Titel:
Ernstliche Zweifel (verneint), Ausweisung, Betäubungsmittelhandel mit Waffen, Maßregelvollzug abgebrochen, Assoziationsrechtliches Bleiberecht, Faktischer Inländer (verneint), Divergenz (verneint)
Normenketten:
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1, 4
AufenthG § 53 Abs. 3
AufenthG § 55 Abs. 1 Nr. 2
ARB 1/80 Art. 7
ARB 1/80 Art. 14
GG Art. 6
EMRK Art. 8
Schlagworte:
Ernstliche Zweifel (verneint), Ausweisung, Betäubungsmittelhandel mit Waffen, Maßregelvollzug abgebrochen, Assoziationsrechtliches Bleiberecht, Faktischer Inländer (verneint), Divergenz (verneint)
Vorinstanz:
VG Ansbach, Urteil vom 13.12.2022 – AN 5 K 21.2167
Fundstelle:
BeckRS 2025, 4266
Tenor
I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger hat die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 10.000,00 € festgesetzt.
Gründe
1
Mit dem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger, ein 1998 geborener türkischer Staatsangehöriger, seine in erster Instanz erfolglose Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 6. Dezember 2021 sowie auf Aufenthaltserlaubniserteilung weiter. Mit diesem Bescheid wies die Beklagte den Kläger aus dem Bundesgebiet aus (Ziffer 1), ordnete ein Einreise- und Aufenthaltsverbot für die Dauer von fünf Jahren an (Ziffer 2), lehnte den Antrag auf Aufenthaltserlaubniserteilung ab (Ziffer 3), kündigte dem Kläger die Abschiebung aus der Haft heraus in die Türkei an, sobald die straf- und aufenthaltsrechtlichen Voraussetzungen hierfür erfüllt seien (Ziffer 4) und drohte dem Kläger für den Fall des Nichteinhaltens der Frist zur freiwilligen Ausreise binnen einer Woche nach Entlassung aus der Haft die Abschiebung in die Türkei an (Ziffer 5).
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1. Das der rechtlichen Überprüfung durch den Senat ausschließlich unterliegende Vorbringen in der Begründung des Zulassungsantrags (§ 124a Abs. 4 Satz 4, Abs. 5 Satz 2 VwGO) rechtfertigt keine Zulassung der Berufung. Die geltend gemachten Zulassungsgründe der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO; dazu nachfolgend 1.1) und der Divergenz (§ 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO; dazu nachfolgend 1.2), deren Beurteilung sich grundsätzlich nach dem Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs richtet (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 12), sodass eine nachträgliche Änderung der Sach- und Rechtslage bis zum Zeitpunkt der Entscheidung in dem durch die Darlegung des Rechtsmittelführers vorgegebenen Prüfungsrahmen zu berücksichtigen ist (BayVGH, B.v. 20.2.2017 – 10 ZB 15.1804 – juris Rn. 7), liegen nicht vor.
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1.1 Die Berufung ist nicht aufgrund ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils zuzulassen (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).
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Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bestünden dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16; B.v. 8.5.2019 – 2 BvR 657/19 – juris Rn. 33). Dies ist jedoch nicht der Fall.
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1.1.1 Die Angriffe des Klägers gegen die Gefahrenprognose des Verwaltungsgerichts führen nicht zum Erfolg.
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Das Verwaltungsgericht ist davon ausgegangen, dass von dem Verhalten des Klägers mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auch gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgehe. Anlass für die Ausweisung seien die Taten des Klägers, derentwegen er mit Urteil des Landgerichts N. vom 17. August 2021 wegen bewaffneten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in Tateinheit mit unerlaubtem Besitz von Betäubungsmitteln und mit vorsätzlichem Besitz dreier verbotener Waffen zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und drei Monaten verurteilt worden sei. Ausgehend davon, dass gerade bei Fallgruppen besonders schwerer und schädlicher Delikte wie Betäubungsmitteldelikten an den Grad der Wiederholungswahrscheinlichkeit regelmäßig nur geringe Anforderungen zu stellen seien, gehe die Beklagte demnach zutreffend von einer gegenwärtigen Wiederholungsgefahr beim Kläger aus. Bei den vom Kläger begangenen Taten handele es sich um schwerwiegende Straftaten, die typischerweise mit einem hohen Wiederholungsrisiko verknüpft seien, zumal der illegale Handel mit Betäubungsmitteln regelmäßig mit einer hohen kriminellen Energie verbunden sei und in besonders schwerwiegender Weise Gesundheit und Leben anderer Menschen gefährde. Aus diesem Grund berühre die Gefährdung durch den Kläger auch Grundinteressen der Gesellschaft. Auch aus der Entwicklung des Klägers nach der Anlassverurteilung sei nicht darauf zu schließen, dass die durch die vergangenen Straftaten indizierte Gefährlichkeit des Klägers beseitigt sei. Ursache für die Begehung der genannten Straftaten sei zumindest auch die nicht erfolgreich therapierte Betäubungsmittelabhängigkeit des Klägers. Ausweislich des Therapieberichts der Maßregelvollzugseinrichtung vom 30. November 2022 sei es zu „einigen Rückfällen“ gekommen (welches der Kläger in der mündlichen Verhandlung eingeräumt habe); der Kläger befinde sich im Abbruch der Maßnahme und warte auf seine Verschubung in die JVA. Nach ständiger obergerichtlicher Rechtsprechung könne bei Straftaten, die auch auf der Suchterkrankung des Ausländers beruhten, von einem Wegfall der Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange der Ausländer nicht eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen und die damit verbundene Erwartung künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht habe. Angesichts der erheblichen Rückfallquoten während einer andauernden Drogentherapie und auch noch in der ersten Zeit nach dem erfolgreichen Abschluss einer Drogentherapie könne allein aus der begonnenen Therapie noch nicht auf ein künftiges straffreies Leben geschlossen werden. Der Kläger habe die Therapie nicht abgeschlossen, er befinde sich sogar im Abbruch der Maßnahme.
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1.1.1.1 Dagegen wendet der Kläger ein, die Gefahrenprognose beruhe auf einer unzutreffenden Tatsachengrundlage, da das Urteil zwar im Tatbestand erwähne, dass das Landgericht einen minder schweren Fall angenommen habe, hierauf aber bei der Feststellung, dass die Tat einer unbenannten Fallgruppe besonders schwerwiegender Taten zuzuordnen sei, nicht zu sprechen komme. Das Verwaltungsgericht gehe vielmehr von einer typischerweise hohen kriminellen Energie aus, was aber gerade nicht ohne nähere Darlegung zutreffend sein könne, wenn das Landgericht einen minder schweren Fall bejaht habe. Weitergehende Aufklärung habe das Verwaltungsgericht nicht vorgenommen. Insoweit sei das Urteil in sich widersprüchlich. Auch die Beklagte habe im angefochtenen Bescheid nicht berücksichtigt, dass ein minder schwerer Fall vorgelegen habe. Die Behörde zitiere letztlich das Landgericht auch falsch: Dieses führe aus, dass der „Großteil der Betäubungsmittelmenge mit Marihuana eine weiche Droge ausmache“. Die Beklagte habe daher die Feststellungen des Landgerichts nicht vollständig in ihrem Sinngehalt zur Grundlage ihrer Entscheidung gemacht. Darauf habe das Verwaltungsgericht Bezug genommen, was sowohl in tatsächlicher Hinsicht als auch materiell-rechtlich fehlerhaft sei.
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Dem vermag der Senat nicht zu folgen. Das Verwaltungsgericht hat im Tatbestand ausgeführt, dass das Landgericht den Strafrahmen des minder schweren Falles des § 30a Abs. 3 BtMG zur Anwendung gebracht hat, und dort auch die Erwägungen der Strafkammer zur Strafzumessung wiedergegeben. Dies steht jedoch der Annahme des Verwaltungsgerichts, dass es sich (dennoch) um schwerwiegende Straftaten handele, bei denen ein hohes Wiederholungsrisiko bestehe, weil diese Taten mit einer hohen kriminellen Energie verbunden seien und höchstrangige Rechtsgüter gefährdeten, nicht entgegen. Der Kläger legt nicht dar, weshalb die Wiederholungsgefahr aufgrund des durch das Landgericht (hinsichtlich des anzuwendenden Strafrahmens) angenommenen minder schweren Falls entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts vermindert oder ausgeschlossen sein sollte. Weder handelt es sich der konkreten Begehungsweise nach um weniger gefährliche Taten – zumal der Kläger in unmittelbarer Nähe zu den Betäubungsmitteln in seinem Zimmer griffbereit eine Stahlrute, einen Schlagring, ein Butterflymesser sowie einen Teleskopschlagstock aufbewahrte, um diese potentiell gegen Menschen einzusetzen und seine Betäubungsmittel zu verteidigen –, noch legt der Kläger dar, weshalb aufgrund des „minder schweren Falles“ die Gefahr künftiger Schäden an bedeutenden Rechtsgütern wie Gesundheit und Leben anderer Menschen verringert sein sollte. Da das Verwaltungsgericht eine eigene Gefahrenprognose vorzunehmen hatte (BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 18) und eine solche auch vorgenommen hat, kommt es im Übrigen auf die Erwägungen der Beklagten zur Gefahrenprognose im streitgegenständlichen Bescheid nicht maßgeblich an.
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1.1.1.2 Des Weiteren rügt der Kläger, das Verwaltungsgericht gehe davon aus, dass aufgrund der den Ausweisungsanlass bildenden Verurteilung durch das Landgericht eine erhebliche Wiederholungsgefahr bestehe. Dabei lasse es sich von der Überlegung leiten, dass es „Fallgruppen“ gäbe, bei denen an den Grad der Wiederholungswahrscheinlichkeit geringe Anforderungen zu stellen seien. Diese Auffassung sei mit dem Gesetzeswortlaut nicht in Einklang zu bringen. Im Ergebnis führe diese Auffassung zu der Annahme, die Gefahr sei gesetzlich indiziert, sobald eine Strafe eine bestimmte Höhe erreiche. Eine derartige gesetzgeberische Entscheidung liege jedoch gerade nicht vor. Im Gegenteil kenne das Ausweisungsrecht in der derzeit gültigen Fassung gerade keine indizierte Gefahr, sondern verlange in jedem Einzelfall eine vollumfängliche individuelle Gefahrenprognose. Es sei auch nicht erkennbar, weshalb Betäubungsmitteldelikte per se „besonders schwere“ Delikte seien sollten.
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Dieser Rüge vermag sich der Senat ebenfalls nicht anzuschließen.
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Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen (BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 18). Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (BVerwG, U.v. 16.11.2000 – 9 C 6.00 – juris Rn. 16; BayVGH, U.v. 30.10.2012 – 10 B 11.2744 – juris Rn. 33 m.w.N.). Da jeder sicherheitsrechtlichen Gefahrenprognose nach den allgemeinen Grundsätzen des Gefahrenabwehrrechts eine Korrelation aus Eintrittswahrscheinlichkeit und (möglichem) Schadensausmaß zugrunde liegt, sind an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (stRspr; vgl. BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 16; U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – juris Rn. 16; U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – juris Rn. 18; U.v. 6.9.1974 – 1 C 17.73 – juris Rn. 23; U.v. 17.3.1981 – 1 C 74.76 – juris Rn. 29; U.v. 3.7.2002 – 6 CN 8.01 – juris Rn. 41). Die Annahme einer Wiederholungsgefahr scheidet nicht erst dann aus, wenn eine an naturwissenschaftlichen Erkenntnismaßstäben orientierte Gewissheit gegeben ist, dass der Ausländer nicht mehr straffällig wird, sondern bereits dann, wenn bei Anwendung praktischer Vernunft neue Verfehlungen nicht (mehr) in Rechnung zu stellen sind, d.h. das von dem Ausländer ausgehende Risiko bei Würdigung aller wesentlichen Umstände des Einzelfalls letztlich kein anderes ist, als es bei jedem Menschen mehr oder weniger besteht (BVerwG, U.v. 17.10.1984 – 1 B 61.84 – juris Rn. 7; VGH BW, U.v. 2.1.2023 – 12 S 1841/22 – juris Rn. 45 m.w.N.).
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Steht dem Ausländer – wie vom Verwaltungsgericht zugunsten des Klägers angenommen – ein Aufenthaltsrecht nach dem Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrats vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation EWG-Türkei (ARB 1/80) zu, sind an die Qualität der erforderlichen Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung erhöhte Anforderungen zu stellen. Er darf nach § 53 Abs. 3 AufenthG nur ausgewiesen werden, wenn sein persönliches Verhalten gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, und wenn die Ausweisung zur Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist. Bei der Feststellung der in § 53 Abs. 3 AufenthG genannten schwerwiegenden Gefahr, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (zu diesem Maßstab vgl. EuGH, U.v. 8.12.2011 – C-371/08, Ziebell – juris Rn. 82 ff.), handelt es sich um eine Prognose, die Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts eigenständig zu treffen haben (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 18). Die Indizien, die für diese Prognose heranzuziehen sind, ergeben sich nicht nur aus dem Verhalten im Strafvollzug und danach. Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (vgl. BVerwG, U.v. 16.11.2000 – 9 C 6.00 – BVerwGE 112, 185, juris Rn. 14; vgl. auch BVerwG, B.v. 4.5.1990 – 1 B 82.89 – NVwZ-RR 1990, 649, juris Rn. 4). An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (stRspr; vgl. z.B. BayVGH, U.v. 30.10.2012 – 10 B 11.2744 – juris Rn. 34; BVerwG, U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – Rn. 18).
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Gemessen an diesen Grundsätzen ist die Gefahrenprognose des Verwaltungsgerichts nicht zu beanstanden. Für die Annahme einer konkreten Wiederholungsgefahr als Tatbestandsvoraussetzung einer spezialpräventiven Ausweisung genügt, wie dargestellt, eine hinreichende Wahrscheinlichkeit der erneuten Begehung vergleichbarer (nicht gleichartiger) Straftaten durch den Ausländer. Das Verwaltungsgericht hat die Gefahrenprognose konkret mit dem Verhalten des Klägers, insbesondere der Anlassverurteilung durch das Landgericht N. vom 17. August 2021 und den konkret begangenen Taten sowie den dadurch gefährdeten hochrangigen Rechtsgütern begründet. Darüber hinaus gehend hat es auch die weitere Entwicklung des Klägers nach den abgeurteilten Straftaten, insbesondere nach der Verurteilung, und damit auch die begonnene Drogentherapie im Maßregelvollzug in den Blick genommen. Trotz der vom Kläger beanstandeten Formulierung, es seien „bei Fallgruppen besonders schwerer und schädlicher Delikte wie Betäubungsmitteldelikten“ an den Grad der Wiederholungswahrscheinlichkeit regelmäßig nur geringe Anforderungen zu stellen, geht aus den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils nicht hervor, dass das Verwaltungsgericht die Umstände des Einzelfalls im Rahmen der Gefahrenprognose nicht berücksichtigt und die Taten des Klägers unreflektiert einer „Fallgruppe“ zugeordnet hätte. Vielmehr setzt sich das Verwaltungsgericht im Rahmen seiner Prognoseentscheidung ausführlich mit den maßgeblichen Umständen des Einzelfalles auseinander (vgl. BVerwG, U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – juris Rn. 12). Ausgehend von dem Grundsatz, dass an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen sind, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist („gleitender Wahrscheinlichkeitsmaßstab“), nimmt das Verwaltungsgericht zu Recht eine gegenwärtige und schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung an, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt:
14
In Übereinstimmung mit der Auffassung des Verwaltungsgerichts kann im Falle des Klägers nicht davon ausgegangen werden, dass das vom Kläger ausgehende Risiko bei Würdigung aller wesentlichen Umstände des Einzelfalls letztlich kein anderes ist, als es bei jedem Menschen mehr oder weniger besteht. Auch insoweit sind die Einzelumstände maßgeblich, da ein allgemeines Erfahrungswissen nicht zu einer schematischen Gesetzesanwendung führen darf (vgl. BVerfG, B.v. 18.4.2024 – 2 BvR 29/24 – juris Rn. 23; B.v. 6.12.2021 – 2 BvR 860/21 – juris Rn. 19). Der Kläger hat in der Vergangenheit mehrfach, auch während laufender Bewährung, Betäubungsmitteldelikte begangen. Anlass für die Ausweisung war die Verurteilung durch das Landgericht N. (Urteil vom 17.8.2021) wegen bewaffneten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in Tateinheit mit unerlaubtem Besitz von Betäubungsmitteln und mit vorsätzlichem Besitz dreier verbotener Waffen zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und drei Monaten. Das Landgericht hat – sachverständig beraten – einen Hang des Klägers, berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, festgestellt und deshalb gemäß § 64 StGB die Unterbringung des Klägers in einer Entziehungsanstalt als Maßregel der Besserung und Sicherung angeordnet. Aufgrund der fachlichen Stellungnahme der Maßregelvollzugseinrichtung sowie der Anhörung des Klägers hat die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts R. im Beschluss vom 4. Juli 2024 die (im Urteil des Landgerichts N. vom 17.8.2021 angeordnete) Unterbringung mangels hinreichend wahrscheinlichen Therapieerfolgs im Sinne des § 64 Abs. 2 StGB für erledigt erklärt, da es dem Kläger trotz der Unterbringung in zwei verschiedenen Therapieeinrichtungen und der Therapiedauer von etwa zwei Jahren nicht gelungen sei, eine intrinsisch motivierte Abstinenzentscheidung zu treffen. Bereits in der ersten Maßregelvollzugseinrichtung in E. führten mehrere Rückfälle und die darauf ausbleibende Verhaltensänderung des Klägers dazu, dass die behandelnden Therapeuten eine Erledigterklärung des Maßregelvollzugs anregten. Mit der Verlegung in eine andere Maßregelvollzugseinrichtung in P. und einem „Therapieneustart“ erhielt der Kläger eine zweite Chance, die er jedoch nicht für sich zu nutzen wusste. Denn es kam auch hier zu einem Rückfall, den der Kläger nicht umgehend offenlegte und so der therapeutischen Bearbeitung zugänglich machte. Stattdessen konsumierte er mit „Spice“ eine schwer nachweisbare Substanz auf der Station und gefährdete damit auch die Therapieerfolge seiner Mitpatienten. Somit kann nach den Gesamtumständen nicht auf einen dauerhaften Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung des Klägers geschlossen werden, die ein Entfallen der Wiederholungsgefahr rechtfertigen würde (vgl. BayVGH, B.v. 13.10.2017 – 10 ZB 17.1469 – juris Rn. 12; BayVGH, B.v. 6.5.2015 – 10 ZB 15.231 – juris Rn. 11). Inwiefern es unter diesen Umständen und angesichts der sachverständig beratenen Feststellungen der Strafvollstreckungskammer entscheidend darauf ankommen sollte, dass „aus den Feststellungen des Landgerichts (im Strafverfahren), wonach es in diesem Zusammenhang zu innerfamiliären Konflikten gekommen sei, ein prognostisch günstiger Umstand (folge), da sich der Kläger durch das Verfahren auch gegenüber der Familie geöffnet habe“, legt der Kläger nicht dar. Vielmehr ist aufgrund der gescheiterten Behandlung und der hohen Rückfallgeschwindigkeit des Klägers sowie seines gezeigten rücksichtslosen Verhaltens gegenüber den Rechtsgütern anderer Menschen weiterhin von einer hohen Wiederholungswahrscheinlichkeit und damit von einer gegenwärtigen sowie schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung auszugehen.
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Betäubungsmitteldelikte gehören zu den schweren, Grundinteressen der Gesellschaft berührenden und schwer zu bekämpfenden Straftaten (vgl. Art. 83 Abs. 1 Unterabs. 2 AEUV). Die Folgen des Betäubungsmittelkonsums, insbesondere für junge Menschen, können äußerst gravierend sein. In ständiger Rechtsprechung ist anerkannt, dass die Gefahren, die vom illegalen Handel mit Betäubungsmitteln ausgehen, schwerwiegend sind und ein Grundinteresse der Gesellschaft berühren (BVerwG, U.v. 14.5.2013 – 1 C 13.12 – juris Rn. 12 m.w.N. zur Rechtsprechung des EuGH und des EGMR; BayVGH, B.v. 7.3.2019 – 10 ZB 18.2272 – juris Rn. 7). Der Europäische Gerichtshof (EuGH) sieht in der Rauschgiftsucht ein „großes Übel für den Einzelnen und eine soziale und wirtschaftliche Gefahr für die Menschheit“ (EuGH, U.v. 23.11.2010 – C-149/09, „Tsakouridis“ NVwZ 2011, 221 Rn. 47). Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat mehrfach klargestellt, dass er bei der Verurteilung eines Ausländers wegen eines Betäubungsmitteldelikts – wie vorliegend – in Anbetracht der verheerenden Auswirkungen von Drogen auf die Bevölkerung Verständnis dafür hat, dass die Vertragsstaaten in Bezug auf diejenigen, die zur Verbreitung dieser Plage beitragen, entschlossen durchgreifen (EGMR, U.v. 30.11.1999 – Nr. 3437-97, „Baghli“ – NVwZ 2000, 1401, U.v. 17.4.2013 – Nr. 52853/99‚ “Yilmaz“ – NJW 2004, 2147; vgl. OVG NRW, B.v. 17.3.2005 – 18 B 445.05 – juris). Die von unerlaubten Betäubungsmitteln ausgehenden Gefahren betreffen die Schutzgüter des Lebens und der Gesundheit, welche in der Hierarchie der in den Grundrechten enthaltenen Werteordnung einen hohen Rang einnehmen. Rauschgiftkonsum bedroht diese Schutzgüter der Abnehmer in hohem Maße und trägt dazu bei, dass deren soziale Beziehungen zerbrechen und ihre Einbindung in wirtschaftliche Strukturen zerstört wird. Die mit dem Drogenkonsum häufig einhergehende Beschaffungskriminalität schädigt zudem die Allgemeinheit, welche ferner auch für die medizinischen Folgekosten aufkommen muss (BayVGH, B.v. 11.10.2022 – 19 ZB 20.2139 – juris Rn. 32; B.v. 14.3.2013 – 19 ZB 12.1877 und B.v. 10.10.2017 – 19 ZB 16.2636 – juris Rn. 8).
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1.1.1.3 Die klägerische Rüge, das Verwaltungsgericht habe es nicht für geboten angesehen, durch ein Sachverständigengutachten aufzuklären, ob sich aus seiner „angeblich unbehandelten Suchterkrankung“ eine Wiederholungsgefahr ergebe, greift ebenfalls nicht durch. Indem der Kläger sinngemäß rügt, das Verwaltungsgericht habe den Sachverhalt nicht ausreichend aufgeklärt, macht er einen Verfahrensmangel geltend. Dies kann im Rahmen des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO nur geschehen, wenn auch eine entsprechende Verfahrensrüge gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO zur Zulassung führen würde (vgl. HessVGH, B.v. 1.11.2012 – 7 A 1256/11.Z – juris Rn. 9 m.w.N.; VGH BW, B.v. 17.2.2009 – 10 S 3156/08 – juris Rn. 5; BayVGH, B.v. 11.5.2021 – 10 ZB 20.2326 – juris Rn. 20; Rudisile in Schoch/Schneider, VwGO, Stand August 2022, § 124 Rn. 26g). Dies ist hier indes nicht der Fall:
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Eine Beweiserhebung durch förmlichen Beweisantrag wurde in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht vom anwaltlich vertretenen Kläger nicht beantragt. Ein Gericht verletzt seine Pflicht zur erschöpfenden Aufklärung des Sachverhalts (§ 86 Abs. 1 VwGO) grundsätzlich dann nicht, wenn es von einer Beweiserhebung absieht, die ein anwaltlich vertretener Beteiligter in der mündlichen Verhandlung nicht ausdrücklich beantragt hat. Lediglich schriftsätzlich angekündigte Beweisanträge genügen hierfür nicht (vgl. BVerwG, B.v. 18.12.2006 – 4 BN 30.06 – juris). Die Aufklärungsrüge dient nicht dazu, Beweisanträge zu ersetzen, die ein Beteiligter zumutbarerweise hätte stellen können, jedoch zu stellen unterlassen hat (vgl. BVerwG, B.v. 16.3.2011 – 6 B 47.10 – juris Rn. 12). Das Unterlassen eines Beweisantrags ist nur dann unerheblich, wenn sich dem Gericht auf der Grundlage seiner Rechtsauffassung auch ohne ausdrücklichen Beweisantrag eine weitere Ermittlung des Sachverhalts hätte aufdrängen müssen. Dies ist aber vorliegend nicht der Fall.
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Bei der Prognoseentscheidung zur Wiederholungsgefahr bewegt sich das Gericht regelmäßig in Lebens- und Erkenntnisbereichen, die Gerichten allgemein zugänglich sind. Gerade die Frage der Wiederholungsgefahr nach strafrechtlichen Verurteilungen kann daher grundsätzlich von den Gerichten im Wege einer eigenständigen Prognose ohne Zuziehung eines Sachverständigen beurteilt werden (stRspr; vgl. BVerwG, U.v. 13.12.2012 – 1 C 20.11 – juris Rn. 23; BayVGH, B.v. 10.10.2017 – 19 ZB 16.2636 – juris Rn. 36; B.v. 8.11.2017 – 10 ZB 16.2199 – juris Rn. 7 m.w.N.). Nur ausnahmsweise bedarf es der Zuziehung eines Sachverständigen, wenn die Prognose aufgrund besonderer Umstände – etwa bei der Beurteilung psychischer Erkrankungen – nicht ohne spezielle fachliche Kenntnisse erstellt werden kann (BVerwG, U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – juris Rn. 5). Im Übrigen kann auch ein Sachverständigengutachten die Prognoseentscheidung des Tatrichters nicht ersetzen, sondern nur Hilfestellung bieten (BVerwG, U.v. 13.3.2009 – 1 B 20.08 – juris Rn. 5).
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1.1.2 Nicht zu beanstanden ist die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Abwägung der Ausweisungs- und Bleibeinteressen. Zu Recht hat das Verwaltungsgericht in diesem Zusammenhang angenommen, dass die streitgegenständliche Ausweisung auch im Hinblick auf die wertentscheidenden Grundsatznormen des Art. 6 GG und des Art. 8 EMRK verhältnismäßig und damit für die Wahrung der betroffenen gesellschaftlichen Grundinteressen unerlässlich ist.
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1.1.2.1 Insoweit rügt der Kläger (im Wesentlichen), die Abwägungsentscheidung sei rechtsfehlerhaft und könne auch nicht im Berufungszulassungsverfahren ersetzt werden, da sie in einem förmlichen Verfahren zu erfolgen habe. Der Kläger sei als Kind zusammen mit seinen Eltern eingereist. Den Eltern sei Flüchtlingsschutz zuerkannt worden. In diesem Zusammenhang hätten weder das Verwaltungsgericht noch die Beklagte sich auch nur im Ansatz mit der Frage befasst, wie die Bindungen zu den Eltern im Falle der Aufenthaltsbeendigung aufrechterhalten werden könnten. Das Verwaltungsgericht verhalte sich zu diesen Fragen nicht und zeige damit deutlich auf, dass Art. 8 EMRK nicht beachtet worden sei. Daraus folge weiter, dass auch die Bleibeinteressen nicht abgewogen worden seien. § 55 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG greife das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens auf. Der Gesetzgeber habe mit § 55 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG zu erkennen gegeben, dass im Falle der Einreise als Minderjähriger und des mindestens fünfjährigen Aufenthalts besonders enge Bindungen im Inland vorlägen, die auch besonders schutzwürdig seien. Der Kläger halte sich mit knapp 19 Jahren Aufenthalt quasi vier Mal so lange (im Bundesgebiet) auf. Sowohl die Beklagte als auch das Verwaltungsgericht hielten die inländischen Bindungen für nicht schutzwürdig. Es komme nicht etwa darauf an, ob der Kläger einer Betreuung durch die Eltern bedürfe. Wenn die Beklagte – und ihr folgend das Verwaltungsgericht – meine, eine Ausweisung durch jahrelange Fernhaltung aus dem Land, in dem der Betroffene aufgewachsen sei und (in dem) seine Familie lebe, sei „folgenneutral“, werde offenkundig Art. 8 EMRK nicht in seiner Bedeutung erkannt. Der Kläger habe im Inland die Schule besucht und einen Schulabschluss erworben. Er habe wiederholt Anstrengungen unternommen, dauerhaft beschäftigt zu sein und zuletzt ebenfalls gearbeitet. Es sei dem Kläger – wie das Landgericht festgestellt habe – aufgrund seiner Suchtmittelabhängigkeit nicht möglich gewesen, eine Ausbildung erfolgreich abzuschließen. Seine Arbeits- und Leistungsfähigkeit sei erheblich beeinträchtigt, ferner habe der Kontakt zu seiner Familie gelitten, weil der Kläger versucht habe, seinen Drogenkonsum zu verbergen. Es sei den Eltern und in der Folge auch den Geschwistern des Klägers im Hinblick auf die anerkannte Flüchtlingseigenschaft gerade nicht zumutbar, diesen im Herkunftsland zu besuchen. Aufgrund der gegenwärtigen politischen Situation müssten sie mit Verfolgung und Repression rechnen. Für die Bedeutung von Bindungen komme es nicht darauf an, ob die Eltern und Geschwister des Klägers dessen Straftaten nicht verhindert hätten oder dieser sich durch die Familie nicht davon habe abhalten lassen.
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Diesen Rügen vermag sich der Senat nicht anzuschließen.
22
Ein Ausländer kann – bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen – nur dann ausgewiesen werden, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt (§ 53 Abs. 1 AufenthG). In die Abwägung sind somit die in § 54 AufenthG und § 55 AufenthG vorgesehenen Ausweisungs- und Bleibeinteressen mit der im Gesetz vorgenommenen grundsätzlichen Gewichtung einzubeziehen (BT-Drs. 18/4097, S. 49). Die gesetzliche Unterscheidung in besonders schwerwiegende und schwerwiegende Ausweisungs- und Bleibeinteressen ist für die Güterabwägung zwar regelmäßig prägend (BVerwG, U.v. 27.7.2017 – 1 C 28.16 – juris Rn. 39). Eine schematische und alleine den gesetzlichen Typisierungen und Gewichtungen verhaftete Betrachtungsweise, die einer umfassenden Bewertung der den Fall prägenden Umstände, jeweils entsprechend deren konkretem Gewicht, zuwiderlaufen würde, ist aber unzulässig (BVerfG, B.v. 10.5.2007 – 2 BvR 304/07 – juris Rn. 41 bereits zum früheren Ausweisungsrecht). Im Rahmen der Abwägung ist mithin nicht nur von Belang, wie der Gesetzgeber das Ausweisungsinteresse abstrakt einstuft. Vielmehr ist das dem Ausländer vorgeworfene Verhalten, das den Ausweisungsgrund bildet, im Einzelnen zu würdigen und weiter zu gewichten, da gerade bei prinzipiell gleichgewichtigem Ausweisungs- und Bleibeinteresse das gefahrbegründende Verhalten des Ausländers näherer Aufklärung und Feststellung bedarf (BVerwG, U.v. 27.7.2017 – 1 C 28.16 – juris Rn. 39). Der Gesetzgeber hat im Ausweisungsrecht in differenzierter Weise die Schutzwürdigkeit familiärer Bindungen ausdrücklich berücksichtigt und ihnen normativ verschieden gewichtete Bleibeinteressen zugeordnet (vgl. § 55 Abs. 1 Nr. 3 und 4, Abs. 2 Nr. 3 bis 6 AufenthG). Die Katalogisierung schließt es aber nicht aus, dass andere, nicht ausdrücklich in § 55 Abs. 1 AufenthG benannte Interessen und Umstände bei der zu treffenden Abwägungsentscheidung jeweils mit einem Gewicht einzustellen sein können, das einem besonders schwerwiegenden Bleibeinteresse entsprechen kann (vgl. Bauer in Bergmann/Dienelt, 14. Aufl. 2022, AufenthG § 55 Rn. 5).
23
Im Falle der Ausweisung eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen – wie des Klägers – führt § 53 Abs. 3 AufenthG nicht zu einer Verdrängung der wertenden und gewichtenden Ausweisungsbestimmungen nach §§ 53 Abs. 1, 54, 55 AufenthG; ihnen kommt auch im Rahmen des § 53 Abs. 3 AufenthG die Bedeutung von gesetzlichen Umschreibungen spezieller Interessen mit dem jeweiligen Gewicht zu (vgl. BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – juris Rn. 24). Soweit die Entwurfsbegründung von einer „Sonderregelung“ spricht (BT-Drs. 18/4097, S. 50), bezieht sich diese Wendung jedoch ersichtlich auf das in § 53 Abs. 3 AufenthG festgelegte Maß der Sicherheitsgefahr und statuiert im Übrigen keine Verdrängung der wertenden und gewichtenden Ausweisungsbestimmungen.
24
Im Rahmen der Prüfung der Unerlässlichkeit der Ausweisung nach § 53 Abs. 3 AufenthG ist zu beachten, dass die Grundrechte des Betroffenen, insbesondere das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens nach Art. 6 GG und Art. 8 EMRK sowie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt sein müssen, wobei sämtliche konkreten Umstände, die für die Situation der Betroffenen kennzeichnend sind, zu berücksichtigen sind (vgl. BayVGH, U.v. 3.2.2015 – 10 BV 13.421 – juris Rn. 77 m.w.N.). Unerlässlichkeit ist dabei nicht im Sinne einer „ultima ratio“ zu verstehen, sondern bringt den in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für die Ausweisung von Unionsbürgern und Assoziationsberechtigten entwickelten Grundsatz zum Ausdruck, dass das nationale Gericht eine sorgfältige und umfassende Prüfung der Verhältnismäßigkeit vorzunehmen hat (BayVGH, B.v. 27.9.2017 – 10 ZB 16.823 – juris Rn. 20). Auch im Rahmen des § 53 Abs. 3 AufenthG ist unter Berücksichtigung des besonderen Gefährdungsmaßstabs für die darin bezeichneten Gruppen von Ausländern eine Abwägung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls nach § 53 Abs. 1 (i.V.m. Abs. 2) durchzuführen.
25
Gemessen daran ist die von dem Verwaltungsgericht vorgenommene Abwägung nicht zu beanstanden. Zu Recht nimmt das Verwaltungsgericht an, dass der Kläger aufgrund der vorliegenden rechtskräftigen Verurteilung durch das Landgericht N. vom 17. August 2021 (wegen bewaffneten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in Tateinheit mit unerlaubtem Besitz von Betäubungsmitteln und mit vorsätzlichem Besitz dreier verbotener Waffen) zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und drei Monaten ein vertyptes besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG verwirklicht hat. Daneben liegt ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1b AufenthG vor. Auf weitere Straftaten des Klägers und dadurch gegebenenfalls verwirklichte Ausweisungsinteressen kommt es somit nicht entscheidungserheblich an.
26
Dem gegenüber kann der Kläger zwar kein typisierendes besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG beanspruchen, da dieses voraussetzt, dass die Aufenthaltserlaubnis zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung über die Ausweisung tatsächlich vorhanden und damit bereits erteilt sein muss. Aus § 55 Abs. 3 AufenthG folgt, dass ein besonders schwerwiegendes oder ein schwerwiegendes Bleibeinteresse nicht schon dann aus der Antragstellung hergeleitet werden kann, wenn sie nach § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG zur Folge hat, dass ein zuvor erteilter Aufenthaltstitel als fortbestehend gilt, sondern erst dann, wenn dem Antrag entsprochen wird. Die bloße Antragstellung reicht damit für die Begründung eines vertypten Bleibeinteresses nicht aus (BVerwG, U.v. 16.11.2023 – 1 C 32.22 – juris Rn. 14; BayVGH, B.v. 7.3.2022 – 19 ZB 22.624 – juris Rn. 36; B.v. 3.4.2019 – 10 C 18.2425 – juris Rn. 10; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand 1.12.2024, § 55 AufenthG Rn. 18; Fleuß in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Stand 1.10.2024, § 55 AufenthG Rn. 21). Eine Fiktionsbescheinigung, wie sie der Kläger bis zur Ablehnung seines Verlängerungsantrags durch den streitgegenständlichen Bescheid vom 6. Dezember 2021 besaß, steht dem Besitz einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 55 Abs. 3 AufenthG gerade nicht gleich. Soweit der Kläger jedoch unstreitig über ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80 verfügt, steht dieses – kraft Gesetzes entstehende – Aufenthaltsrecht einem durch Aufenthaltserlaubniserteilung begründeten Aufenthaltsrecht gleich. Es erlischt (abgesehen von dem hier nicht vorliegenden Erlöschensgrund des Verlassens des Aufnahmestaates für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe), wenn der Ausländer wegen seines persönlichen Verhaltens eine tatsächliche und schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit im Sinne von Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 darstellt und deshalb ausgewiesen wird (vgl. BVerwG, U.v. 25.3.2015 – 1 C 19.14 – juris Rn. 14). Das assoziationsrechtliche Aufenthaltsrecht begründet daher ein (unbenanntes, d.h. nicht vertyptes) besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse, welches seinem Gewicht nach dem § 55 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG entspricht (BayVGH, B.v. 7.3.2023 – 19 ZB 22.624 – Rn. 36; U.v. 28.3.2017 – 10 BV 16.1601 – juris Rn. 41; B.v. 3.5.2017 – 10 ZB 15.2310 – juris Rn. 29; Katzer in Decker/Bader/Kothe, Migrations- und Integrationsrecht, 19. Ed. 1.7.2024, AufenthG § 55 Rn. 4 ff., insb. Rn. 7; Fleuß in Kluth/Heusch, Ausländerrecht, 36. Ed. 1.1.2023, AufenthG § 55 Rn. 21 m.w.N.). Stehen sich gleich gewichtige Ausweisungs- und Bleibeinteressen – wie im vorliegenden Fall – gegenüber, so bedarf es somit einer Abwägung im Einzelfall. Dabei sind die wertentscheidenden Grundsatznormen des Art. 6 GG sowie des Art. 8 EMRK zu berücksichtigen, ohne dass ihnen ein absoluter Vorrang zukäme.
27
Das Verwaltungsgericht ist von einem besonders schwerwiegenden Bleibeinteresse des Klägers ausgegangen und hat somit das jeweilige Gewicht der vorliegenden Ausweisungs- und Bleibeinteressen zutreffend ermittelt und in die Abwägung eingestellt. Des Weiteren hat das Verwaltungsgericht entgegen der Darstellung des Klägers dessen persönliche Bindungen insbesondere zu seinen im Bundesgebiet lebenden Verwandten (Eltern, Geschwister) und damit insbesondere die über übliche Sozialkontakte hinausgehenden persönlichen Beziehungen in die Abwägung eingestellt. Dabei hat sich das Verwaltungsgericht in nicht zu beanstandender Weise den Erwägungen der Beklagten im Rahmen der vorzunehmenden Interessenabwägung angeschlossen, dass der Kläger im siebten Lebensjahr nach Deutschland gekommen sei, mithin (schon) sehr lange im Bundesgebiet lebe, dass der Kläger gute Kenntnisse der deutschen Sprache erworben und eine Schulbildung erfahren habe, dass sich der Kläger sozial und wirtschaftlich aber nicht in die deutschen Lebensverhältnisse eingefunden habe. Er habe weder auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen können noch sei es ihm gelungen, einen rechtstreuen, mithin straffreien Lebenswandel zu führen. Im Übrigen sei gesehen worden, dass die Familie des Klägers, insbesondere seine Eltern und seine Geschwister, in Deutschland lebten. Die Beklagte habe insoweit zutreffend darauf hingewiesen, dass eben dieser Familienverband den Kläger nicht von der Begehung von Straftaten habe abhalten können. Weiter sei weder vorgetragen worden noch ersichtlich, dass der Kläger in einer besonderen Abhängigkeit zu seinen Eltern stehe; auch die Eltern seien nach Aktenlage nicht von der Anwesenheit des Klägers als ihrem Sohn abhängig.
28
Entgegen der Auffassung des Klägers ist nicht zu beanstanden, dass das Verwaltungsgericht bei Berücksichtigung der zugunsten des Klägers in die Abwägung einzustellenden Bleibeinteressen zu dem Ergebnis gekommen ist, dass trotz des besonders schwerwiegenden Bleibeinteresses die Ausweisung des Klägers weder unter Berücksichtigung der in § 53 Abs. 2 AufenthG – allerdings nicht abschließend – aufgeführten Umstände noch mit Blick auf die Anforderungen der wertentscheidenden Grundsatznormen des Art. 6 Abs. 1 GG und des Art. 8 EMRK unverhältnismäßig ist:
29
Zwar verpflichtet die in Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, die Ausländerbehörde, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des den (weiteren) Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, das heißt entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Dieser verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zum Schutz der Familie entspricht ein Anspruch des Trägers des Grundrechts aus Art. 6 GG darauf, dass die zuständigen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über das Aufenthaltsbegehren seine familiären Bindungen an im Bundesgebiet lebende Personen angemessen berücksichtigen. Dabei ist grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalles geboten, bei der auf der einen Seite die familiären Bindungen zu berücksichtigen sind, auf der anderen Seite aber auch die sonstigen Umstände des Einzelfalles (BVerfG, B.v. 5.6.2013 – 2 BvR 586/13 – juris Rn. 12; B.v. 17.4.2024 – 2 BvR 244/24 – juris Rn. 22).
30
Gemessen daran hat das Verwaltungsgericht zu Recht auf die sehr hohe Gefahr sehr schwerwiegender Drogenstraftaten hingewiesen, die vom Kläger ausgeht, und in Anbetracht dessen zutreffend angenommen, dass der Eingriff in das Recht des Klägers aus Art. 6 GG aus Gründen der Gefahrenabwehr und aus den dargestellten überragenden öffentlichen Interessen notwendig und erforderlich ist. Es hat den Eingriff in die Grundrechte des Klägers zutreffend auch als angemessen (und damit als verhältnismäßig im engeren Sinne) angesehen. Dasselbe gilt für den entsprechenden Eingriff in das Recht auf Schutz des Privatlebens aus Art. 8 Abs. 1 EMRK, welches den Einschränkungen unterliegt, die in einer demokratischen Gesellschaft zur Verfolgung legitimer Ziele wie der öffentlichen Sicherheit und Ordnung notwendig sind (Art. 8 Abs. 2 EMRK). Insoweit hat das Verwaltungsgericht – entgegen der Auffassung des Klägers – zutreffend den Eingriff in dessen Rechte aus Art. 6 GG und Art. 8 EMRK als insofern weniger gewichtig angesehen, weil der Kläger als erwachsener Mensch nicht auf die Unterstützung seiner Eltern oder Geschwister angewiesen ist und diese nicht der Unterstützung oder Betreuung durch den Kläger bedürfen. Damit liegt zwar infolge der Aufenthaltsbeendigung ein durchaus gewichtiger Eingriff in die genannten Rechte vor, dieser ist aber im Hinblick auf die mit den besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteressen verfolgten, überragend wichtigen Ziele der öffentlichen Sicherheit und Ordnung – wie ausgeführt – angemessen. Es ist dem Kläger zumutbar, den Kontakt zu seinen Eltern – die den Flüchtlingsschutz genießen und denen deshalb (jedenfalls) eine erzwungene Rückkehr in das Herkunftsland nicht zumutbar ist – und zu seinen Geschwistern über Fernkommunikationsmittel und Briefkontakt aufrechtzuerhalten. Des Weiteren sind auch während der Dauer des Einreise- und Aufenthaltsverbots (siehe dazu 1.1.3) Besuche des Klägers im Bundesgebiet auf der Grundlage einer Betretenserlaubnis – etwa zu besonderen familiären Anlässen – nicht ausgeschlossen.
31
1.1.2.2 Des Weiteren rügt der Kläger, die Ausweisung verstoße gegen Art. 8 EMRK und erweise sich insoweit als unverhältnismäßig, weil es ihm nicht zumutbar sei, in seinem Herkunftsland zu leben. Er sei ein faktischer Inländer, da er als Kind mit seinen Eltern eingereist sei, (nur) in Deutschland die Schule besucht habe, ab dem sechsten Lebensjahr sein ganzes Leben ausschließlich im Inland verbracht habe und auch mit seinen (deutschen) Geschwistern in Deutschland aufgewachsen sei. Bindungen in das Herkunftsland bestünden nicht, der Kläger habe vorgetragen, dass er die Sprache seines Herkunftslandes nur unzureichend beherrsche. Das Verwaltungsgericht habe die Integrationsfähigkeit in das Land der Staatsangehörigkeit nicht einfach unterstellen dürfen, sondern hätte diese aufklären und feststellen müssen. Soweit das Verwaltungsgericht anführe, dass „große Teile der Familie“ mit dem Kläger in Deutschland lebten, spreche dies nicht etwa für die Integrationsfähigkeit in seinem Herkunftsland, sondern (für) das genaue Gegenteil.
32
Diesen Rügen greifen ebenfalls nicht durch.
33
Zu Recht verneint das Verwaltungsgericht einen unverhältnismäßigen Eingriff in das Recht des Klägers auf Achtung des Privatlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK durch die Ausweisung und nimmt auch insoweit ein Überwiegen des (durch die – wie dargelegt – besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteressen begründeten) öffentlichen Interesses an der Aufenthaltsbeendigung an, weshalb die Ausweisung auch geeignet, erforderlich und angemessen (verhältnismäßig im engeren Sinne) und damit im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK zum Schutze der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist.
34
Es handelt sich bei dem Kläger schon nicht um einen „faktischen Inländer“. Die Eigenschaft eines sogenannten „faktischen Inländers“ (BVerwG, U.v. 16.11.2023 – 1 C 32.22 – juris Rn. 16) kommt solchen Personen zu, die tiefgreifend in die Lebensverhältnisse des Aufenthaltsstaats integriert sind („Verwurzelung“) und gleichzeitig den Lebensverhältnissen des Herkunftsstaats entfremdet sind („Entwurzelung“), die daher faktisch zum Inländer geworden sind und die nur noch das rechtliche Band der Staatsangehörigkeit mit dem Herkunftsstaat verbindet (Fleuß in BeckOK Ausländerrecht, Stand 1.7.2024, § 53 AufenthG Rn. 87 m.w.N.; BVerfG, B.v. 18.4.2024 – 2 BvR 29/24 – juris Rn. 21). Beide Elemente müssen kumulativ vorliegen.
35
Auch für sog. „faktische Inländer“ besteht kein generelles Ausweisungsverbot (BVerfG, B.v. 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16 – juris Rn. 19; BVerwG, U.v. 16.11.2023 – 1 C 32.22 – juris Rn. 16 f.; EGMR, U.v. 18.10.2006 – Üner, 46410/99 – juris Rn. 57). Bei der Ausweisung im Bundesgebiet geborener (oder wie der Kläger als Minderjährige eingereister) Ausländer ist im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung der besonderen Härte, die eine Ausweisung für diese Personengruppe darstellt, in angemessenem Umfang Rechnung zu tragen (BVerfG, B.v. 25.8.2020 – 2 BvR 640/20 – juris Rn. 24).
36
Für den Grad der Verwurzelung eines Ausländers sind insbesondere die Dauer seines Aufenthalts im Bundesgebiet, sein rechtlicher Aufenthaltsstatus, das Ausmaß der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und sozialen Integration und die Rechtsstreue seines Verhaltens in der Vergangenheit von Relevanz (Fleuß in BeckOK Ausländerrecht, Stand 1.7.2024, § 53 AufenthG Rn. 90). Gemessen daran sind die für eine Verwurzelung des Klägers im Bundesgebiet sprechenden Gesichtspunkte im Ergebnis nicht ausschlaggebend. Zutreffend hat das Verwaltungsgericht ausgeführt, dass der Kläger im siebten Lebensjahr nach Deutschland gekommen sei, mithin (schon) sehr lange im Bundesgebiet lebe, und darauf hingewiesen, dass der Kläger gute Kenntnisse der deutschen Sprache erworben und eine Schulbildung erfahren habe. Im Übrigen hat das Verwaltungsgericht – der Beklagten folgend – gesehen, dass die Familie des Klägers, insbesondere seine Eltern und seine Geschwister, in Deutschland lebten. Zu Recht weist das Verwaltungsgericht aber dem gegenüber darauf hin, dass sich der Kläger sozial und wirtschaftlich nicht in die deutschen Lebensverhältnisse eingefunden habe, da er weder auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen habe können noch es ihm gelungen sei, einen rechtstreuen, mithin straffreien Lebenswandel zu führen.
37
Fehlt es somit an einer tiefgreifenden Integration im Aufenthaltsstaat, kommt es auf eine Entwurzelung nicht mehr an. Auch wenn der Kläger danach nicht als „faktischer Inländer“ anzusehen ist, ist gleichwohl zu berücksichtigen, dass der Vollzug der Ausweisung für ihn einen Grundrechtseingriff von erheblichem Gewicht darstellt, was im Rahmen der Abwägung der Bleibe- und Ausweisungsinteressen angemessen und in einem auf die Erfassung seiner individuellen Lebensverhältnisse angelegten Prüfprogramm zu würdigen ist (BVerfG, B.v. 18.4.2024 – 2 BvR 29/24 – juris Rn. 30). In die Prüfung der Zumutbarkeit der Rückkehr des Ausländers ist unter anderem einzustellen, ob er Kenntnisse der Landessprache hat. Dieser Umstand ist bei der Abwägung von Ausweisungs- und Bleibeinteresse und bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung „wesentlich zu berücksichtigen“ (vgl. BVerfG, B.v. 2.7.2024 – 2 BvR 678/24 – juris Rn. 8 m.w.N.).
38
Zutreffend hat das Verwaltungsgericht darauf hingewiesen, dass der Kläger bis zum Alter von sechs Jahren in seinem Herkunftsland gelebt hat und dass große Teile seiner Familie mit ihm in Deutschland leben. Insofern geht das Verwaltungsgericht zu Recht davon aus, dass der Kläger mit der Kultur und Tradition seines Herkunftslandes vertraut ist. Zutreffend führt das Verwaltungsgericht des Weiteren aus, dass auch Bezüge zur (im Herkunftsland des Klägers) gesprochenen Sprache weiterhin vorhanden sein dürften und dass, selbst wenn die Bezüge zur dortigen Kultur und Sprache gering sein sollten, es dem Kläger vor dem Hintergrund der hier begangenen Taten bzw. der fortbestehenden Gefahr möglich und zumutbar sei, sich sprachlich und kulturell in dem Land seiner Staatsangehörigkeit zu integrieren. Zwar trägt der Kläger vor, dass er die Sprache seines Herkunftslandes nur unzureichend beherrsche. Damit ist aber schon nicht ausgesagt, dass ihm diese Sprache gänzlich unbekannt sei, zumal nicht erläutert wird, was unter „unzureichenden“ Sprachkenntnissen konkret zu verstehen sein soll. Es wäre lebensfremd anzunehmen, dass ein in einem kulturell durch das Herkunftsland geprägten familiären Umfeld (die Eltern des Klägers gehören zur sogenannten ersten Einwanderergeneration) aufgewachsener Mensch mit der dortigen Sprache nicht soweit vertraut sein sollte, dass er sich dort zumindest auf einfache Weise im Alltag verständigen und somit auch in einem unabdingbaren Mindestmaß am gesellschaftlichen Leben teilnehmen könnte (abgesehen davon, dass sich in den Akten des Strafverfahrens auch Chatprotokolle über Unterhaltungen des Klägers in der Landessprache seines Herkunftslandes finden). Im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtabwägung unter Berücksichtigung des verfassungsmäßigen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sowie des Art. 6 GG und des Art. 8 EMRK überwiegt somit – in Übereinstimmung mit der verwaltungsgerichtlichen Auffassung – das öffentliche Interesse an der Ausreise des Klägers. Vor dem Hintergrund der Schwere der Tat, die Anlass für die Ausweisung ist, ihrer Folgen, der Persönlichkeit des Klägers und der fehlenden nachhaltigen wirtschaftlichen und sozialen Integration im Bundesgebiet stellt sich die Ausweisung darüber hinaus auch als unerlässlich für die Wahrung des vom Kläger bedrohten Grundinteresses der Gesellschaft dar, wie das Verwaltungsgericht zutreffend erkannt hat.
39
1.1.3 Die Einwendungen des Klägers gegen die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots greifen ebenfalls nicht durch.
40
Das Verwaltungsgericht hat bezüglich der von der Beklagten festgesetzten Sperrfrist ausgeführt, Ermessensfehler lägen nicht vor, da die Beklagte angesichts des langen Aufenthalts des Klägers im Bundesgebiet, seiner deutschen Schulbildung, des Erwerbs deutscher Sprachkenntnisse, der Strafhöhe der Anlassverurteilung sowie der angeordneten Unterbringung beanstandungsfrei zu dem Ergebnis gekommen sei, dass eine Befristung von insgesamt fünf Jahren angemessen sei.
41
Dem gegenüber rügt der Kläger, es sei schon nicht erkennbar, dass die Beklagte eine zweistufige Prüfung vorgenommen hätte. Ebenso wenig sei insoweit die Ermessensausübung zutreffend erfolgt. Die Beklagte habe sich erkennbar an Zwecken orientiert, die ihr das Aufenthaltsgesetz nicht einräume. Weder erlaube § 53 AufenthG eine Bestrafung noch beinhalte § 11 AufenthG einen Strafrahmen, auch diene die Ausweisung nicht der Resozialisierung. Da die Behörde ihre Ausweisung und ihre Befristungsentscheidung demnach nicht auf legitime Zwecke gestützt habe, erweise sich die Ausweisungsverfügung als solche und auch die Befristungsentscheidung als rechtswidrig. Wenn die Beklagte meine, eine Fernhaltefrist von fünf Jahren habe sich in anderen Fällen als geeignet erwiesen, könne damit allenfalls die Frist auf erster Stufe gemeint sein, da andere Fälle gerade nicht die Einzelfallbetrachtung nach höherrangigem Recht darstellen könnten. Demzufolge fehle eine Berücksichtigung der Einreise als Minderjähriger, der langen Aufenthaltsdauer, der abgeschlossenen Schulausbildung sowie des Lebens der Kernfamilie im Inland bei anerkannter Flüchtlingsstellung der Eltern, denen Besuchsreisen in die Türkei nicht zumutbar seien.
42
Dem vermag sich der Senat nicht anzuschließen. Die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass die Beklagte eine ermessensfehlerfreie Befristungsentscheidung getroffen habe, begegnet mit Blick auf § 114 Satz 1 VwGO im Ergebnis keinen rechtlichen Bedenken:
43
Gemäß § 11 Abs. 2 Satz 3 AufenthG ist das Einreise- und Aufenthaltsverbot bei seinem Erlass von Amts wegen zu befristen. Über die Länge der Frist wird gemäß § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG nach Ermessen entschieden. Die Ausländerbehörde muss bei der allein unter präventiven Gesichtspunkten festzusetzenden Frist das Gewicht des Ausweisungsinteresses und den mit der Ausweisung verfolgten Zweck berücksichtigen. Hierzu bedarf es in einem ersten Schritt der prognostischen Einschätzung im Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, welches seiner Ausweisung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag. Die auf diese Weise an der Erreichung des Ausweisungszwecks ermittelte Höchstfrist muss von der Behörde in einem zweiten Schritt an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG), sowie unions- und konventionsrechtlich den Vorgaben aus Art. 7 GR-Charta und Art. 8 EMRK gemessen und gegebenenfalls relativiert werden (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – juris Rn. 42). Über dieses normative Korrektiv lassen sich auch bei einer Ermessensentscheidung die einschneidenden Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen begrenzen. Dabei sind von der Ausländerbehörde nicht nur die nach § 55 Abs. 1 und 2 AufenthG schutzwürdigen Bleibeinteressen des Ausländers in den Blick zu nehmen, sondern bedarf es nach Maßgabe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auf der Grundlage der Umstände des Einzelfalls einer umfassenden Abwägung der betroffenen Belange. Da für die gerichtliche Überprüfung der Befristungsentscheidung auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts abzustellen ist, trifft die Ausländerbehörde auch während des gerichtlichen Verfahrens eine Pflicht zur ständigen verfahrensbegleitenden Kontrolle der Rechtmäßigkeit ihrer Befristungsentscheidung und ggf. zur Ergänzung ihrer Ermessenserwägungen (vgl. zum Ganzen: BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 27.16 – juris Rn. 23; BayVGH, U.v. 25.8.2014 – 10 B 13.715 – juris Rn. 56).
44
Gemessen daran weist die Ermessensentscheidung der Beklagten keine durchgreifenden rechtlichen Mängel auf. Aus den Ermessenserwägungen geht – wenngleich deren Aufbau nicht der dargestellten Prüfung in zwei Schritten entspricht – hinreichend deutlich hervor, dass die Beklagte zunächst den gesetzlichen Rahmen der festzusetzenden Frist gemäß § 11 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. Abs. 5 Satz 1 AufenthG in den Blick genommen und daran anknüpfend einzelfallbezogene Erwägungen angestellt hat, in welcher Höhe die Frist festgesetzt werden soll. Dabei hat die Beklagte zum einen die erforderlichen Überlegungen dazu angestellt, wie lange das Verhalten des Klägers unter dem Gesichtspunkt der Gefahrenabwehr das öffentliche Interesse, den Kläger aus dem Bundesgebiet fernzuhalten, zu tragen vermag. So wurde ausgeführt, die fünfjährige „Standardfrist“ des § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG werde der Persönlichkeit des Klägers und dem Zweck des Einreise- und Aufenthaltsverbots ausreichend gerecht. Der Kläger werde für seine restliche Verweildauer im Bundesgebiet von der Erteilung jedweden Aufenthaltstitels ausgeschlossen sein und sich nach seiner Ausreise fünf Jahre lang im Herkunftsstaat aufzuhalten haben. Erfahrungen aus der Praxis zeigten, dass solche Auslandsaufenthalte gerade bei strafrechtlich schwer vorbelasteten Ausländern überdurchschnittlich oft genau den „Resozialisierungseffekt“ erzielten, den der inländische Straf- und Maßregelvollzug ebenso oft vergeblich anstrebe, wobei nichts dafürspreche, dass der Kläger eine Ausnahme wäre. Angesichts dieser Erwägungen hat die Beklagte ermessensfehlerfrei angenommen, das persönliche Verhalten des Klägers trage für den Zeitraum von fünf Jahren das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr. Unschädlich ist es insoweit, dass die Beklagte von einer „Standardfrist“ von fünf Jahren auszugehen scheint. Es kann offenbleiben, inwieweit die Frist aufgrund der strafrechtlichen Verurteilung wegen schwerwiegender Betäubungsmitteldelikte und der deshalb angenommenen gegenwärtigen und schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung gemäß § 11 Abs. 5 Satz 1 AufenthG auf mehr als fünf bis im Regelfall höchstens zehn Jahre hätte festgesetzt werden dürfen (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – juris Rn. 43). Die Beklagte ist jedenfalls (trotz der gewählten Formulierung) ersichtlich nicht davon ausgegangen, in einem – wie auch immer gearteten – Regelfall an die in § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG festgelegte Höchstfrist von fünf Jahren (für Fälle, die nicht auf einer strafrechtlichen Verurteilung bzw. einer schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung beruhen) gebunden zu sein. Ein Ermessensfehler in der Gestalt einer Ermessensunterschreitung liegt damit nicht vor.
45
Des Weiteren muss sich die nach der Gefahr für die öffentliche Ordnung ermittelte Frist an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG) sowie den Vorgaben aus Art. 7 GR-Charta und Art. 8 EMRK messen lassen und ist gegebenenfalls in einem zweiten Schritt zu relativieren (vgl. BVerwG, U.v. 14.5.2013 – 1 C 13.12 – juris Rn. 33). Dem entsprechend hat die Beklagte die schutzwürdigen Bleibeinteressen und sonstigen persönlichen Umstände des Klägers (darunter seine Einreise als Minderjähriger, seinen inländischen Schulbesuch und Spracherwerb) in den Blick genommen und mit dem öffentlichen Interesse an der Fernhaltung des Klägers aus dem Bundesgebiet (noch) erkennbar abgewogen. Im Ergebnis ist die Beklagte zu Recht von einem Überwiegen des – angesichts der erheblichen Straffälligkeit des Klägers, seiner nicht erfolgreich therapierten Betäubungsmittelabhängigkeit und des von ihm verwirklichten besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteressen – sehr gewichtigen öffentlichen Fernhalteinteresses ausgegangen. Wie ausgeführt, bedurfte es keiner (maßgeblichen) Berücksichtigung der persönlichen Beziehung des volljährigen Klägers zu seinen im Bundesgebiet lebenden Eltern und Geschwistern, da insoweit zwar ein Eingriff in die Grund- bzw. Menschenrechte des Klägers aus Art. 6 GG und Art. 8 EMRK vorliegt, diesem jedoch angesichts fehlender wechselseitiger Abhängigkeiten und der überragenden öffentlichen Sicherheitsinteressen kein durchschlagendes Gewicht zukommt. Es ist somit nicht zu beanstanden, dass die Beklagte im Rahmen ihres Ermessens keinen Anlass zu einer Verringerung der im ersten Schritt unter gefahrenabwehrrechtlichen Gesichtspunkten angenommenen Frist von fünf Jahren gesehen hat.
46
1.1.4 Hinsichtlich der Versagung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis unter der Ziffer 3 des streitgegenständlichen Bescheides führt der Kläger aus, das assoziationsrechtliche Aufenthaltsrecht könne nicht „in einer Art analogen Anwendung“ des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG abgelehnt werden. Es bedürfe auch keiner Verlängerung, da das Recht erworben worden sei und die Bescheinigung des Rechts nur deklaratorische Wirkung habe. Da die Ausweisung sich nicht als rechtmäßig erweise und der Verlust des Rechts die Bestandskraft der Ausweisung verlange, sei das Assoziationsrecht auch nicht entfallen.
47
Auch insoweit liegen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils vor. Da das Verwaltungsgericht – wie ausgeführt – die Klage gegen die Ausweisungsverfügung (siehe dazu 1.1) sowie gegen das Einreise- und Aufenthaltsverbot (siehe 1.1.3) im streitgegenständlichen Bescheid zu Recht abgewiesen hat, trifft in der Folge auch seine Rechtsauffassung zu, dass das assoziationsrechtliche Aufenthaltsrecht gemäß Art. 14 ARB 1/80 (mit dem Eintritt der Rechtskraft des Urteils aufgrund der Ablehnung des Berufungszulassungsantrags gemäß § 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO) erlischt und des Weiteren der Erteilung einer (nationalen) Aufenthaltserlaubnis die Titelsperre des § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG (i.d.F. des Rückführungsverbesserungsgesetzes vom 21.2.2024) entgegensteht.
48
1.2 Die Berufung ist auch nicht wegen Divergenz zuzulassen (§ 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO).
49
Eine Divergenz ist gegeben, wenn das Verwaltungsgericht in Anwendung derselben Vorschrift (vgl. BVerwG, B.v. 28.1.2004 – 6 PB 15.03 – NVwZ 2004, 889/890) mit einem seine Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz oder einem verallgemeinerungsfähigen Tatsachensatz von einem in der Rechtsprechung der genannten übergeordneten Gerichte aufgestellten tragenden Rechts- oder Tatsachensatz oder einer inhaltsgleichen Rechtsvorschrift ausdrücklich oder konkludent abweicht und die Entscheidung darauf beruht (vgl. BayVGH, B.v. 9.5.2019 – 10 ZB 19.317 – juris Rn. 10 m.w.N.).
50
Der Kläger rügt eine Abweichung der erstinstanzlichen Entscheidung von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Seine Rügen sind jedoch nicht mehr entscheidungserheblich (1.2.1) bzw. greifen inhaltlich nicht durch (1.2.2).
51
1.2.1 Der Kläger sieht eine Divergenz von verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung darin, dass das Verwaltungsgericht davon ausgegangen ist, dass „bei Straftaten, die ihre (Mit-)Ursache in einer Suchtmittelproblematik haben, von einem Entfallen der Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden kann, solange eine entsprechende Therapie nicht abgeschlossen ist und sich der Betreffende nach Therapieende nicht hinreichend in Freiheit bewährt hat“ (UA S. 13 unter Verweis auf BayVGH, B.v. 11.3.2020 – 10 ZB 19.777 – juris Rn. 9). Das Verwaltungsgericht verkenne, dass eine nicht unerhebliche Verminderung der Wiederholungsgefahr zu prüfen sei. Die von dem Verwaltungsgericht (angeblich) angenommene, aus der Anlasstat herrührende „zwingende Wiederholungsgefahr“ schließe eine individuelle Prognose aus.
52
Diese Rüge ist nicht mehr entscheidungserheblich. Da die als Maßregel angeordnete Therapiemaßnahme im Fall des Klägers nunmehr – auf der Grundlage fachlicher Stellungnahmen der im Maßregelvollzug tätig gewordenen Ärzte und Therapeuten – durch die Strafvollstreckungskammer mangels Erfolgsaussicht für erledigt erklärt wurde, käme es auf die behauptete Abweichung der Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts von verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung nicht mehr an.
53
1.2.2 Des Weiteren verweist der Kläger zur Begründung der geltend gemachten Divergenz auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu sog. faktischen Inländern (vgl. BVerfG, B.v. 10.8.2007 – 2 BvR 535/06 – juris Rn. 18 ff.; B.v. 24.8.2020 – 2 BvR 640/20 – juris Rn. 23 ff.; B.v. 18.4.2024 – 2 BvR 29/24 – juris Rn. 20 ff.). Demnach sei bei der Ausweisung hier geborener beziehungsweise als Kleinkinder nach Deutschland gekommener Ausländer im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung der besonderen Härte, die eine Ausweisung für diese Personengruppe darstellt, in angemessenem Umfang Rechnung zu tragen. Erforderlich sei daher eine auf den konkreten Einzelfall bezogene individuelle Gefahrenprognose unter Berücksichtigung aktueller Tatsachen, die die Gefahr entfallen ließen oder nicht unerheblich vermindern könnten, und zwar nicht nur unionsrechtlich, sondern auch verfassungsrechtlich und konventionsrechtlich. Von diesen Rechtssätzen divergiere der Rechtssatz „des Verwaltungsgerichtshofs“. Das Verwaltungsgericht gehe im Falle einer Straftat, die ihre (Mit-) Ursache in einer Betäubungsmittelabhängigkeit habe, stets und ohne weiteres von einer Wiederholungsgefahr aus, die noch nicht einmal durch den Abschluss der Therapie widerlegt werden könne, sondern noch eine Bewährung nach Therapieende verlange, was eine schematische Gesetzesanwendung darstelle, die das Bundesverfassungsgericht wiederholt als Abwägungsverstoß benannt habe.
54
Die gerügte Divergenz liegt jedoch nicht vor. Abgesehen davon, dass das im maßgeblichen Zeitpunkt der Senatsentscheidung – wie auch im Zeitpunkt der erstinstanzlichen Entscheidung – geltende Ausweisungsrecht entsprechend der vom Kläger angeführten Rechtsprechung im Rahmen der Abwägung von Ausweisungs- und Bleibeinteressen auf der Tatbestandsebene nach § 53 Abs. 1 AufenthG die Berücksichtigung der konkreten Lebenssituation des Ausländers (vgl. die nicht abschließende Nennung von Abwägungsgesichtspunkten in § 53 Abs. 2 AufenthG) verlangt, wobei nach ständiger Rechtsprechung (vgl. die unter 1.1.2 genannten Nachweise) mit Blick auf Art. 8 EMRK auch der besonderen Härte, die mit einer Aufenthaltsbeendigung sogenannter faktischer Inländer verbunden ist, angemessen Rechnung zu tragen und erforderlichenfalls von einer Ausweisung Abstand zu nehmen ist, hat das Verwaltungsgericht schon keinen dem entgegenstehenden Rechtssatz aufgestellt. Auf die vom Kläger kritisierte Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts und des erkennenden Senats, dass bei Straftaten, die auf einer Suchterkrankung des Ausländers beruhen oder dadurch gefördert wurden, von einem Wegfall der Wiederholungsgefahr (in der Regel) nicht ausgegangen werden kann, solange der Ausländer nicht eine einschlägige Therapie erfolgreich abgeschlossen und die damit verbundene Erwartung eines künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat, insbesondere indem er sich außerhalb des Straf- oder Maßregelvollzugs bewährt hat (vgl. BayVGH, B.v. 7.3.2024 – 19 ZB 22.2263 – juris Rn. 14; B.v. 27.7.2021 – 10 ZB 21.935 – juris Rn. 9; B.v. 23.9.2021 – 19 ZB 20.323 – juris), kommt es mangels erfolgreich abgeschlossener Therapie nicht entscheidungstragend an. Abgesehen davon steht diese Rechtsprechung einer Berücksichtigung individueller, die Wiederholungsgefahr reduzierender oder ausschließender Gesichtspunkte nicht entgegen.
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Letztlich rügt der Kläger damit der Sache nach die vom Verwaltungsgericht im Einzelfall vorgenommene Gefahrenprognose und Abwägung im Sinne einer Geltendmachung ernstlicher Zweifel im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Solche liegen jedoch, wie unter 1.1. ausgeführt, nicht vor.
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2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
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3. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 3 Satz 1, § 47 Abs. 2 und 3, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Ziff. 8.1 und 8.2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).