Inhalt

LG Landshut, Hinweisbeschluss v. 26.03.2025 – 11 S 110/25
Titel:

Ersatzbeförderung, Kürzungsrecht, Vorverlegung, Annullierung, Fluggastrechteverordnung, Anderweitige Beförderung, Ausführendes Luftfahrtunternehmen, Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung, Unionsgesetzgebung, Ankunftszeit, Flugvorverlegung, Gerichtshof der Europäischen Union, Nichtanwendbarkeit, Einschränkende Auslegung, Ansprüche gem, Beeinträchtigung, Verspätung, Hinweisbeschluss, Zulassung der Revision, Ausführung

Schlagworte:
Zeugenvernehmung, Beweislast, Haftungsansprüche, Rechtsmittel, Schadenersatz, Vertragsverletzung, Vollstreckung
Vorinstanz:
AG Erding vom -- – 105 C 3229/22
Fundstelle:
BeckRS 2025, 28034

Tenor

Die Berufung hat nach vorläufiger Würdigung Aussicht auf Erfolg.

Entscheidungsgründe

I.
1
Die Klägerin begehrt eine Ausgleichszahlung gem. Art. 5, 7 VO (EG) 261/2004 in Höhe von 250,00 € aus abgetretenem Recht.
2
Der Zedent verfügte über eine bestätigte Buchung für einen Flug am 30.01.2022 von München nach Amsterdam, der um 11.40 Uhr Ortszeit starten und um 13.50 Uhr Ortszeit ankommen sollte.
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Der Flug wurde kurzfristig annulliert. Der Zedent wurde mit der von der Beklagten angebotenen Ersatzbeförderung mit Abflug um 09.55 Uhr Ortszeit und Ankunft um 11.22 Uhr Ortszeit befördert.
4
Die Beklagte beruft sich auf die Kürzung des Anspruchs gem. Art. 7 Abs. 2 VO (EG) 261/2004.
5
Das Amtsgericht Erding gab der Klage zur Hälfte statt.
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Die Beklagte könne sich auf die Kürzung gemäß Art. 7 Abs. 2 a) VO (EG) 261/2004 berufen. Der Wortlaut sehe keine Beschränkung auf Flüge vor, die später oder gleichzeitig mit der planmäßigen Abflugszeit starten. Eine einschränkende Auslegung, wonach die Kürzung nur dann gelte, wenn der Ersatzflug nicht früher als der annullierte Flug starte, sei nicht geboten. Eine solche ergebe sich weder aus systematischen Gründen noch aus dem Sinn und Zweck. Dem stehe insbesondere die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union nicht entgegen. Die Entscheidung des EuGH, Urteil vom 21.12.2021, Az. C 146/20, C 188/20 und C 270/20, betreffe die Fälle, in denen die Störung in der Vorverlegung eines Fluges liege. Dies sei mit dem vorliegenden Fall nicht vergleichbar. Denn der vorliegende Fall betreffe die Annullierung im engeren Sinn. Im Fall der Annullierung im engeren Sinn sei der frühere Abflug erst Ausdruck der mit der Ersatzbeförderung einhergehenden Unterstützungsbemühungen des Luftfahrtunternehmens, nachdem die Störung eingetreten sei. Die Fälle seien daher nicht vergleichbar.
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Hiergegen richtet sich die Berufung der Klagepartei mit dem Ziel, der antragsgemäßen vollumfänglichen Verurteilung der Beklagten.
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Das Amtsgericht sei rechtsfehlerhaft davon ausgegangen, dass der Beklagten ein Kürzungsrecht nach Art. 7 Abs. 2 der Fluggastrechteverordnung zustehe. Tatsächlich mache es keinen Unterschied, ob ein Flug annulliert oder mehr als eine Stunde vorverlegt werde. Der EuGH habe ausdrücklich ausgeführt, dass ein solcher vorverlegter Flug als annulliert zu betrachten sei. Es könne daher auch auf Rechtsfolgenseite hinsichtlich des etwaigen Kürzungsrechts nicht zwischen einem annullierten und einem vorverlegten Flug differenziert werden. Die Ausführungen des EuGH seien absolut unmissverständlich und könnten für den hier vorliegenden Sachverhalt nur zur Folge haben, dass der Beklagten kein Kürzungsrecht zustehe. Der EuGH betone die Unannehmlichkeiten, die eine Vorverlegung eines Fluges mit sich bringe. Nach Ansicht des EuGH´s würde es dem Schutzzweck der Verordnung zuwiderlaufen, wenn bei einer Vorverlegung um mehr als eine Stunde ein Kürzungsrecht entstehen würde, nur weil der Fluggast das Reiseziel ohne Verspätung am Endziel erreiche. Diese Ausführungen ließen keinen Spielraum für eine unterschiedliche Behandlung. Die Auswirkung einer reinen Vorverlegung um mehr als eine Stunde und die einer Annullierung nebst Ersatzbeförderung mehr als eine Stunde früher seien für den betroffenen Fluggast völlig identisch. Auf Grund des zitierten EuGH-Urteils könne daher ein Kürzungsrecht nach Art. 7 Abs. 2 Fluggastrechteverordnung nicht zur Anwendung kommen.
II.
9
Nach vorläufiger Würdigung der Kammer trifft es zu, dass im vorliegenden Fall kein Kürzungsrecht gemäß Art. 7 Abs. 2 VO (EG) Nr. 261/2004, besteht.
10
Der EuGH stimmt in der zitierten Entscheidung mit dem Generalanwalt darin überein (Rdnr. 90), dass Art. 7 Abs. 2 VO (EG) 261/2004 nicht den Fall erfasse, in dem der Fluggast auf Grund einer Vorverlegung seines Fluges vor der planmäßigen Ankunftszeit am Endziel ankomme. Damit ist höchstrichterlich (für die Vorverlegung eines Fluges) geklärt, dass Art. 7 Abs. 2 VO (EG) 261/2004 nur anwendbar ist, wenn eine Verspätung vorliegt.
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Zugleich hat der EuGH entschieden, dass die Beeinträchtigungen eines Fluggastes bei der Vorverlegung eines Fluges um mehr als eine Stunde und einer Annullierung identisch seien, so dass ein um mehr als eine Stunde vorverlegter Flug als Annullierung zu betrachten sei. Das muss folgerichtig auch umgekehrt gelten. D.h. die Annullierung mit vorverlegter Ersatzbeförderung kann als Vorverlegung eines Fluges um mehr als eine Stunde betrachtet werden.
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Daraus folgt, dass die Vorverlegung um mehr als eine Stunde und die Annullierung auch auf der Rechtsfolgenseite gleich zu behandeln sind.
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Zur Überzeugung der Kammer gilt daher die Unanwendbarkeit des Art. 7 Abs. 2 VO (EG) 261/2004 auf Basis der Entscheidung des EuGH auch für die Annullierung mit vorverlegter Ersatzbeförderung. Der Entscheidung lässt sich gerade nicht entnehmen, dass Art. 7 Abs. 2 VO (EG) 261/2004 nur bei einer Vorverlegung des ursprünglichen Fluges nicht anwendbar sein soll, obwohl die Interessenlage des Fluggastes bei der Annullierung identisch ist.
14
So beschränkt der EuGH seine Ausführungen auch nicht explizit auf eine Vorverlegung des Fluges. Er führt u. a. in Rdnr. 91 aus, dass der Unionsgesetzgeber im Bewusstsein der mit der Vorverlegung von Flügen verbundenen Unannehmlichkeiten gleichwohl nicht davon ausgegangen sei, dass eine vom ausführenden Luftfahrtunternehmen „angebotene anderweitige Beförderung“, die es ermöglicht, den Umfang der nachteiligen Folgen eines vorzeitigen Abflugs zu begrenzen, zu einer Kürzung der Ausgleichsleistung führen könne. Auch in Randnummer 92 spricht der EuGH von „anderweitiger Beförderung mit früherer Ankunft“. Diesen Ausführungen lässt sich entnehmen, dass der EuGH seine Sichtweise keineswegs auf den dort zu entscheidenden Fall der Vorverlegung des gebuchten Fluges um mehr als eine Stunde beschränken wollte. Vielmehr wird deutlich, dass es entscheidend auf die Beförderung mit früherer Ankunft und die damit verbundenen Beeinträchtigungen des Fluggastes ankommt und nicht darauf, wie es formal (Vorverlegung ursprünglicher Flug oder Annullierung mit Ersatzbeförderung, was das Luftfahrtunternehmen ansonsten in geeigneten Fällen womöglich auch für sich günstig gestalten könnte) zu der verfrühten Ankunft kommt.
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Aus Sicht der Kammer sind die vom EuGH entschiedenen Fälle und der Vorliegende – entgegen der Ansicht des Amtsgerichts Erding – somit vergleichbar.
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Zusammenfassend hat der EuGH mithin klargestellt, dass Art. 7 Abs. 2 VO (EG) 261/2004 nur für Fälle Anwendung findet, in denen der Fluggast verspätet, d. h. nach der planmäßigen Ankunftszeit am Endziel ankommt. Kommt der Fluggast jedoch vor der planmäßigen Ankunftszeit am Endziel an, sei es wegen Vorverlegung des gebuchten Fluges oder wegen einer früheren Ersatzbeförderung, so findet Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 261/2004 keine Anwendung.
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Da dieser Punkt offensichtlich von den Instanzgerichten unterschiedlich beurteilt wird und teilweise streng nach dem Wortlaut darauf abgestellt wird, ob „die Ankunft nicht später als zwei Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit“ erfolgte, ist zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung die Zulassung der Revision zum Bundesgerichtshof beabsichtigt.