Titel:
Fortsetzungsfeststellungsklage nach Erledigung vor Klageerhebung, berechtigtes Feststellungsinteresse wegen Wiederholungsgefahr, Identitätsfeststellung im Rahmen einer Binnengrenzkontrolle im Jahr 2022, (deutsch-österreichische Grenze), Wiedereinführung einer Binnengrenzkontrolle wegen ernsthafter Bedrohung für die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit
Normenketten:
VwGO analog § 113 Abs. 1 S. 4
Art. 25, Art. 27 SGK in der Fassung vom 7. Juli 2021
BPolG § 23 Abs. 1 Nr. 2
Leitsätze:
1. Hält eine Bedrohungslage, wegen der bereits Binnengrenzkontrollen wiedereingeführt wurden, weiter an, kann dies nur die Verlängerung der Grenzkontrollen bis zur unionsrechtlich zulässigen Höchstdauer rechtfertigen, nicht dagegen eine erneute Wiedereinführung für einen darüber hinausreichenden Zeitraum (vgl. EuGH, U.v. 26.4.2022 – C-368/20 – juris Rn. 66).
2. Maßgebliche Beurteilungsgrundlage für die gerichtliche Prüfung, ob ein Mitgliedstaat eine erneute Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen mit einer anhaltenden oder einer neuen Bedrohung begründet hat, ist dessen Mitteilung über diese Maßnahme an die anderen Mitgliedstaaten und die Kommission.
Schlagworte:
Fortsetzungsfeststellungsklage nach Erledigung vor Klageerhebung, berechtigtes Feststellungsinteresse wegen Wiederholungsgefahr, Identitätsfeststellung im Rahmen einer Binnengrenzkontrolle im Jahr 2022, (deutsch-österreichische Grenze), Wiedereinführung einer Binnengrenzkontrolle wegen ernsthafter Bedrohung für die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit
Vorinstanz:
VG München, Urteil vom 31.01.2024 – M 23 K 22.3422
Fundstelle:
BeckRS 2025, 4409
Tenor
I. Das Urteil des Verwaltungsgerichts wird in Nr. I. geändert. Es wird festgestellt, dass die am 11. Juni 2022 im ICE bei Passau durchgeführte Feststellung der Identität des Klägers rechtswidrig war.
II. Unter Änderung der Kostenentscheidung des Verwaltungsgerichts trägt die Beklagte die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
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Der Kläger ist österreichischer Staatsangehöriger und begehrt die Feststellung der Rechtswidrigkeit einer Identitätsfeststellung im Jahr 2022 im Rahmen der von der Beklagten wiedereingeführten Binnengrenzkontrolle an der deutsch-österreichischen Grenze.
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Am 11. Juni 2022 wurde der Kläger bei der Fahrt im ICE kurz nach dem Halt in Passau von Beamten der Bundespolizei aufgefordert, sich auszuweisen. Auf Nachfrage gaben diese an, es handele sich um eine Grenzkontrolle im Rahmen des grenzüberschreitenden Verkehrs. Der Kläger kam der Aufforderung nach.
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Die daraufhin vom Kläger am 8. Juli 2022 erhobene Klage auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Identitätsfeststellung hat das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 31. Januar 2024 abgewiesen. Die Klage sei bereits unzulässig, da der Kläger kein relevantes Feststellungsinteresse im Rahmen seines statthaften Fortsetzungsfeststellungsbegehrens analog § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO habe. Zum einen sei keine hinreichende Wiederholungsgefahr gegeben. Der Kläger habe zwar dargelegt, dass er als österreichischer Staatsangehöriger mit Wohnsitz und Arbeitsplatz in den Niederlanden regelmäßig auf dem Landweg durch die Bundesrepublik Deutschland reise und dabei die österreichisch-deutsche Grenze überquere. Er habe enge Familienangehörige in Salzburg und Wien, die er regelmäßig besuche; er nehme zudem regelmäßig berufliche Verpflichtungen, insbesondere wissenschaftliche Konferenzen und Vorträge, in Österreich wahr. Identitätskontrollen erfolgten abhängig von den jeweils eingesetzten Fahrzeugen, der jeweiligen Streckenführung und den jeweiligen Einsatzlagen. Keinesfalls sei erkennbar, dass der Kläger bei jedem Grenzübertritt erwartbar und zwangsläufig einer Kontrollmaßnahme unterzogen würde; dem entspreche es, dass die Beklagte stets darauf hinweise, dass temporäre Binnengrenzkontrollen flexibel, lageabhängig, in unterschiedlicher Kontrollintensität und stichprobenartig stattfänden. Zum anderen fehle es an einem tiefgreifenden Grundrechtseingriff. Das Gericht sehe sich dennoch zu dem Hinweis veranlasst, dass die streitgegenständliche Grenzkontrolle vom 11. Juni 2022 in Anbetracht des Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom 26. April 2022 – C-368/20 gegen Art. 25 Abs. 4 SGK, der für die Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen einen Gesamtzeitraum von höchstens 6 Monaten vorsehe, verstoßen haben dürfte.
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Zur Begründung seiner vom Verwaltungsgericht zugelassenen Berufung führt der Kläger im Wesentlichen aus, die Annahme des erstinstanzlichen Gerichts, es sei keine Wiederholungsgefahr gegeben, gehe fehl, da sie die Anforderungen an die Darlegung einer Wiederholungsgefahr in unzulässiger Weise überspanne. Tatsächliche Anhaltspunkte für eine Wiederholungsgefahr ergäben sich bereits aus der unstreitigen Durchführung von Kontrollen an der deutsch-österreichischen Grenze und daraus, dass der Kläger selbst mehrfach kontrolliert worden sei. Ein tiefgreifender Grundrechtseingriff liege in Bezug auf das unionsbürgerliche Freizügigkeitsrecht und das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz vor. Die Klage sei auch begründet, weil die Voraussetzungen gemäß der Verordnung (EU) 2016/399 vom 9. März 2016 (Schengener Grenzkodex) in der Fassung vom 7. Juli 2021 (im Folgenden: SGK) für eine erneute Wiedereinführung von Kontrollen an der deutsch-österreichischen Binnengrenze zum Zeitpunkt der Notifizierung am 14. April 2022 nicht vorgelegen hätten; tatsächlich habe es sich um eine über den maximalen Zeitraum von 6 Monaten (vgl. Art. 25 Abs. 4 SGK) hinausreichende Verlängerung einer bereits bestehenden Grenzkontrolle gehandelt. Die Beklagte habe weder neue Umstände oder Ereignisse auf Grundlage konkreter, objektiver und umfassender Analysen erläutert, noch dargelegt, dass sich die Bedrohungslage im Vergleich zu der Sachlage, welche von dem Europäischen Gerichtshof in seinem Urteil vom 26. April 2022 – C-368/20 in den Blick genommen worden sei, verändert habe. Die im Jahr 2022 angeordneten Grenzkontrollen seien vor dem Hintergrund der Geschehnisse in Ungarn im Jahr 2015 zu sehen; die insoweit maßgebliche Sachlage sei über einen Zeitraum von rund sieben Jahren (zwischen 2015 und 2022) im Wesentlichen gleichgeblieben. In der Notifizierung vom 14. April 2022 würden das Kriegsgeschehen in der Ukraine und die sich daran anschließenden Fluchtbewegungen nicht erwähnt. Stattdessen enthalte sie Ausführungen zum Migrationsgeschehen an den südlichen und südöstlichen Außengrenzen der Europäischen Union, zu der zentralmediterranen Migrationsroute, zur Situation an der türkisch-griechischen Grenze und auf dem Balkan und zu den Auswirkungen der dortigen Geschehnisse auf die südliche Bundesgrenze. Im Übrigen sei eine Begründung der Kontrollen an der deutsch-österreichischen Grenze mit dem Fluchtgeschehen in der Ukraine nicht plausibel. Die überwältigende Mehrzahl der ukrainischen Kriegsflüchtlinge gelange bekanntlich nicht über die südliche, sondern über die östliche Bundesgrenze, mithin nicht über Österreich, sondern über Polen und Tschechien in das Bundesgebiet. Auch die Situation an der Grenze zwischen Polen und Belarus im Herbst 2021 stelle keine neue Bedrohungslage dar; auch hier erschließe sich der spezifische Zusammenhang mit den Kontrollen an der deutsch-österreichischen Grenze nicht.
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unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts festzustellen, dass die am 11. Juni 2022 im ICE bei Passau durchgeführte Identitätsfeststellung des Klägers rechtswidrig war.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Für den Kläger selbst bestehe keine konkrete Gefahr, erneut kontrolliert zu werden. Zwar sei er in der Vergangenheit vereinzelt kontrolliert worden; dies überschreite hingegen nicht die Schwelle einer konkreten Wiederholungsgefahr. Trotz des Umstands, dass er nach eigenen Angaben regelmäßig die Grenze zwischen Österreich und Deutschland überquere, sei seine Identität seit der ersten Kontrolle am 11. Juni 2022 im Anschluss nur wenige Male festgestellt worden. Hinzu komme, dass die Kontrollen nur sporadisch und stichprobenartig stattfänden. Im Übrigen würde eine erneute Identitätsfeststellung nicht unter im Wesentlichen unveränderten rechtlichen Umständen erfolgen. Abgesehen davon, dass die Anordnung der Grenzkontrollen jeweils auf Basis neuer – also gerade nicht unveränderter – tatsächlicher Umstände und deren erneuter Überprüfung erfolge, hätten sich die hier maßgeblichen rechtlichen Bestimmungen der Art. 25 ff. SGK zwischenzeitlich mit dem Inkrafttreten der Verordnung (EU) 2024/1717 vom 13. Juni 2024 zur Änderung des SGK mit Wirkung vom 10. Juli 2024 (im Folgenden: SGK n.F.) wesentlich geändert. Auch die Voraussetzungen für die Begründung eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses mit einem schwerwiegenden Grundrechtseingriff seien offensichtlich nicht erfüllt. Unabhängig davon sei die Klage unbegründet. Die Einführung der Binnengrenzkontrollen könne gemäß dem Urteil des Europäischer Gerichtshofs vom 26. April 2022 – C-368/20 auch über den in Art. 25 Abs. 4 SGK bezeichneten Zeitraum hinaus angeordnet werden, wenn der betreffende Mitgliedstaat nachweisen könne, dass eine neue ernsthafte Bedrohungslage für seine öffentliche Ordnung oder seine innere Sicherheit vorliege und im Übrigen die Voraussetzungen der Art. 26 bis 28 SGK vorlägen. Eine ihrem Wesen nach gänzlich neue Bedrohungslage sei daher nicht erforderlich. Vielmehr sei ausreichend, wenn sich eine anhaltende Bedrohungslage aufgrund neuer Umstände oder Ereignisse verändert habe. Die primärrechtlich verankerte Pflicht der Union zur Achtung der Gleichheit der Mitgliedstaaten, zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, zum Schutz der nationalen Sicherheit und nicht zuletzt die alleinige Verantwortung der einzelnen Mitgliedstaaten für die nationale Sicherheit (siehe Art. 4 Abs. 2 Satz 3 EUV) sprächen im Übrigen dafür, dass die Mitgliedstaaten angesichts systemischer Mängel und einer außergewöhnlichen Bedrohungslage unabhängig von einer „neuen“ Bedrohungslage über den in Art. 25 Abs. 4 SGK vorgesehenen Zeitraum hinaus temporäre Binnengrenzkontrollen anordnen dürften. Der streitgegenständlichen Anordnung temporärer Grenzkontrollen liege jedenfalls eine – qualitativ und quantitativ – neue ernsthafte Bedrohungslage im Sinne des Art. 25 Abs. 1 Satz 1 SGK zugrunde. Dabei sei die gerichtliche Überprüfung einer solchen Bedrohungslage nur eingeschränkt möglich, weil dem Bundesministerium des Innern und für Heimat (BMI) insoweit ein weiter Beurteilungsspielraum zukomme. Unter anderem aus Art. 26 Satz 1 SGK ergebe sich, dass die Exekutive dazu ermächtigt sei, eine Prognoseentscheidung über die Entwicklung des Migrationsgeschehens zu treffen. Der Beurteilungsspielraum erstrecke sich gerade auch auf die Neuartigkeit der ernsthaften Bedrohungslage. Die Exekutive müsse auf Grundlage eines dynamischen Migrationsgeschehens evaluieren, ob relevante Umstände oder Ereignisse dazu beitrügen, dass sich eine neue Bedrohungslage entwickele, die die Wiedereinführung temporärer Binnengrenzkontrollen erforderlich mache. Jedenfalls seien aber die Voraussetzungen des Art. 25 Abs. 1 Satz 1 SGK erfüllt gewesen. Die Beklagte habe sich im September 2015 dazu veranlasst gesehen, erstmalig temporäre Kontrollen an der deutsch-österreichischen Grenze anzuordnen. Für die Bewertung der streitgegenständlichen Identitätsfeststellung am 11. Juni 2022 sei allein die Anordnung temporärer Grenzkontrollen des BMI für die deutsch-österreichische Grenze vom 14. April 2022 maßgeblich. Diese habe zum einen auf der Bedrohungslage beruht, wie sie sich seit der vorangegangenen Anordnung am 15. Oktober 2021 gänzlich neu dargestellt habe, und zum anderen aufgrund weiterer Ereignisse, die in der Zwischenzeit das bestehende Migrationsgeschehen nur noch weiter intensiviert hätten. Insbesondere aufgrund des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine hätte sich die Fluchtbewegung in Richtung Deutschland im Frühjahr 2022 drastisch verstärkt. Die Bedrohungslage für die öffentliche Ordnung und die innere Sicherheit habe sich durch die Krise an der Grenze zwischen Belarus und der Europäischen Union sowie die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan verschärft. Darüber hinaus seien bereits bekannte Migrationsrouten stärker frequentiert worden, der EU-Außengrenzschutz sei defizitär geblieben, die Schleuserkriminalität sei angestiegen und die Anzahl unautorisierter Grenzübertritte in Deutschland, insbesondere auch im Rahmen einer irregulären Sekundärmigration, habe sich erhöht. Darüber hinaus sei die Anordnung temporärer Binnengrenzkontrollen an der deutsch-österreichischen Grenze zwischen 12. Mai und 11. November 2022 verhältnismäßig gewesen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichts- und Behördenakten beider Instanzen sowie auf das Protokoll über die mündliche Verhandlung am 17. März 2025.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Berufung des Klägers ist begründet; die Klage ist zulässig und begründet.
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1. Die Klage ist als Fortsetzungsfeststellungsklage gemäß § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO analog zulässig. Sie ist insbesondere statthaft, da die an den Kläger gerichtete Aufforderung im Rahmen der Identitätsfeststellung vom 11. Juni 2022, sich auszuweisen, ein Verwaltungsakt ist, der sich bereits vor Klageerhebung erledigt hat.
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Nach Angaben der Beklagten wurden an diesem Tag im zwischen Passau und Plattling verkehrenden, aus Österreich kommenden ICE 28 alle Fahrgäste des Zugteils, in dem sich der Kläger befand, unterschiedslos kontrolliert; sie spricht von auf § 23 Abs. 1 Nr. 2 BPolG gestützten Grenzkontrollen bzw. einer Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs (vgl. Klageerwiderung vom 25.8.2022 S. 2 f.; Berufungserwiderung vom 13.9.20244 Rn. 139). Es handelte sich damit um eine Binnengrenzkontrolle im Sinne der Art. 2 Nr. 1 Buchst. a) und Nr. 10, Art. 22 ff. SGK. Entgegen dem Vortrag der Beklagten (Berufungserwiderung Rn. 140) steht diesem Zweck der polizeilichen Maßnahme nicht entgegen, dass der Kläger den Zug erst in Passau bestieg und folglich die Grenze an diesem Tag nicht überquert hat. Allein der Umstand, dass es sich um stichprobenartige Kontrollen gehandelt haben mag, wie die Beklagte vorträgt, ändert nichts am Charakter als Grenzkontrolle. Werden polizeiliche Maßnahmen in Grenzgebieten auf der Grundlage von Stichproben durchgeführt, ist dies gemäß Art. 23 Buchst. a) Satz 2 Nr. iv) SGK nur ein Indiz, das grundsätzlich gegen eine gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen (Art. 2 Nr. 11 SGK) sprechen kann. Dieses mögliche Indiz ist vorliegend bereits durch die eindeutige Zweckrichtung als Grenzkontrolle (vgl. auch Art. 23 Buchst. a) Satz 2 Nr. i SGK) widerlegt.
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Der Kläger verfügt auch über das nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO analog erforderliche berechtigte Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit der Identitätsfeststellung.
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a) Ein berechtigtes Feststellungsinteresse ergibt sich nicht bereits unter dem Gesichtspunkt der kurzfristigen Erledigung der Identitätsfeststellung, nachdem der Kläger der Aufforderung, sich auszuweisen, nachgekommen ist.
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Zwar handelt es sich bei der Identitätsfeststellung um eine Maßnahme, die sich typischerweise so kurzfristig erledigt, dass sie regelmäßig nicht Gegenstand einer Überprüfung im gerichtlichen Hauptsacheverfahren sein kann. Die weitere Voraussetzung eines qualifizierten (tiefgreifenden, gewichtigen bzw. schwerwiegenden) Grundrechtseingriffs (vgl. BVerwG, U.v. 24.4.2024 – 6 C 2.22 – juris Rn. 22 ff.) ist jedoch vorliegend nicht erfüllt. Die Aufforderung, sich auszuweisen, stellt lediglich einen geringfügigen Eingriff dar. Dies gilt insbesondere auch im Hinblick darauf, dass der Kläger nicht geltend macht, er sei von einer in diskriminierender Art und Weise durchgeführten Identitätsfeststellung betroffen gewesen (vgl. zu „Racial Profiling“ EGMR, U.v. 18.10.2022 – 215/19 – NJW 2023, 139). Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (a.a.O. Rn. 31) verlangen auch europarechtliche Vorgaben nicht, dass das nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO als Sachurteilsvoraussetzung geforderte Fortsetzungsfeststellungsinteresse in allen Fällen einer typischerweise kurzfristigen Erledigung der angegriffenen Maßnahme unabhängig von dem Vorliegen eines qualifizierten Grundrechtseingriffs bejaht werden müsste. Allein der Umstand, dass die Identitätskontrolle möglicherweise das unionsrechtliche Freizügigkeitsrecht (Art. 45 Abs. 1 GRC, Art. 21 Abs. 1 AEUV) berührt, genügt nicht zur Annahme eines qualifizierten Eingriffs.
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b) Allerdings ist ein berechtigtes Feststellungsinteresse im Hinblick auf eine hinreichende Wiederholungsgefahr zu bejahen.
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aa) Ein mit der drohenden Wiederholung eines erledigten Verwaltungsakts begründetes berechtigtes Interesse an der Feststellung von dessen Rechtswidrigkeit setzt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. z.B. B.v. 23.11.2022 – 6 B 22.22 – Rn. 13 m.w.N.) und des Verwaltungsgerichtshofs (vgl. z.B. U.v. 10.4.2024 – 10 B 23.319 – juris Rn. 37) die konkrete oder hinreichend bestimmte Gefahr voraus, dass unter im Wesentlichen unveränderten tatsächlichen und rechtlichen Umständen ein gleichartiger Verwaltungsakt ergehen wird. Dem zukünftigen behördlichen Vorgehen müssen allerdings nicht in allen Einzelheiten die gleichen Umstände zugrunde liegen. Für das Feststellungsinteresse ist entscheidend, ob die rechtlichen und tatsächlichen Voraussetzungen künftigen Verwaltungshandelns unter Anwendung der dafür maßgeblichen Rechtsvorschriften geklärt werden können. Es reicht aus, dass ein gerichtliches Feststellungsurteil noch einen relevanten Ertrag für die rechtliche Beurteilung der in Zukunft gegebenen Sachlage zu erbringen vermag (vgl. BVerwG, a.a.O. Rn. 16).
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Im Zusammenhang mit den Anforderungen an ein berechtigtes Feststellungsinteresse wegen Wiederholungsgefahr hat die Beklagte auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 6. September 2018 – C-430/16 P – juris Rn. 50 und 65 Bezug genommen. Diese Entscheidung betrifft das Rechtsschutzinteresse nach Erledigung des Streitgegenstands einer Nichtigkeitsklage gemäß Art. 263 AEUV. Die Beklagte hat selbst nicht vorgetragen und es ist auch sonst nicht ersichtlich, dass sich aus dieser Entscheidung von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts erheblich abweichende Rechtsgrundsätze ergeben. In der mündlichen Verhandlung am 17. März 2025 (vgl. Protokoll S. 2 f.) hat die Bevollmächtigte der Beklagten vielmehr ausgeführt, es komme darauf an, dass der Kläger selbst eindeutig und konkret belegen müsse, woraus sich die Wiederholungsgefahr ergebe; das bedeute, dass auch nach europäischem Recht kein großzügigerer Maßstab gelte. Unabhängig davon ist es im Hinblick auf die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten auch nicht geboten, prozessrechtliche Grundsätze für Verfahren vor dem EuGH auf das nationale Prozessrecht zu übertragen.
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bb) Es besteht die hinreichende Gefahr, dass der Kläger zukünftig unter im Wesentlichen tatsächlich unveränderten Umständen von einer Identitätsfeststellung betroffen sein wird.
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Die strittige Maßnahme der Identitätsfeststellung auf der Grundlage des § 23 Abs. 1 Nr. 2 BPolG kann sich im Zusammenhang mit einer Überquerung der deutsch-österreichischen Grenze durch den Kläger jederzeit in vergleichbarer Art und Weise wiederholen. Er wird mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auch künftig derartigen Passkontrollen unterzogen, da er häufig sowohl aus dienstlichen als auch aus privaten Gründen diese Grenze passiert. Der Umstand, dass er unstreitig (vgl. Schriftsatz der Beklagten vom 13.9.2024 Rn. 81) nach der Kontrolle vom 11. Juni 2022 mehrfach erneut von Kontrollen betroffen war, sich die Wiederholungsgefahr also schon mehrfach realisiert hat, bestätigt im Übrigen eine fortbestehende hinreichende Wiederholungsgefahr. Die Beklagte hat nicht vorgetragen und es deutet auch sonst nichts darauf hin, dass Binnengrenzkontrollen zu Österreich, die erstmals im Jahr 2015 befristet wiedereingeführt und seitdem jeweils kontinuierlich verlängert bzw. neu angeordnet wurden, in absehbarer Zukunft entfallen könnten. Das Bundesministerium des Innern und für Heimat (BMI) hat die Binnengrenzkontrollen an der deutsch-österreichischen Grenze zuletzt mit Wirkung zum 12. November 2024 befristet bis 15. März 2025 wiedereingeführt (vgl. Mitteilung des BMI vom 15.10.2024) und anschließend bis 15. September 2025 verlängert (vgl. Mitteilung des BMI vom 12.2.2025). Gemäß § 25a Abs. 5 SGK in der aktuellen, am 10. Juli 2024 in Kraft getretenen Fassung könnten grundsätzlich zwei weitere Verlängerungen für einen Zeitraum von jeweils bis zu sechs Monaten in Betracht kommen. Es liegen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die Beklagte künftig ihre Vorgehensweise bei der Anordnung von Binnengrenzkontrollen und bei in diesem Rahmen erfolgenden Identitätsfeststellungen wesentlich ändern wird (vgl. BVerwG, B.v. 23.11.2022 – 6 B 22.22 – Rn. 16).
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cc) Die rechtlichen und tatsächlichen Voraussetzungen künftigen Verwaltungshandelns können auch im Sinne der zitierten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts unter Anwendung der dafür maßgeblichen Rechtsvorschriften geklärt werden; ein gerichtliches Feststellungsurteil kann einen relevanten Ertrag für die künftige rechtliche Beurteilung erbringen. Dem steht nicht entgegen, dass durch die VO (EU) 2024/1717 mit Wirkung vom 10. Juli 2024 eine geänderte Fassung der Art. 24 ff. SGK (im Folgenden: SGK n.F.) in Kraft getreten ist (vgl. zur Wiederholungsgefahr bei geänderter Rechtslage BVerwG, U.v. 17.5.2017 – 8 CN 1.16 – juris Rn. 13; U.v. 11.4.2002 – 7 CN 1.02 – juris Rn. 13).
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Unter den Beteiligten ist im Kern insbesondere auch die Frage strittig, ob die Anordnung der Binnengrenzkontrollen an der deutsch-österreichischen Grenze für den streitgegenständlichen Zeitraum (12.5.2022 bis 11.11.2022) als zulässige erneute Wiedereinführung dieser Kontrollen wegen einer (neuen) ernsthaften Bedrohung im Sinne von Art. 25 Abs. 1 Satz 1 SGK oder als bloße Verlängerung der Kontrollen wegen einer anhaltenden Gefahr (Art. 25 Abs. 2 SGK) anzusehen ist, womit möglicherweise die Höchstdauer von 6 Monaten (Art. 25 Abs. 4 Satz 1 SGK) überschritten wäre. Die Frage, nach welchen Kriterien eine fortdauernde von einer neuen Bedrohungslage abzugrenzen ist, stellt sich auch nach der am 10. Juli 2024 in Kraft getretenen Rechtsänderung. Es wird weiterhin unterschieden zwischen der Einführung von Grenzkontrollen wegen einer ernsthaften Bedrohung (Art. 25 Abs. 1 SGK n.F.) und der Verlängerung von Grenzkontrollen, wenn dieselbe ernsthafte Bedrohung anhält (Art. 25 Abs. 3 Unterabs. 1 SGK n.F.).
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Die Rechtslage hat sich insoweit nur unwesentlich durch die Ergänzung in Art. 25 Abs. 3 Unterabs. 2 SGK n.F. geändert, wonach dieselbe ernsthafte Bedrohung als anhaltend gilt, wenn die Begründung des Mitgliedstaats für die Verlängerung der Grenzkontrollen auf denselben Gründen beruht wie die Begründung für die ursprüngliche Wiedereinführung der Grenzkontrollen. Dadurch wird nicht näher geklärt, welche „Gründe“ eine anhaltende von einer neuen Bedrohungslage unterscheiden. Es fehlen auch Anhaltspunkte dafür, dass durch die geänderte Normfassung die diesbezüglichen Kriterien geändert werden sollten. Insbesondere spricht nichts dafür, dass eine Abkehr von den in der Rechtsprechung des EuGH (vgl. U.v. 26.04.2022 – C-368/20 – juris Rn. 66 und 80 f.) hierfür entwickelten Abgrenzungskriterien beabsichtigt war. Die Mitgliedstaaten sollten weiterhin die Befugnis haben, darüber zu entscheiden, ob die vorübergehende Wiedereinführung oder die Verlängerung von Grenzkontrollen erforderlich ist (vgl. EG 14 zur Verordnung [EU] 2024/1717). Dabei wurde auch die ständige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in den Blick genommen (vgl. EG 40 und 41 betreffend materielle Anforderungen an die Wiedereinführung und Verlängerung von Binnengrenzkontrollen).
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In der Neufassung des Art. 25 Abs. 1 SGK wird zwar der unbestimmte Rechtsbegriff einer „ernsthaften Bedrohung“ mithilfe von Beispielsfällen konkretisiert, nicht dagegen abschließend definiert. Erst recht wird nicht geklärt, unter welchen Voraussetzungen keine anhaltende, sondern eine neue Bedrohung vorliegt. Das gilt insbesondere auch für den Fall einer plötzlichen „außergewöhnlichen Situation“ einer sehr hohen Zahl „unerlaubter Migrationsbewegungen von Drittstaatsangehörigen zwischen den Mitgliedstaaten“ im Sinne des Art. 25 Abs. 1 Buchst. c) SGK n.F.; nicht definiert wird, unter welchen Voraussetzungen eine derartige Situation andauern würde oder als neu anzusehen wäre.
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Weiter bleibt auch unter der neuen Rechtslage von Bedeutung, auf welcher tatsächlichen Grundlage die Rechtmäßigkeit der Wiedereinführung einer Binnengrenzkontrolle zu beurteilen ist. Der Kläger hält insoweit den Inhalt der Notifizierung des BMI (vgl. Art. 27 Abs. 1 SGK bzw. Art. 25a Abs. 2 und 4 i.V.m. Art. 27 Abs. 1 SGK n.F.) für maßgeblich, während die Beklagte darüber hinaus Umstände für berücksichtigungsfähig hält, die in der Notifizierung nicht angesprochen werden.
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In Bezug auf die Möglichkeit, Binnengrenzkontrollen anzuordnen, beruft sich die Beklagte zusätzlich auf die alleinige Verantwortung der Mitgliedstaaten für die die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der nationalen Sicherheit (Art. 4 Abs. 2 Satz 3 EUV, Art. 72 AEUV). Es ist auch für etwaige Wiederholungsfälle von Bedeutung, inwieweit die Anordnung von Binnengrenzkontrollen unmittelbar auf diese Zuständigkeit gestützt werden kann.
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Schließlich besteht auch ein – im vorliegenden Verfahren möglicherweise klärungsfähiger – Dissens zwischen den Beteiligten, inwieweit der Beklagten insbesondere auch im Rahmen der Prognose und Bewertung einer Bedrohungslage ein Beurteilungsspielraum zusteht, der nur einer eingeschränkten gerichtlichen Überprüfung unterliegen könnte.
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Im Hinblick auf die vorgenannten Fragen würde eine gerichtliche Feststellung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auch zur Klärung der Rechtslage in einem künftigen vergleichbaren Fall beitragen.
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2. Die Klage ist begründet. Die auf § 23 Abs. 1 Nr. 2 BPolG gestützte Feststellung der Identität des Klägers war rechtswidrig und verletzte ihn in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO analog).
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Gemäß § 23 Abs. 1 Nr. 2 BPolG kann die Bundespolizei die Identität einer Person zur polizeilichen Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs feststellen. Diese Befugnis ist unionsrechtskonform dahin auszulegen, dass sie nicht Grenzübertrittskontrollen und Kontrollen gleicher Wirkung an den Binnengrenzen erfasst, die gemäß Art. 22 i.V.m. Art. 23 Buchst. a) SGK grundsätzlich unzulässig sind (vgl. Schenke in Schenke/Graulich/Ruthig, Sicherheitsrecht des Bundes, 2. Aufl. 2019, Rn. 8 zu § 23 BPolG; Wehr, BPolG, 3. Online-Aufl. 2021, § 2 Rn. 9, § 23 Rn. 4). Die Befugnis erstreckt sich nur auf solche Binnengrenzkontrollen, die ein Mitgliedstaat in Einklang mit Titel III. Kapitel II. des Schengener Grenzkodex wiedereingeführt hat. Im Falle einer unionsrechtswidrigen Wiedereinführung der Binnengrenzkontrolle kann sich der Kläger darauf berufen, dass die Feststellung seiner Identität im Rahmen einer Binnengrenzkontrolle bzw. einer Kontrolle gleicher Wirkung ohne hinreichende Rechtsgrundlage erfolgte und damit jedenfalls sein Grundrecht auf allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) verletzt wurde. Ob zudem das unionsrechtliche Freizügigkeitsrecht (Art. 21 Abs. 1 AEUV; Art. 45 Abs. 1 GRC) betroffen ist, ist nicht entscheidungserheblich.
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Die Anordnung von Binnengrenzkontrollen für den Zeitraum vom 12. Mai 2022 bis 11. November 2022 an der deutsch-österreichischen Grenze war nicht von Art. 25 Abs. 1 Satz 1 SGK gedeckt. Sie wurde nicht mit einer neuen ernsthaften Bedrohung im Sinne dieser Vorschrift begründet, die grundsätzlich eine erneute Wiedereinführung der Kontrollen hätte rechtfertigen können.
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a) Gemäß dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 26. April 2022 (C-368/20 – juris) steht einer vorübergehenden Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen durch einen Mitgliedstaat auf der Grundlage der Art. 25 und 27 SGK die Regelung des Art. 25 Abs. 4 SGK entgegen, wenn die dort festgelegte Gesamthöchstdauer von sechs Monaten überschritten wird und keine neue Bedrohung vorliegt, die eine erneute Anwendung der in diesem Art. 25 SGK vorgesehenen Zeiträume rechtfertigen würde. Der Gerichtshof (a.a.O. Rn. 65 f.) weist zur Begründung u.a. auf die Erwägungsgründe 21 bis 23 des Schengener Grenzkodex hin, wonach in einem Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Personenverkehr gewährleistet ist und der eine der größten Errungenschaften der Union nach Art. 3 Abs. 2 EUV darstellt, die Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen eine Ausnahme bleiben und nur als letztes Mittel eingesetzt werden sollte. Der Umstand, dass Art. 25 SGK demnach eng auszulegen sei, spreche dagegen, dass ein Anhalten der ursprünglich festgestellten Bedrohung ausreiche, um die Wiedereinführung dieser Kontrollen über den in Art. 25 Abs. 4 SGK vorgesehenen Zeitraum von höchstens sechs Monaten hinaus zu rechtfertigen. Dies gelte selbst dann, wenn die anhaltende Bedrohung anhand neuer Umstände beurteilt werde oder die Notwendigkeit und die Verhältnismäßigkeit der zur Bewältigung dieser Bedrohung eingerichteten Kontrollen neu bewertet würden. Hinsichtlich der Kriterien zur Beurteilung, ob der Einführung von Binnengrenzkontrollen eine neue Bedrohung zugrunde liegt, weist der Gerichtshof (a.a.O. Rn. 80 f.) darauf hin, dass in Art. 27 Abs. 1 SGK für den Fall, dass der betreffende Mitgliedstaat den anderen Mitgliedstaaten und der Kommission seine Absicht mitteile, Kontrollen an den Binnengrenzen wiedereinzuführen, u. a. Bezug genommen werde auf „die Umstände, welche die Wiedereinführung der Kontrollen an den Binnengrenzen erfordern“, und „[Ereignisse], die eine ernsthafte Bedrohung“ der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit dieses Mitgliedstaats darstellen. Art. 27 Abs. 5 SGK nehme ebenso auf die „[Ereignisse], die der Anlass für die Wiedereinführung der Grenzkontrollen sind“, Bezug. Daher sei stets im Hinblick auf diese Umstände und Ereignisse zu beurteilen, ob nach Ablauf des in Art. 25 Abs. 4 SGK vorgesehenen Höchstzeitraums von sechs Monaten die Bedrohung, der sich dieser Mitgliedstaat ausgesetzt sehe, gleichbleibe oder ob es sich um eine neue Bedrohung handele, die es dem Mitgliedstaat ermögliche, unmittelbar nach Ablauf dieses Zeitraums von sechs Monaten die Kontrollen an den Binnengrenzen so fortzusetzen, dass dieser neuen Bedrohung begegnet werde. Das Auftreten einer neuen Bedrohung, die sich von der ursprünglich festgestellten unterscheide, könne eine erneute Anwendung der in Art. 25 SGK für die Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen vorgesehenen Zeiträume rechtfertigen, sofern die übrigen maßgeblichen Voraussetzungen erfüllt seien.
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b) Die Beklagte macht geltend, ihr stehe bei der Beurteilung, ob eine ernsthafte Bedrohung die Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen rechtfertigt, und den damit zusammenhängenden wertenden Prognoseentscheidungen ein gerichtlich nicht überprüfbarer Beurteilungsspielraum zu. Sie selbst geht bei Annahme eines nicht überprüfbaren Beurteilungsspielraums davon aus, dass der gerichtlichen Überprüfung unterliegen würde, ob die Verwaltung den maßgeblichen Sachverhalt zutreffend und vollständig ermittelt sowie die entscheidungserheblichen Gesichtspunkte erkannt hat und ob die Prognose der Behörde über den möglichen Verlauf der Entwicklung offensichtlich fehlerhaft ist und willkürfrei getroffen wurde. Ungeachtet dessen gehört jedenfalls zum gerichtlichen Prüfprogramm die Frage, ob nachvollziehbar ist, welcher konkrete Sachverhalt den Bewertungen und Prognosen der Beklagten zugrunde gelegt wurde, und schlüssig begründet wurde, dass nach ihrer Beurteilung die von ihr angenommene Bedrohungslage im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs eine neue Bedrohung darstellt, welche gemäß Art. 25 Abs. 1 SGK die Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen rechtfertigen kann (vgl. EuGH, U.v. 26.4.2022 – C-368/20 – juris Rn. 82).
35
c) Maßgebliche Beurteilungsgrundlage für das Vorliegen einer neuen Bedrohungslage ist vorliegend die Mitteilung des Bundesinnenministeriums vom 14. April 2022 gemäß Art. 27 Abs. 1 SGK zu Binnengrenzkontrollen an der deutsch-österreichischen Grenze im vorgenannten Zeitraum vom 12. Mai 2022 bis 11. November 2022. Ereignisse und Umstände, die in der Mitteilung vom 14. April 2022 zur Begründung für die Einführung der Binnengrenzkontrollen nicht (mit) angeführt wurden, können bei der rechtlichen Bewertung nicht berücksichtigt werden.
36
Dem liegt zugrunde, dass die Entscheidung eines Mitgliedstaats über die Wiedereinführung und Verlängerung von Grenzkontrollen auf einer Prognose zur Gefährdungslage und Bewertungen zu Notwendigkeit sowie Verhältnismäßigkeit dieser Maßnahme gemäß Art. 26 SGK beruht. Die Befugnis des Mitgliedstaats, einzuschätzen, ob eine ernsthafte Bedrohung im Sinne von Art. 25 Abs. 1 Satz 1 SGK vorliegt, Maßnahmen zur Gefahrenabwehr zu bewerten und darüber zu entscheiden, korrespondiert mit seiner Verpflichtung, seine Entscheidung in der Mitteilung an die anderen Mitgliedstaaten und die Kommission nach Art. 27 Abs. 1 SGK zu begründen. Gemäß Art. 27 Abs. 1 Satz 2 Buchst. a) SGK beinhaltet die Mitteilung u.a. die Gründe für die geplante Wiedereinführung, einschließlich sämtlicher sachdienlichen Daten zu den Ereignissen, die eine ernsthafte Bedrohung seiner öffentlichen Ordnung oder seiner inneren Sicherheit darstellen. Der Inhalt der Mitteilung ist u.a. Grundlage der Prüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit der geplanten Kontrollen durch die Kommission und andere Mitgliedstaaten (Art. 27 Abs. 4 SGK) und ggf. eines nachfolgenden Konsultationsverfahrens (Art. 27 Abs. 5 SGK). Dieses Verfahren wäre in Frage gestellt, wenn wesentliche Gründe nachgeschoben werden könnten, durch die Ziel und Zweck der mitgeteilten Entscheidung wesentlich verändert würden. Tatsächlichen Feststellungen, Bewertungen und Prognosen, die der Mitgliedstaat angestellt hat und die für seine Entscheidung erheblich waren, können nicht nachträglich wesentlich verändert werden, ohne zugleich die Entscheidungsgründe einschließlich der getroffenen Bewertungen zu den Kriterien gemäß Art. 26 SGK zu verändern. Jedenfalls müsste eine überarbeitete Mitteilung mit neuen Entscheidungsgründen vorgelegt und das Verfahren gemäß Art. 27 SGK erneut angestoßen werden. Hiervon zu unterscheiden ist das Recht der Kommission gemäß Art. 27 Abs. 1 Unterabs. 2 SGK, erforderlichenfalls – insbesondere, wenn die vom Mitgliedstaat übermittelten Angaben für die Prüfung der Kommission (Art. 27 Abs. 4 Unterabs. 2 SGK) nicht ausreichen sollten – zusätzliche Informationen anzufordern. Dieses Informationsverlangen betrifft die vom Mitgliedstaat mitgeteilte beabsichtigte Entscheidung; es beinhaltet nicht die Aufforderung an den Mitgliedstaat, diese Entscheidung abzuändern bzw. neu zu begründen. Im Übrigen heißt es auch in Erwägungsgrund Nr. 44 der Verordnung (EU) 2024/1717, der Meldung, die von den Mitgliedstaaten zu übermitteln sei, sollte eine ausschlaggebende Bedeutung zukommen, wenn es darum gehe, die Einhaltung der Kriterien und Bedingungen für die vorübergehende Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen zu beurteilen.
37
Erst recht können Gründe nicht erstmals in einem nachfolgenden Gerichtsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof oder einem nationalen Gericht nachgeschoben werden, die nicht bereits Gegenstand des Verfahrens gemäß Art. 27 SGK gewesen sind.
38
Dafür, dass Prüfungsmaßstab für die Rechtmäßigkeit der Einführung von Binnengrenzen allein die in der Mitteilung nach Art. 27 Abs. 1 SGK enthaltenen Gründe sind, spricht auch die Entscheidungspraxis des EuGH. Dessen Urteil vom 26. April 2022 (C368/20 – juris Rn. 91 bis 93) ist zu entnehmen, dass die Mitteilung als Grundlage einer Stellungnahme der Kommission nach Art. 27 Abs. 4 SGK Prüfungsgegenstand im dortigen Gerichtsverfahren war. Ebenso legte der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache C-368/20 (juris Rn. 45 mit Fn. 23) den Inhalt der dort streitgegenständlichen Mitteilungen an die Kommission zugrunde.
39
d) Aus dem Schreiben des Bundesinnenministeriums gemäß Art. 27 Abs. 1 SGK vom 14. April 2022 ergibt sich nicht, dass eine neue ernsthafte Bedrohung im Sinne des Art. 25 Abs. 1 Satz 1 SGK Grund für die Einführung von Binnengrenzkontrollen an der deutsch-österreichischen Grenze für den Zeitraum vom 12. Mai 2022 bis 11. November 2022 gewesen wäre. Darin wurde unter anderem ausgeführt, während die Instrumentalisierung des Migrationsgeschehens von Belarus mittlerweile zumindest erheblich habe reduziert werden können, bestehe nach wie vor ein erhebliches und ungesteuertes Ankunftsgeschehen von Migranten und Migrantinnen an den südlichen und südwestlichen Außengrenzen Europas. Zur Bewältigung und besseren Steuerung dieses Migrationsgeschehens müssten weiterhin alle rechtlichen sowie operativen Möglichkeiten ausgeschöpft und weiterentwickelt werden.
40
Von der sich anschließenden irregulären Sekundärmigration sei die Bundesrepublik Deutschland maßgeblich an der südlichen Bundesgrenze, d.h. an der deutsch-österreichischen Landesgrenze betroffen. Die Entwicklung des Migrationsgeschehens gebe leider keinen Anlass, von den bisherigen grenzpolizeilichen Maßnahmen abzusehen. Wie bereits mit Schreiben des Amtsvorgängers vom 15. Oktober 2021 geschildert, gebe es keine Anzeichen, dass sich das Potenzial irregulärer Migration über die Westbalkanstaaten und die höchst fragile Situation an der Grenze zwischen der Türkei und Griechenland entspannt hätten. Gleiches gelte für die Feststellung von Schleusungshandlungen. Dabei komme dem Phänomen der menschenverachtenden und oftmals lebensgefährlichen Behältnisschleusungen über die deutsch-österreichischen Landgrenze weiterhin besondere Bedeutung zu. Denn die stetigen Migrationsbewegungen durch die Staaten der Balkanregionen hin zur deutsch-österreichischen Landgrenze würden dabei durch seit Jahren etablierte Schleuserstrukturen geschützt.
41
Als Ereignisse, die nach Bewertung der Beklagten eine ernsthafte Bedrohung im Sinne des Art. 27 Abs. 1 Satz 2 Buchst. a) SGK darstellten und Kontrollen an der deutschösterreichischen Grenze erforderten, wurden demnach die unerlaubten Einreisen aufgrund von Sekundärmigration insbesondere über die Westbalkanstaaten einschließlich der Schleusungen angesehen, ausdrücklich wird dabei auf die in der Mitteilung vom 15. Oktober 2021 ausgeführten Gründe Bezug genommen, mit der die Wiedereinführung der Binnengrenzkontrollen an der deutsch-österreichischen Grenze für den Zeitraum vom 12. November 2021 bis 11. Mai 2022 angekündigt wurde. Seit dieser früheren Entscheidung eingetretene Ereignisse, die eine neue Bedrohungslage begründet hätten, sind dem Schreiben vom 14. April 2022 nicht zu entnehmen. Hinsichtlich einer Instrumentalisierung des Migrationsgeschehens von Belarus ist von einer mittlerweile zumindest erheblichen Reduzierung die Rede; im Übrigen ist der Darstellung nicht zu entnehmen, dass insoweit ein konkreter Zusammenhang mit dem Geschehen an der deutsch-österreichischen Grenze gesehen würde. Allenfalls erfolgte die Neubewertung einer fortdauernden Gefahr unter Berücksichtigung aktualisierter statistischer Zahlen zum Migrationsgeschehen an der deutsch-österreichischen Grenze (festgestellte unerlaubte Einreisen, Behältnisschleusungen, einreiseverhindernde Maßnahmen).
42
In der Gesamtschau handelt es sich der Sache nach um die Mitteilung, dass die Entscheidungsgründe im Schreiben vom 15. Oktober 2021 angesichts der im Wesentlichen unveränderten Sachlage ihre Gültigkeit behalten sollten, d.h. dass die Binnengrenzkontrollen aufgrund einer anhaltenden Gefahr beibehalten würden. Anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass am Ende des Schreibens vom 14. April 2022 davon die Rede ist, Binnengrenzkontrollen würden „neu angeordnet“; diese Formulierung hilft nicht darüber hinweg, dass im Schreiben keine neue Bedrohung dargelegt wird.
43
Wie oben ausgeführt, können nicht im Schreiben vom 14. April 2022 angeführte Gründe bei der Bewertung, ob die Einführung von Binnengrenzkontrollen durch eine neue ernsthafte Bedrohung begründet wurde, nicht berücksichtigt werden. Dies gilt insbesondere für den am 24. Februar 2022 begonnene Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und die daraus resultierenden Fluchtbewegungen. Im Übrigen wäre auch nicht plausibel, inwieweit dieses Geschehen zum damaligen Zeitpunkt an der deutschösterreichischen Grenze von besonderer Bedeutung gewesen wäre. Unabhängig davon reagierte die Europäischen Union auf die Flüchtlingsbewegungen aus der Ukraine mit dem Durchführungsbeschluss (EU) 2022/382 des Rates vom 4. März 2022; es wäre wohl aufgrund dieser koordinierten Vorgehensweise fernliegend gewesen, diesbezüglich Kontrollen beschränkt auf einzelne Binnengrenzabschnitte einzuführen.
44
Bei der Einführung von Binnengrenzkontrollen gemäß dem Schreiben vom 14. April 2022 handelt es sich folglich der Sache nach um die Verlängerung der bereits zuvor (weit) über sechs Monate andauernden Kontrollen, die damit gegen Art. 25 Abs. 4 Satz 1 SGK verstieß.
45
e) Die Einführung von Grenzkontrollen für den Zeitraum vom 12. Mai 2022 bis 11. November 2022 kann entgegen dem Vortrag der Beklagten auch nicht unter Verweis auf Art. 4 Abs. 2 Satz 3 EUV und Art. 72 AEUV gerechtfertigt werden.
46
Gemäß Art. 4 Abs. 2 Satz 3 EUV fällt insbesondere die nationale Sicherheit weiterhin in die alleinige Verantwortung der einzelnen Mitgliedstaaten. Nach Art. 72 AEUV berührt der Titel V des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union mitsamt dort geregelter Zuständigkeiten der Union für den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (Art. 67 – 89 AEUV) nicht die Wahrnehmung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit.
47
Der Europäische Gerichtshof ist in seinem Urteil vom 26. April 2022 (C-368/20 – juris Rn. 83 ff.) nicht dem Vorbringen der deutschen Regierung im dortigen Verfahren gefolgt, wonach sich die Mitgliedstaaten, wenn außergewöhnliche Umstände dies rechtfertigten, auf Art. 72 AEUV berufen könnten, um von den Bestimmungen des Schengener Grenzkodex abzuweichen, einschließlich der Gesamthöchstdauer für die Wiedereinführung von vorübergehenden Kontrollen an den Binnengrenzen. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sei es zwar allein Sache der Mitgliedstaaten, ihre wesentlichen Sicherheitsinteressen festzulegen und die geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um ihre innere und äußere Sicherheit zu gewährleisten; die bloße Tatsache, dass eine nationale Maßnahme (wie eine Entscheidung über Binnengrenzkontrollen) zum Schutz der nationalen Sicherheit getroffen worden sei, könne jedoch nicht dazu führen, dass das Unionsrecht unanwendbar sei und die Mitgliedstaaten von der erforderlichen Beachtung dieses Rechts entbunden würden. Gleiches müsse für nationale Maßnahmen gelten, die zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung eines Mitgliedstaats erlassen würden. Die in Art. 25 Abs. 4 SGK vorgesehene Gesamthöchstdauer wiedereingeführter Binnengrenzkontrollen von sechs Monaten sei Teil des umfassenden Rahmens, den der Unionsgesetzgeber in Ausübung der ihm durch Art. 3 Abs. 2 und 6 EUV in Verbindung mit Art. 5 Abs. 1 und 2 EUV sowie Art. 4 Abs. 2 Buchst. j und Art. 77 Abs. 2 Buchst. b und e AEUV übertragenen Zuständigkeiten in Bezug auf die Modalitäten für die Ausübung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit festgelegt habe. Mit diesem Rahmen solle gerade ein angemessenes Gleichgewicht, wie es in Art. 3 Abs. 2 EUV in Aussicht genommen werde, zwischen einerseits dem Ziel der Union, einen Raum ohne Binnengrenzen zu schaffen, in dem der freie Personenverkehr gewährleistet sei, und andererseits geeigneten Maßnahmen in Bezug auf die Kontrollen an den Außengrenzen, das Asyl, die Einwanderung sowie die Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität sichergestellt werden.
48
Diese Erwägungen können sinngemäß auf Art. 4 Abs. 2 Satz 3 EUV, der gleichermaßen die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten im Bereich der öffentlichen Sicherheit betont, übertragen werden.
49
Im Hinblick auf die Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit gemäß Art. 72 AEUV sieht im Übrigen Art. 23 Buchst. a SGK vor, dass das Ausbleiben der Grenzkontrollen an den Binnengrenzen nicht die Ausübung der polizeilichen Befugnisse durch die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten nach Maßgabe des nationalen Rechts berührt, sofern die Ausübung solcher Befugnisse nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen hat; dies gilt auch in Grenzgebieten (vgl. EuGH, B.v. 4.6.2020 – C- 554/19 – juris Rn. 35).
50
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.
51
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.
52
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.