnte, liegt hier nicht vor. Allerdings ist nach der obergerichtlichen Rechtsprechung in Fällen der einfach fahrlässigen Verletzung von Aufsichts- oder Überwachungspflichten eine tatsächliche Vermutung für die Schadensursächlichkeit bereits dann anzunehmen, wenn eine ordnungsgemäße Beaufsichtigung an sich geeignet gewesen wäre, den Schaden zu verhindern, beziehungsweise sich gerade diejenige Gefahr verwirklicht hat, der durch die verletzte Verhaltenspflicht begegnet werden sollte (BGH, aaO). Dies ist hier der Fall: Das durch die fehlende Anleitung geschaffene Risiko hat sich in der konkreten Situation verwirklicht und zu der Verletzung geführt. Hätte man der Klägerin gezeigt, wie sie das Messer in die Hand zu nehmen hat und wie man Rinde vorsichtig abschält, wäre dies geeignet gewesen, den Unfall zu verhindern. Der Anscheinsbeweis ist daher erfüllt.
35
(5) Eine Wiedereintreten in die mündliche Verhandlung wegen des in der Klageschrift falsch angegebenen Geburtsdatums der Klägerin ist nicht veranlasst:
36
Es trifft zu, dass der Senat vor der Beweisaufnahme von einem Alter der Klägerin von 8 Jahren zum Unfallzeitpunkt ausgegangen ist; dem Senat war die Diskrepanz bei den Geburtsdaten der Klageschrift und der ärztlichen Atteste nicht aufgefallen. Dies führt allerdings nicht dazu, dass die mündliche Verhandlung wieder eröffnet werden müsste. Die Klägerin hat bei ihrer Einvernahme zutreffend angegeben, dass sie 14 Jahre alt ist und glaubwürdige Angaben zu den Vorgängen am 03.03.2014 gemacht. Sie hat - ebenso wie die Zeugin … und der Beklagte zu 2) -umfassend und in allen Details die tatsächlichen Vorgänge im Zusammenhang mit der Veranstaltung bzw. dem Unfallgeschehen entsprechend der persönlichen Erinnerung geschildert. Es ist nicht ersichtlich, zu welchen strittigen Tatsachen eine ergänzende Beweisaufnahme erforderlich wäre. Dass der Beklagte zu 2) und die Zeugin . ihre Angaben unter dem Eindruck gemacht haben, die Klägerin sei zum Zeitpunkt des Unfalls 8 Jahre alt gewesen, ändert ebenfalls nichts an den von ihnen geschilderten Tatsachen zur Aufklärung und Überwachung der Klägerin. Die Beklagten haben in ihren Schriftsätzen vom 07.06., 12.06. und 03.07.2019 zum Ergebnis der Beweisaufnahme bei einem Alter der Klägerin zum Unfallzeitpunkt von 9 Jahren Stellung genommen, was der Senat bei seiner Entscheidung bedacht und einbezogen hat. Die Beklagten tragen auch nicht vor, welche anderen Fragen sie unter dem Gesichtspunkt, dass die Klägerin damals 9 Jahre alt war, gestellt hätten bzw. stellen würden. Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs ist damit nicht ersichtlich.
37
Der Senat hat die abschließende Beweiswürdigung unter dem Gesichtspunkt, dass die Klägerin 9 Jahre alt ist, vorgenommen. Die rechtliche Wertung ändert sich dadurch nicht. Die Frage, welche Anforderungen an die Überwachung/Anleitung eines Kindes beim Umgang mit Messern zu stellen sind, ist auch bei einem Alter der Klägerin zum Unfallzeitpunkt von 9 Jahren dahingehend zu beantworten, dass hier eine Pflichtverletzung vorliegt. Der Senat verkennt nicht, dass zwischen einem 8-jährigen und einem 9-jährigen Kind ein deutlicher Reifeunterschied besteht. Dennoch hält er es, wie oben unter (2) dargelegt, angesichts der konkreten Gefahrensituation auch bei einem 9-jährigen Kind für pflichtwidrig, es an einem stehenden Baum ohne Anleitung mit einem scharfen Messer agieren zu lassen. Schließlich entspricht dies nicht der Standardsituation im Umgang mit Messern und hat ein erhöhtes Gefährdungspotential inne.
38
c. Die Argumentation der Beklagten, der Schaden wäre nach dem Rechtsgedanken des § 832 Abs. 1 S. 2 BGB auch bei gehöriger Aufsichtsführung entstanden, greift nicht durch. Die bloße Möglichkeit, dass der Unfall sich auch bei gehöriger Wahrnehmung der Aufsichtspflicht hätte ereignen können, genügt nicht, um eine Haftung entfallen zu lassen (Palandt/Sprau, BGB, 78. Auflage, § 832 Rn. 8).
39
d. Auch ein Mitverschulden der Klägerin gemäß § 254 BGB sieht der Senat nicht. Nachdem sie das Messer von einer Betreuerin ohne weitere Hinweise oder Aufsicht zum Schälen von Rinde erhalten hat, musste die Klägerin nicht von sich aus daran zweifeln, dass sie dieser Tätigkeit gewachsen ist. Auch der Umstand, dass die Klägerin das Messer nicht richtig eingesetzt hat, begründet kein Mitverschulden. Sie hat es nach ihren eigenen überzeugenden Angaben zunächst „falsch herum“ mit der stumpfen Seite am Baum nach unten bewegt. Als dies nicht funktionierte, hat sie es nach oben bewegt, wobei die scharfe Seite nach oben zeigte. Dabei rutschte sie ab und das Messer gelangte in ihr Auge. Den Beklagten ist zuzustimmen, dass dieser Umgang mit einem Messer nicht fachgerecht ist. Demgegenüber ist aber zu berücksichtigen, dass es sich bei der Klägerin um ein damals 9-jähriges Kind handelt, das keine Erfahrung mit solchen Messern hatte und auch nicht haben musste. Der Bundesgerichtshof hat in Fällen des Mitverschuldens von Kindern im Straßenverkehr den Begriff des „subjektiv besonders vorwerfbaren“ Verhaltens geprägt. Im vorliegenden Fall hat die Klägerin nach ihrer überzeugenden und glaubhaften Aussage das Messer aus ihrer damaligen Unerfahrenheit heraus zunächst falsch herum (mit der stumpfen Seite) angelegt. Dieses Vorgehen ist in keiner Weise besonders vorwerfbar. Vielmehr wirkt die Klägerin eher zurückhaltend und wurde auch vom Beklagten zu 2) und der Zeugin … nicht als ein außergewöhnlich lebhaftes Kind geschildert. Die Beweisaufnahme ergab keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin mit dem Messer „Unsinn machen“ wollte oder aus kindlichem Leichtsinn falsch mit dem Messer umgegangen ist. Ein Mitverschulden ist bei dieser Sachlage zu verneinen.
40
Nach alledem war der Berufung und der Klage statt zu geben. Dabei kam es nicht darauf an, ob, was streitig ist, eine Zahlung der privaten Unfallversicherung erfolgt ist bzw ob, wie angekündigt noch eine Zahlung der Unfallversicherung erfolgen wird, da der Feststellungsantrag die immateriellen und materiellen Schäden erfasst, soweit sie nicht übergegangen sind.
III.
41
1. Die Kosten des Rechtsstreits bestimmen sich nach §§ 91 ZPO.
42
2. Die Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
43
3. Die Revision war nicht zuzulassen. Es waren jeweils einzelfallbezogene Fragen im Haftungsrecht zu entscheiden. Der Senat stellt in dieser Entscheidung keinen allgemeinen Rechtssatz auf, der von anderen Entscheidungen eines höheren oder gleichgeordneten Gerichts abweicht. Auch eine grundsätzliche Bedeutung besteht nicht, denn es liegt keine klärungsbedürftige Rechtsfrage vor, die sich in einer unbestimmten Zahl von Fällen stellt. Vielmehr handelt es sich um eine spezifische Einzelfallgestaltung (konkrete Betreuungs- und Belehrungssituation). Damit ist die Zulassung der Revision auch nicht zur Rechtsfortbildung geboten. Der Einzelfall gibt nur dann Veranlassung Leitsätze aufzustellen oder Gesetzeslücken zu füllen, wenn es für die rechtliche Beurteilung typischer oder verallgemeinerungsfähiger Lebenssachverhalte an einer richtungsweisenden Orientierungshilfe ganz oder teilweise fehlt (BGH, Hinweisbeschluss vom 16.10.2018, Az. II ZR 70/16). Die rechtlichen Fragen, die der vorliegende Lebenssachverhalt aufwirft, betreffen aber weder typische noch verallgemeinerungsfähige Lebenssachverhalte.