Titel:
Unzulässige Untätigkeitsklage auf Erteilung eines Reiseausweises für Staatenlose
Normenketten:
VwGO § 75
StlÜbk Art. 28
Leitsätze:
1. Es kann offenbleiben, ob eine Untätigkeitsklage nach § 75 VwGO, bei der der Kläger den für den Erlass eines Verwaltungsakts erforderlichen Antrag erst nach Klageerhebung stellt, zulässig ist. (red. LS Clemens Kurzidem)
2. Der Anspruch auf Erteilung eines Reiseausweises für Staatenlose setzt die Feststellung voraus, dass der Antragsteller staatenlos im Sinne von Art. 1 Abs. 1 StlÜbk ist, d.h. dass ihn kein Staat aufgrund seines Rechts (de iure) als Staatsangehörigen ansieht. Eine lediglich ungeklärte Staatsangehörigkeit reicht dafür nicht aus. (red. LS Clemens Kurzidem)
3. Über die Erteilung eines Reiseausweises für Staatenlose kann solange nicht (positiv) entschieden werden, solange die Tatsache der Staatenlosigkeit nicht feststeht. Dabei ist es Sache des Antragstellers, mit den zuständigen Behörden der in Rede stehende Staaten in Kontakt zu treten und alles Mögliche und Zumutbare zu unternehmen, um eine Klärung der Frage herbeizuführen, ob er deren Staatsangehörigkeit von Rechts wegen besitzt oder erlangen kann. (red. LS Clemens Kurzidem)
4. Bleibt ein mitwirkungspflichtige Kläger bei der erforderlichen Sachverhaltsaufklärung untätig, fehlt einer von ihm angestrengten Untätigkeitsklage das Rechtsschutzbedürfnis. In diesem Fall trifft der Vorwurf der Untätigkeit nicht den Beklagten, sondern den Kläger, der im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht dazu berufen ist, durch ein Tätigwerden die Voraussetzungen für eine positive Sachentscheidung zu schaffen. (red. LS Clemens Kurzidem)
Schlagworte:
kein Rechtsschutzbedürfnis für Untätigkeitsklage, wenn der mitwirkungspflichtige Kläger bei der erforderlichen Sachverhaltsaufklärung untätig bleibt, Untätigkeitsklage, Asylwiderruf, armenischer Staatsangehöriger, Reiseausweis für Staatenlose, Antragstellung, Staatenlosigkeit, Mitwirkungspflicht, Klärung der Staatsangehörigkeit, fehlendes Rechtsschutzbedürfnis
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
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Gegenstand des Verfahrens ist das Begehren des Klägers auf Erteilung eines Reiseausweises für Staatenlose.
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Der am … … … in … (* … …*) geborene Kläger reiste 1992 mit seinen Eltern als Asylsuchender in die Bundesrepublik Deutschland ein. Im Asylverfahren wurde er aufgrund eigener Angaben als armenischer Staatsangehöriger geführt und mit Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom … Januar 1995 als Asylberechtigter anerkannt. Die Asylanerkennung wurde mit Bescheid des Bundesamts vom *. April 2014 widerrufen, nachdem der Kläger straffällig geworden war. Mit Bescheid vom … Oktober 2015 verfügte der Beklagte die Ausweisung des Klägers. Die hiergegen erhobene Klage (Az. M 24 K 15.5155) wurde mit Urteil vom … Oktober 2016 abgewiesen. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.
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Mit Schriftsatz vom … Oktober 2016, bei Gericht eingegangen am … Oktober 2016, „erweiterte“ der Bevollmächtigte des Klägers die gegen die Ausweisung erhobene Klage (M 24 K 15.5155) wie folgt: Der Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger einen Reisepass für Staatenlose zu erteilen.
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Zur Begründung wurde vorgetragen, der Kläger sei staatenlos. Er sei weder im Besitz der russischen noch der armenischen Staatsangehörigkeit.
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Das Gericht führte den „Erweiterungsantrag“ wegen der Einführung eines neuen Streitgegenstandes als eigene Klage unter dem vorliegenden Aktenzeichen (M 24 K 16. 4668).
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Am … Oktober 2016 stellte der Kläger beim Beklagten einen Antrag auf Erteilung eines Reiseausweises für Staatenlose mit der Begründung, der Kläger sei weder im Besitz der russischen noch der armenischen Staatsangehörigkeit und halte sich seit seinem zweiten Lebensjahr rechtmäßig in Deutschland auf.
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Mit Klageerwiderung vom … November 2016 beantragte der Beklagte, die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung wurde unter anderem geltend gemacht, die Klage sei wegen fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses bereits unzulässig, da der Antrag auf Erteilung eines Reiseausweises erst nach Klageerhebung gestellt worden sei. Die Klage sei auch unbegründet, da kein Anspruch auf Erteilung eines Reiseausweises für Staatenlose bestehe, da der Kläger nicht staatenlos sei. Staatenlos nach Art. 1 Abs. 1 des Übereinkommens über die Rechtsstellung der Staatenlosen (StlÜbk) sei allein derjenige, der von Rechts wegen von keinem existierenden Staat als staatsangehörige Person anerkannt werde. Aufgrund seiner Abstammung von armenischen Eltern könne der Kläger jedoch unter erleichterten Bedingungen die armenische Staatsangehörigkeit erlangen. Entsprechende Bemühungen seien ihm zuzumuten. Er habe aber bisher noch keinen Antrag bei der armenischen Botschaft gestellt. Auch habe er keine Negativbescheinigung hinsichtlich der armenischen Staatsangehörigkeit vorgelegt.
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Mit Schreiben vom … Januar 2017 wandte sich die Ausländerbehörde an die armenische Botschaft in Berlin mit der Bitte um Hilfestellung bei der Erlangung der armenischen Staatsangehörigkeit für den Kläger.
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Die Streitsache wurde am … Januar 2017 mündlich verhandelt.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte dieses Verfahren sowie des vorangegangenen Ausweisungsverfahrens und auf die vorgelegte Behördenakte verwiesen.
Entscheidungsgründe
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1. Die Klage ist unzulässig und hat daher keinen Erfolg.
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1.1. Der Kläger begehrt die Verpflichtung des Beklagten, ihm einen Reiseausweis für Staatenlose gem. § 1 Abs. 4 Aufenthaltsverordnung (AufenthV) i.V.m. Art. 28 StlÜbk zu erteilen. Richtige Klageart ist, da es sich bei der Erteilung des Reiseausweises um einen Verwaltungsakt handelt, die Verpflichtungsklage (§ 42 VwGO), hier in Form der Untätigkeitsklage (§ 75 VwGO), da eine behördliche Entscheidung noch nicht ergangen ist.
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1.2. Die Zulässigkeit der Untätigkeitsklage ist nach dem Wortlaut des § 75 Satz 1 VwGO davon abhängig, dass ein Antrag auf Vornahme des Verwaltungsakts gestellt worden ist. Im vorliegenden Fall hat der Kläger den Antrag auf Erteilung eines Reiseausweises für Staatenlose erst nach Klageerhebung bei der Behörde gestellt. Die Frage der Nachholbarkeit der Antragstellung während des gerichtlichen Verfahrens wird in Rechtsprechung und Literatur uneinheitlich beantwortet: Teilweise wird mit Blick auf Wortlaut, Systematik und Sinn und Zweck der Vorschrift vertreten, dass es sich bei der vorherigen Antragstellung um eine Klagevoraussetzung handele, die im gerichtlichen Verfahren nicht nachholbar sei (so z.B. BVerwG, U.v. 31.8.1995 - 5 C 11/94 - juris Leitsatz und Rn. 14; VGH BW, B.v. 19.4.1999 - 6 S 420/97 - juris Rn. 4; Rennert in Eyermann, VwGO, § 75 Rn. 5; Brenner in Sodann/Zielkow, VwGO, § 75 Rn. 27; Kopp/Schenke, VwGO, § 75 Rn. 7), teilweise wird im Antragserfordernis aber auch eine bloße Sachurteilsvoraussetzung gesehen, die erst im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung vorliegen muss und bis zu diesem Zeitpunkt im gerichtlichen Verfahren nachgeholt werden kann (BVerwG, U.v. 24.2.1994 - 5 C 24/92 - juris Rn. 12; Kopp/Schenke, VwGO, § 75 Rn. 11). Für letztere Auffassung sprechen prozessökonomische Erwägungen.
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1.3. Die Streitfrage kann im vorliegenden Fall aber offenbleiben, da die Klage im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung jedenfalls aus einem anderen Grund, nämlich wegen des fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig ist. Der Anspruch auf Erteilung eines Reiseausweises für Staatenlose setzt die Feststellung voraus, dass der Kläger staatenlos im Sinne von Art. 1 Abs. 1 StlÜbk ist, d.h. dass ihn kein Staat aufgrund seines Rechts (de iure) als Staatsangehörigen ansieht. Eine lediglich ungeklärte Staatsangehörigkeit reicht dafür nicht aus (Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, AufenthG § 1 Rn. 34). Denjenigen, der sich auf Staatenlosigkeit in diesem Sinne beruft, trifft im Hinblick auf die Sachverhaltsaufklärung eine umfassende Mitwirkungspflicht, d.h. er muss alles ihm Mögliche und Zumutbare tun, um eine in Betracht kommende Staatsangehörigkeit zu erlangen (vgl. BVerwG, B.v. 30.12.1997 - 1 B 223/97 - juris Rn. 6f.; OVG BB, B.v. 10.7.2013 - OVG 3 N 144.12 - juris Rn. 5f mit Verweis auf BVerwG, U.v. 17.3.2004 - 1 C 1/03 - juris Rn. 30ff.; VGH BW, U.v. 17.12.2003 - 13 S 2113/01 - juris Rn. 35 f.).
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Im vorliegenden Fall kann der Beklagte über den Antrag auf Erteilung eines Reiseausweises für Staatenlose nicht (positiv) entscheiden, solange die Tatsache der Staatenlosigkeit nicht feststeht. Die Frage der Staatenlosigkeit bedarf aber der weiteren Aufklärung, da der Kläger schlicht behauptet, staatenlos zu sein, ohne dies zu belegen. Vor dem Hintergrund, dass er als „armenischer Staatsangehöriger“ als Asylberechtigter anerkannt worden war, besteht aber Anlass zur Klärung einer möglichen armenischen Staatsangehörigkeit. Darüber hinaus kommt wegen der Geburt in … (* … … …*) möglicherweise auch die russische Staatsangehörigkeit in Betracht. Es ist Sache des Klägers, mit den zuständigen Behörden der in Rede stehende Staaten in Kontakt zu treten und alles Mögliche und Zumutbare zu unternehmen, um eine Klärung der Frage herbeizuführen, ob er die armenische oder die russischer Staatsangehörigkeit von Rechts wegen besitzt oder erlangen kann. Bisher ist der Kläger in dieser Hinsicht noch in keiner Weise tätig geworden, insbesondere hat er keine entsprechenden Anträge auf Zuerkennung der Staatsangehörigkeit gestellt. Bleibt der mitwirkungspflichtige Kläger bei der erforderlichen Sachverhaltsaufklärung untätig, so fehlt einer Untätigkeitsklage das Rechtsschutzbedürfnis. Denn dann trifft der Vorwurf der Untätigkeit nicht den Beklagten, sondern den Kläger, der im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht dazu berufen ist, durch ein Tätigwerden die Voraussetzungen für eine positive Sachentscheidung zu schaffen. Die Klage war daher als unzulässig abzuweisen.
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2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
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3. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.