Inhalt

VGH München, Beschluss v. 28.08.2025 – 19 ZB 25.898
Titel:

Massenzustromrichtlinie, Ukraine, Recht auf Weiterwanderung innerhalb der EU (hier verneint)

Normenketten:
AufenthG § 24 Abs. 1
Durchführungsbeschluss (EU) 2022/382
RL 2001/55/EG
Schlagworte:
Massenzustromrichtlinie, Ukraine, Recht auf Weiterwanderung innerhalb der EU (hier verneint)
Vorinstanz:
VG Regensburg, Urteil vom 07.04.2025 – RN 9 K 24.2450
Fundstelle:
BeckRS 2025, 22503

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger hat die Kosten des Antragsverfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert für das Antragsverfahren wird auf 5.000 € festgesetzt.

Gründe

1
Der zulässige Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag (§ 124a Abs. 4 Satz 4, Abs. 5 Satz 2 VwGO) ergeben sich keine der vom Kläger geltend gemachten Zulassungsgründe im Sinne von § 124 Abs. 2 VwGO.
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1. Es bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.
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Solche Zweifel bestünden dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. B.v. 8.5.2019 – 2 BvR 657/19 – juris Rn. 33). Dies ist hier nicht der Fall.
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Das Verwaltungsgericht hat die Klageabweisung im Wesentlichen damit begründet, dass das Vorgehen des Klägers rechtsmissbräuchlich sei, da er sich des in Tschechien gewährten Schutzes freiwillig begeben habe, um in Norwegen um Schutz nachzusuchen und erst nach Rücknahme des Asylantrags in Norwegen nach Deutschland eingereist sei, um hier vorübergehenden kollektiven Schutz nach § 24 AufenthG zu bekommen. Mit dem Sinn und Zweck der RL 2001/55/EG und den darauf basierenden nationalen Regelungen sei es jedoch nicht vereinbar, wenn sich Schutzsuchende unter freiwilliger Aufgabe des durch einen Mitgliedstaat gewährten Schutzes in einem anderen Mitgliedstaat erneut um Schutz bemühten, um dort potentiell bessere Zukunftschancen zu erlangen. Dadurch würden auch die unionsrechtlichen Regelungen zur Weiterwanderung i.S.d. Art. 79 Abs. 2 Buchst. b AEUV unterlaufen.
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Der Kläger rügt, weder der Beschluss (EU) 2022/382 noch die RL 2001/55/EG böten eine Rechtsgrundlage für den Ausschlussgrund der „rechtsmissbräuchlichen Weiterwanderung“. Das BMI schreibe in seinen Anwendungshinweisen, dass die aus der Ukraine Geflüchteten den Mitgliedstaat wählen könnten, in dem sie die mit dem vorübergehenden Schutz verbundenen Rechte in Anspruch nehmen wollen. Die Erteilung eines Aufenthaltstitels dürfe deshalb nicht mit der Begründung abgelehnt werden, dass ein Betroffener bereits in einem anderen Mitgliedstaat einen entsprechenden Titel erhalten habe. Diese Verwaltungsvorschrift diene der richtlinienkonformen Auslegung des § 24 AufenthG, dessen Anwendungsvorrang durch die Auffassung des Verwaltungsgerichts umgangen werde, indem es zusätzliche Voraussetzungen (angeblicher „Missbrauch“) einfüge. Der vorübergehende Schutz „gehöre“ nicht einem Mitgliedstaat, sondern sei unionsweit eingeführt worden und gewähre ein subjektives Recht auf Schutz, das nicht von einer dauerhaften Bindung an den ersten Aufnahmestaat abhängig gemacht werden könne. Anders als im Dublin-System gebe es keinen „Erststaatenmechanismus“.
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Dieses Vorbringen vermag indes die Entscheidung des Verwaltungsgerichts im Ergebnis nicht mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage zu stellen.
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Nach § 24 Abs. 1 AufenthG wird einem Ausländer, dem aufgrund der 2001 in Kraft getretenen EU-Massenzustromrichtlinie (RL 2001/55/EG; künftig: Richtlinie) vorübergehender Schutz gewährt wird und der seine Bereitschaft erklärt hat, im Bundesgebiet aufgenommen zu werden, für die nach den Artikeln 4 und 6 der Richtlinie bemessene Dauer des vorübergehenden Schutzes eine Aufenthaltserlaubnis erteilt. Die Richtlinie wurde mit Beschluss der EU-Innenminister vom 3. März 2022 im Hinblick auf diejenigen Personen aktiviert, die vor dem am 24. Februar 2022 begonnenen Angriff Russlands auf die Ukraine fliehen. Der entsprechende Durchführungsbeschluss (EU) 2022/382 des Rates vom 4. März 2022 sieht die Aufnahme von Personen mit ukrainischer Staatsangehörigkeit und deren Familienangehörigen sowie in bestimmten – hier nicht relevanten – Fällen auch von Staatenlosen bzw. Drittstaatsangehörigen vor.
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Die schutzberechtigten Ukrainer genießen Freizügigkeit innerhalb der EU. Sie können – weitergehend als anerkannte Flüchtlinge – auch nach Aufnahme in einem Mitgliedstaat in einen anderen Mitgliedstaat weiterwandern. Zunächst dürfen sich die Berechtigten an insgesamt 90 Tagen innerhalb von 180 Tagen in einem anderen Mitgliedstaat aufhalten. Sie können sich aber auch dauerhaft in einem anderen Mitgliedstaat niederlassen. Denn die Mitgliedstaaten haben auf das Recht der Rücküberstellung von Weitergewanderten, das Art. 11 RL 2001/55/EG gewährt, verzichtet (vgl. die operativen Richtlinien der EU-Kommission, ABl. C 126/I v. 21.3.2022, S. 9). Die Betroffenen genießen insofern ein höheres Maß an Freizügigkeit bei einer Weiterwanderung von einem EU-Mitgliedstaat zu einem andern als bei einem beabsichtigten Aufenthaltswechsel innerhalb Deutschlands (Dörig, JM 2022, 249/252).
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Mit den operativen Richtlinien der EU-Kommission korrespondieren die vom Kläger genannten Hinweise des BMI in der Fassung vom 30. Mai 2024 zur Umsetzung des Durchführungsbeschlusses, nach deren Ziff. 8.7 aus der Ukraine Geflüchtete den Mitgliedstaat wählen können, in dem sie die mit dem vorübergehenden Schutz verbundenen Rechte in Anspruch nehmen wollen. Die Erteilung eines Aufenthaltstitels dürfe deshalb nicht mit der Begründung abgelehnt werden, dass ein Betroffener bereits in einem anderen Mitgliedstaat einen entsprechenden Titel erhalten hat.
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Der Kläger vermag von dem Recht auf Weiterwanderung jedoch nicht zu profitieren. Der Beklagte hat insoweit in seiner Antragserwiderung zutreffend darauf hingewiesen, dass hier kein Fall der Weiterwanderung innerhalb der EU vorliegt. Der Kläger hat in Tschechien vorübergehenden Schutz gemäß Art. 2 Abs. 1a) des Durchführungsbeschlusses erhalten (gültig vom 24.3.2022 bis 23.3.2023). In dieser Zeit hätte der Kläger tatsächlich jederzeit in einen anderen Mitgliedstaat wandern können. Dies hat er jedoch nicht getan, sondern am 14. Dezember 2022 ausdrücklich gegenüber der Tschechischen Botschaft in Warschau auf den ihm in Tschechien gewährten vorübergehenden Schutz verzichtet, um die Chancen seines in Norwegen (einem Drittland) gestellten Asylantrags zu verbessern. Ab diesem Zeitpunkt war entgegen der Auffassung des Klägers eine Weiterwanderung innerhalb der EU im o.g. Sinne nicht mehr möglich. Ob einem Antrag auf erneuten (zweiten) vorübergehenden Schutz in der EU der Verzicht entgegensteht und ihn deshalb rechtsmissbräuchlich erscheinen lässt, wird vom Kläger in der Zulassungsbegründung nicht thematisiert, sodass der Senat auf diese Rechtsfrage nicht einzugehen hatte.
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2. Auch der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) liegt nicht vor bzw. ist schon nicht hinreichend dargelegt (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO).
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Die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) setzt voraus, dass eine konkrete, bisher höchstrichterlich oder obergerichtlich nicht beantwortete Rechts- oder Tatsachenfrage formuliert wird, die für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung (entscheidungserheblich) war, deren Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder Weiterentwicklung des Rechts geboten ist und der eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 124a Rn. 72).
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Der Kläger hält die folgende Frage für grundsätzlich bedeutsam:
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„Kann die Weiterwanderung eines vorübergehend Schutzberechtigten i.S.d. RL 2001/55/EG von einem EU-Mitgliedstaat in einen anderen überhaupt als rechtsmissbräuchlich eingestuft werden – und wenn ja, unter welchen Voraussetzungen wäre ein solcher Missbrauch anzunehmen?“
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Diese Frage ist indes nicht entscheidungserheblich, da keine Weiterwanderung im oben beschriebenen Sinne – wie oben unter 1. bereits ausgeführt – vorliegt.
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3. Ein Verfahrensfehler im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO ist nicht dargelegt.
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Der Kläger macht geltend, das Verwaltungsgericht habe sich weder in der Sachverhaltsdarstellung noch in der rechtlichen Würdigung mit seinem Gesundheitszustand und dem Vorbringen zur mangelnden medizinischen Versorgung in Tschechien auseinandergesetzt und damit ein wesentliches Tatsachenelement und einen möglichen Rechtfertigungsgrund für die Weiterwanderung außer Acht gelassen. Wäre das Gesundheitsvorbringen berücksichtigt worden, hätte sich dem Gericht die Möglichkeit eröffnet, festzustellen, dass er eine individuelle Schutzwürdigkeit aufweise, ihm in Tschechien tatsächlich keine adäquate Versorgung zur Verfügung gestanden habe und die Weiterwanderung nach Deutschland nicht willkürlich oder rechtsmissbräuchlich, sondern aus humanitären Gründen erforderlich gewesen sei.
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Abgesehen davon, dass das Verwaltungsgericht den Vortrag zu dem Gesundheitszustand ausweislich des Tatbestands der angefochtenen Entscheidung sehr wohl zur Kenntnis genommen hat (vgl. UA S. 3 bis 6), ist dieser Vortrag bereits nicht entscheidungserheblich, da der Kläger nicht von der durch die Kommission zugelassenen Weiterwanderung profitieren kann und im Übrigen die gesundheitliche Verfassung eines vorübergehenden Schutz beantragenden Ausländers für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 24 AufenthG ohne Belang ist. Entscheidend ist allein, ob der Ausländer unter Art. 2 Abs. 1 des Durchführungsbeschlusses fällt, also ein ukrainischer Staatsangehöriger ist, der vor dem 24. Februar 2022 seinen Aufenthalt in der Ukraine hatte und am oder nach dem 24. Februar 2022 infolge der militärischen Invasion der russischen Streitkräfte, die an diesem Tag begann, aus der Ukraine vertrieben wurde.
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4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 und § 52 Abs. 2 GKG.
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5. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).