Inhalt

VGH München, Urteil v. 17.09.2025 – 2 B 23.1262
Titel:

Erfolglose Berufung im Verfahren gegen eine der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung für den Neubau eines Einfamilienhauses (Doppelhaus)

Normenketten:
BauNVO § 22 Abs. 2 S. 2
VwGO § 130b S. 1, § 167
BauGB § 34 Abs. 1
Leitsatz:
Ein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme kann vorliegen, wenn sich ein Vorhaben entgegen § 34 Abs. 1 BauGB nach den dort genannten Merkmalen nicht in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt. Maßgebend für den Verstoß gegen Rechte eines Nachbarn ist insoweit, dass sich aus den individualisierenden Tatbestandsmerkmalen der Norm ein Personenkreis entnehmen lässt, der sich von der Allgemeinheit unterscheidet. Das Bundesverwaltungsgericht hat diese Aussagen für Doppelhäuser konkretisiert: Danach werden die benachbarten Grundeigentümer durch den wechselseitigen Verzicht auf seitliche Grenzabstände an der gemeinsamen Grundstücksgrenze bauplanungsrechtlich in ein Verhältnis des gegenseitigen Interessenausgleichs eingebunden. Ihre Baufreiheit wird zugleich erweitert und beschränkt. Durch die Möglichkeit des Grenzanbaus wird die bauliche Nutzbarkeit der (häufig schmalen) Grundstücke erhöht. Das wird durch den Verlust seitlicher Grenzabstände an der gemeinsamen Grenze, die Freiflächen schaffen und dem Wohnfrieden dienen, "erkauft". (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Berechnung der Länge einer Hausgruppe bei einem Eckgebäude, Baukörper, Grenzabstand, Nachbarrechte, Rücksichtnahmegebot, Bauweise, Doppelhaus, Baugenehmigung, Anfechtungsklage
Vorinstanz:
VG München, Urteil vom 11.10.2021 – M 8 K 20.2379
Fundstelle:
BeckRS 2025, 27747

Tenor

I. Die Berufung wird zurückgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Berufungsverfahrens einschließlich de außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu tragen.
II. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Kostenschuldnerin kann die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht die jeweilige Vollstreckungsgläubigerin vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1
Die Klägerin wendet sich mit ihrer Klage gegen eine der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung für den Neubau eines Einfamilienhauses.
2
Sie ist Eigentümerin des Nachbargrundstücks, das mit einem viergeschossigen Gebäude mit ausgebautem Dachgeschoss bebaut ist. Östlich grenzt das Baugrundstück an, das ebenfalls mit einem viergeschossigen Hauptgebäude mit ausgebautem Dachgeschoss bebaut ist. Die Hauptbaukörper auf dem Grundstück der Klägerin und dem Baugrundstück sind an der gemeinsamen Grundstücksgrenze auf einer Tiefe von ca. 22 m profilgleich aneinandergebaut. Sie bilden zusammen mit dem Hauptbaukörper, der sich auf dem westlich an das Baugrundstück anschließenden Grundstück befindet, ein in der sogenannten Pavillonbauweise errichtetes Gesamtgebäude, das entlang der Straßenfront zur Y.-Straße eine Länge von etwa 40 m und entlang der Straßenfront zur F.-Straße eine Länge von etwa 19 m aufweist.
3
Ein qualifizierter Bebauungsplan existiert für das Geviert, in dem die Grundstücke liegen, nicht. Durch einfachen, übergeleiteten Baulinienplan ist u.a. für das Bau- und für das Nachbargrundstück zur Y.-Straße hin eine vordere Baulinie festgesetzt.
4
Am 21. März 2019 beantragte die Beigeladene eine Baugenehmigung für den Neubau eines Einfamilienhauses auf dem Baugrundstück. Die Planung des mittlerweile nahezu fertig gestellten Vorhabens sah die Errichtung eines viergeschossigen Wohngebäudes mit Flachdach vor, das – anstelle der bisherigen Doppelgarage – im unmittelbaren Anschluss an das Hauptgebäude auf dem Baugrundstück sowie auf den Grundstücksgrenzen zum Grundstück der Klägerin mit einer Länge von annährend 7 m und zum südlich angrenzenden Grundstück mit einer Breite von ebenfalls annährend 7 m zur Ausführung kommen soll.
5
Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 29. April 2020 erteilte die Beklagte der Beigeladenen die baurechtliche Genehmigung für den vorbezeichneten Neubau. Die Anfechtungsklage der Klägerin hiergegen wies das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 11. Oktober 2021 (Az. M 8 K 20.2379) ab. Nachbarschützende Vorschriften seien nicht verletzt. In Bezug auf die Art der baulichen Nutzung bestünden keine Bedenken, da eine Wohnnutzung auf vorhandene Wohnnutzung stoße. Die Regelungen zum Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise und der Grundstücksfläche, die überbaut werden solle, seien grundsätzlich nicht drittschützend. Im Übrigen füge sich das Vorhaben auch insoweit in die nähere Umgebung ein. Insbesondere sei im maßgeblichen Geviert in ausreichendem Maß auch im rückwärtigen Bereich geschlossene Bauweise vorhanden, sodass das streitgegenständliche Vorhaben ohne seitlichen Grenzabstand errichtet werden könne. Eine faktische rückwärtige Baugrenze im Verhältnis zur Y.-Straße existiere nicht. Auch das Rücksichtnahmegebot sei nicht verletzt. Das Vorhaben habe weder erdrückende Wirkung, noch komme es zu einer unzumutbaren Verschattung. Eine Abstandsfläche sei nicht einzuhalten, da nach planungsrechtlichen Vorschriften an die Grenze gebaut werden dürfe.
6
Der Senat ließ die Berufung mit dem Hinweis zu, dass das Rücksichtnahmegebot möglicherweise unter Berücksichtigung der sogenannten Doppelhausrechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts verletzt sei. Am 28. August 2024 führte der beauftragte Richter des Senats einen Augenschein durch; auf das Protokoll wird verwiesen. Am 17. September 2025 wurde die Verwaltungsstreitsache mündlich verhandelt; auf das Protokoll wird wiederum verwiesen.
7
Die Klägerin beantragt,
8
die Baugenehmigung und die erstinstanzliche Entscheidung aufzuheben.
9
Beklagte und Beigeladene beantragen,
10
die Berufung zurückzuweisen.
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Im Übrigen wird auf den Tatbestand des Erstgerichts, dessen tatsächliche Feststellungen sich der Senat vollständig zu eigen macht (§ 130b Satz 1 VwGO), und die Gerichtsakten beider Instanzen sowie auf die Behördenakten verwiesen.

Entscheidungsgründe

12
Die Berufung ist unbegründet. Die streitgegenständliche Baugenehmigung verletzt keine nachbarschützende Vorschriften, sodass die hiergegen erhobene Anfechtungsklage unbegründet ist (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
13
1. Ein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme kann vorliegen, wenn sich ein Vorhaben entgegen § 34 Abs. 1 BauGB nach den dort genannten Merkmalen nicht in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt. Maßgebend für den Verstoß gegen Rechte eines Nachbarn ist insoweit, dass sich aus den individualisierenden Tatbestandsmerkmalen der Norm ein Personenkreis entnehmen lässt, der sich von der Allgemeinheit unterscheidet (stRspr, vgl. BVerwG, U.v. 5.12.2013 – 4 C 5.12 – BVerwGE 148, 290 Rn. 21 m.w.N.). Das Bundesverwaltungsgericht hat diese Aussagen für Doppelhäuser konkretisiert: Nach dieser Rechtsprechung (vgl. BVerwG, U.v. 24.2.2000 – 4 C 12.98 – juris Rn. 21) werden die benachbarten Grundeigentümer durch den wechselseitigen Verzicht auf seitliche Grenzabstände an der gemeinsamen Grundstücksgrenze bauplanungsrechtlich in ein Verhältnis des gegenseitigen Interessenausgleichs eingebunden. Ihre Baufreiheit wird zugleich erweitert und beschränkt. Durch die Möglichkeit des Grenzanbaus wird die bauliche Nutzbarkeit der (häufig schmalen) Grundstücke erhöht. Das wird durch den Verlust seitlicher Grenzabstände an der gemeinsamen Grenze, die Freiflächen schaffen und dem Wohnfrieden dienen, „erkauft“ (vgl. BVerwG, U.v. 5.12.2013 – 4 C 5.12 – juris Rn. 22). Diese enge Wechselbeziehung, die jeden Grundeigentümer zugleich begünstigt und belastet, begründet ein nachbarliches Austauschverhältnis und legt dem Bauherrn eine Rücksichtnahmeverpflichtung dergestalt auf, das nicht einseitig aufgehoben oder aus dem Gleichgewicht gebracht werden darf (vgl. BVerwG, U.v. 24.2.2000 – 4 C 12.98 – juris Rn. 21). Die Anwendung dieser Grundsätze kann auch für Hausgruppen im Sinne von § 22 Abs. 2 BauNVO in Betracht kommen, wenn ein Gebäude der Hausgruppe an der Grenze einseitig – sei es durch eine Erweiterung des bestehenden Gebäudes oder durch einen Anbau eines weiteren Gebäudes – derart verlängert wird, dass nicht mehr von einer Hausgruppe gesprochen werden kann. Im hier zu entscheidenden Fall mag zwar die einseitige Verlängerung des mittleren Gebäudes des bisherigen, sich über drei Grundstücke erstreckenden Gesamtbaukörpers, die durch die Realisierung des geplanten Vorhabens entstanden ist, dazu führen, dass der Eindruck eines einheitlichen Gesamtbaukörpers verloren geht. Jedoch handelt es sich bei dem früheren Gesamtbaukörper ohne Berücksichtigung des jetzt streitgegenständlichen An- bzw. Neubaus nicht um eine Hausgruppe im Sinne von § 22 Abs. 2 BauNVO, sodass offenbleiben kann, ob im maßgeblichen Geviert nur Einzelhäuser, Doppelhäuser oder Hausgruppen im Sinne von § 22 Abs. 2 BauNVO den maßgeblichen Rahmen bilden (oder bildeten). Für die Anwendung der sogenannten Doppelhausrechtsprechung im unbeplanten Innenbereich zieht das Bundesverwaltungsgericht die Vorschriften der Baunutzungsverordnung als Auslegungshilfe heran (vgl. BVerwG, U.v. 19.3.2015 – 4 C 12.14 – NVwZ 2015, 1869, Rn. 12 ff.). Eine offene Bauweise in Form einer Hausgruppe kann somit nur vorliegen, wenn deren Länge bezogen auf die jeweils seitlichen Grundstücksgrenzen nicht mehr als 50 m beträgt (§ 22 Abs. 2 Satz 2 BauNVO). Der hier fragliche Gesamtbaukörper erstreckt sich über Eck sowohl entlang der Y.-Straße als auch der F.-Straße. Daher führt die Betrachtung nach den seitlichen Grundstücksgrenzen dazu, dass die Länge des Baukörpers an beiden Erschließungsstraßen zusammen zu betrachten ist, wenn das Gebäude – was sich hier aus den vorhandenen Plänen sowie dem Eindruck des Augenscheins ergibt – nicht nur zu einer von beiden Straßen ausgerichtet ist (Bönker/Bischopink/Schilder, BauNVO, 4. Aufl. 2025, § 22 Rn. 16, 17). Nach dieser Betrachtungsweise hat der gesamte Baukörper eine Länge von ca. 59 m, sodass bereits aus diesem Grund keine Hausgruppe im Sinne von § 22 Abs. 2 BauNVO vorliegen kann. Damit liegt in Bezug auf die hier fraglichen drei Grundstücke keine offene, sondern eine geschlossene Bauweise vor, womit sich die Anwendung der sogenannten Doppelhausrechtsprechung verbietet und unter diesem Gesichtspunkt keine Verletzung des Rücksichtnahmegebot festzustellen ist.
14
2. Von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe wird abgesehen und auf die Entscheidungsgründe des erstgerichtlichen Urteils, die sich der Senat vollständig zu eigen macht, verwiesen (§ 130b Satz 2 VwGO).
15
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO und § 162 Abs. 3 VwGO. Geht der Beigeladene wie hier durch Antragstellung (vgl. § 154 Abs. 3 VwGO) ein Kostenrisiko ein, entspricht es in der Regel der Billigkeit, die Erstattungsfähigkeit seiner Aufwendungen auszusprechen. Eine Ausnahme von dieser Regel ist hier nicht angezeigt. Die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.
16
4. Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.