4. Erziehung und Unterricht
4.1 Erziehung
Eine auf die Sehschädigung bezogene besondere Erziehung besteht aus Hilfen zur Lebensbewältigung, zur psychischen Entwicklung und zur sozialen Kompetenz. Besonders wichtig für die Lebensbewältigung unter den Bedingungen der Sehschädigung kann sein: Sicherheit und Vertrauen anderen und sich selbst gegenüber aufbringen zu können, - die Fähigkeit, eigene Interessen zu verwirklichen und anderen gegenüber zu vertreten; Konkurrenzfähigkeit zu entwickeln, sei es beruflich oder privat; Aussehen und Attraktivität. Erzieherische Hilfen sind auch bei der Bewältigung der Verletzungen des Selbstwertgefühls angebracht, die mit einer Sehschädigung verbunden sein können.
Gestik und Mimik werden in kommunikativen Situationen von blinden und sehbehinderten Menschen eingeschränkt oder gar nicht visuell wahrgenommen. Erziehung trägt dazu bei, die Einschätzung der jeweiligen Situation den sehgeschädigten Kindern und Jugendlichen bewusst zu machen, damit sie Kompensationsstrategien entwickeln und sehende Gesprächspartner in angemessener Weise darüber informieren können. Dazu soll gelernt werden, bekannte Gesten zu interpretieren und nachzuahmen, zu verbalisieren sowie sprachliche und nichtsprachliche Mittel sinnvoll, ungehemmt und fantasievoll zu nutzen.
Das grundsätzliche Angewiesensein blinder Menschen auf den Tastsinn kann in Situationen, die üblicherweise visuell gestaltet werden, zu Irritationen führen wie bei Kontaktaufnahme mit unbekannten Menschen, insbesondere bei Begrüßungsritualen oder bei Museumsbesuchen. Blinde junge Menschen müssen lernen, in welchen Situationen Tasten beziehungsweise körperlicher Kontakt sozial akzeptiert wird und, falls dies unüblich ist, wie sie sich notwendige Informationen anders erschließen können.
Sehbehinderte Kinder und Jugendliche brauchen Hilfen, um ihre visuellen Wahrnehmungsmöglichkeiten im Vergleich zu vollem Sehen realistisch einschätzen und darstellen zu können. Diese Kenntnisse erleichtern die Kommunikation mit Menschen, die solche Beeinträchtigungen nicht kennen und deshalb unsicher und ablehnend reagieren. Es ist hilfreich, wenn die Kinder und Jugendlichen verschiedene Strategien erlernt haben, um in unterschiedlichen Alltagssituationen die Grenzen und Möglichkeiten ihres Sehvermögens vermitteln zu können. Für eine sinnhafte Freizeitgestaltung sind die individuellen Wünsche und Bedürfnisse einzubeziehen.
4.2 Unterricht
Dem Unterricht bei blinden und sehbehinderten Kindern und Jugendlichen sind grundsätzlich die Bildungspläne der allgemeinen Schule zugrunde zu legen. Für den sonderpädagogischen Förderbedarf wird ein individueller Förderplan erstellt. Der sonderpädagogische Förderbedarf hat Konsequenzen für die didaktisch-methodischen Entscheidungen bei der Gestaltung des Unterrichts. Der Unterricht ist entsprechend den erschwerten Lernbedingungen zu modifizieren, zu differenzieren und gegebenenfalls zu erweitern. Für die Erweiterung eines Bildungsplanes wird zusätzliche Zeit benötigt. Die für ein Schuljahr vorgesehenen Bildungsinhalte können über mehrere Jahrgangsstufen verteilt werden, um die Möglichkeit einzuräumen, die Ziele und Abschlüsse der jeweiligen Bildungsgänge zu erreichen. Für sehgeschädigte Schülerinnen und Schüler mit Lernrückständen oder geistiger Behinderung ist ein spezielles, individuell abgestimmtes Lernangebot mit eigenem Zeitrahmen erforderlich.
Damit sehgeschädigte Schülerinnen und Schüler am Unterricht erfolgreich teilnehmen können, sind Grundvoraussetzungen in Bezug auf Klassenraumgestaltung, Lehr- und Lernmittel, Medien und Unterrichtsorganisation zu schaffen.
Bei der Klassenraumgestaltung ist darauf zu achten, dass der Arbeitsplatz ergonomisch ausgerüstet wird. Beispiele können sein: höhen- und neigungsvariable Arbeitstische und Konzepthalter bei hochgradiger Kurzsichtigkeit, blendungsarme Gesamtausleuchtung des Raumes, stufenlos zu schaltende Einzelplatzbeleuchtung bei erhöhtem Lichtbedarf, Fenstervorhänge bei Blendungsempfindlichkeit, klar strukturierte Anordnung des Mobiliars als Orientierungshilfe für blinde Kinder und Jugendliche.
Die gebräuchlichen Lehr- und Lernmittel sind auf ihre Eignung zu überprüfen und gegebenenfalls zu adaptieren, z.B. Vergrößerungskopien und tastbare Landkarten, oder auch umzurüsten, z.B. mit Braillezeichen versehene Spielkarten oder Schutzvorrichtungen bei Werkzeugen und Maschinen. Es kann notwendig sein, Lehr- und Lernmittel gänzlich umzugestalten. Beispiele sind die elektronische Braillezeile am Computer, die Relieffolie für Blinde oder die Punktschriftbücher. Darüber hinaus kann eine individuelle Ausstattung mit optischen und elektronischen Sehhilfen erforderlich werden, z.B. Lupen und Fernrohrlupenbrillen, Monokulare, Bildschirmlesegeräte, Vergrößerungssoftware für den Computer.
Die notwendige Ausstattung erfolgt nach in den Ländern geltenden Regelungen.
Der Unterricht mit sehgeschädigten Schülerinnen und Schülern erfordert eine auf deren speziellen Bedarf hin abgestimmte Organisation. Dazu können gehören: Anleitung zum Ordnunghalten im Unterrichtsraum, damit ein blindes Kind seine Sachen wieder findet, Regelungen für die Unterbringung und den Schutz der individuell genutzten Medien im Klassenraum, Sicherheitsvorkehrungen zur Vermeidung von Verletzungen, z.B. durch offen stehende Türen oder Fensterflügel, klare Strukturierungshilfen, insbesondere bei individualisierenden und offenen Unterrichtsformen und bei häufigem Methodenwechsel. Vielfach gilt es auch einfache Hilfen als Kompensationsmaßnahmen zu entwickeln und erfolgreich anzuwenden, z.B. Notieren auf der Punktschrift-Schreibtafel, Vorlesen des Tafelanschriebs durch die Lehrkraft, Vorlesen von Arbeitsbögen durch eine Mitschülerin oder einen Mitschüler.