Titel:
Beweiswürdigung, Aussage gegen Aussage, Gesamtwürdigung, Revisionsgerichtliche Überprüfung, BGH-Beschluss, Sexuelle Nötigung, Urteilsgründe, Andere Strafkammer, Sachverhaltsschilderung, Sexualbezogenheit, Tatgericht, Verletzung materiellen Rechts, Landgerichte, Weitere Erkenntnisquellen, Behandlungsverhältnis, Freiheitsstrafe, Prüfungsmaßstab, Strafverfahren, Rechtsfehler, Berufung der Staatsanwaltschaft
Normenkette:
StPO § 261
Leitsätze:
1. In Fällen, in denen „Aussage gegen Aussage“ steht, ist eine besonders sorgfältige Gesamtwürdigung aller Umstände durch das Tatgericht vorzunehmen. Dazu hat der Tatrichter die Inhalte früherer Aussagen der Geschädigten im Ermittlungs- und Strafverfahren mitzuteilen und auf Konstanz zu prüfen sowie frühere Sachverhaltsschilderungen Dritten gegenüber als Erkenntnisquellen heranziehen.
2. Die Pflicht zur besonders sorgfältigen Beweiswürdigung besteht auch dann, wenn ein weiterer Zeuge einen außerhalb des eigentlichen Tatgeschehens liegenden, wesentlichen Sachverhalt in Randbereichen bestätigt, tatvorwurfrelevante Details jedoch abweichend zum Hauptbelastungszeugen schildert.
Schlagworte:
Beweiswürdigung, Konstanzanalyse, Zeugenaussage, Revisionsprüfung, Urteilsbegründung, Glaubhaftigkeitsprüfung
Vorinstanz:
LG Nürnberg-Fürth, Urteil vom 11.04.2025 – 15 NBs 260 Js 18623/24
Fundstelle:
BeckRS 2025, 21723
Tenor
I. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 11. April 2025 mit den Feststellungen aufgehoben.
II. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Strafkammer des Landgerichts Nürnberg-Fürth zurückverwiesen.
Gründe
1
Das Amtsgericht Hersbruck hat den Angeklagten am 1. Oktober 2024 wegen sexuellen Missbrauchs unter Ausnutzung eines Behandlungsverhältnisses in Tateinheit mit sexueller Nötigung zu einer Freiheitsstrafe von 9 Monaten mit Bewährung verurteilt. Das Landgericht Nürnberg-Fürth hat mit Urteil vom 11. April 2025 die Berufungen der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten als unbegründet zurückgewiesen. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Die Generalstaatsanwaltschaft München beantragt eine Korrektur des Schuldspruchs und die Verwerfung der Revision als unbegründet.
2
Das Rechtsmittel hat Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO).
3
1. Nach den Feststellungen fasste der Angeklagte am 29. Januar 2024 der Geschädigten während einer in Abwesenheit von Dritten durchgeführten physiotherapeutischen Behandlung ihrer Brustregion unvermittelt unter den BH an die linke Brust und drückte die Brustwarze für etwa zwei Sekunden unter Bewegung seiner Finger.
4
2. Die Verurteilung des nicht geständigen Angeklagten hat keinen Bestand, weil die Feststellungen auch unter Berücksichtigung des eingeschränkten revisionsrechtlichen Prüfungsmaßstabs (vgl. etwa BGH, Urteil vom 10. November 2021 – 5 StR 127/21-, juris Rn. 11 m.w.N.) nicht auf einer tragfähigen Beweiswürdigung beruhen.
5
a. Die Beweiswürdigung ist nach § 261 StPO Sache des Tatgerichts, dem es obliegt, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Der revisionsgerichtlichen Überprüfung unterliegt nur, ob ihm dabei Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 20. Dezember 2017 – 1 StR 408/17-, juris Rn. 9 m.w.N.). In Fällen, in denen „Aussage gegen Aussage“ steht, ist eine besonders sorgfältige Gesamtwürdigung aller Umstände durch das Tatgericht vorzunehmen. Erforderlich sind vor allem eine gründliche Inhaltsanalyse, eine möglichst genaue Prüfung der Entstehungsgeschichte der belastenden Aussage, eine Bewertung des feststellbaren Aussagemotivs sowie eine Prüfung von Konstanz, Detailliertheit und Plausibilität der Angaben (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 11. März 2025 – 2 StR 340/24 –, juris Rn. 9; BGH, Beschluss vom 24. Oktober 2023 – 2 StR 304/23-, juris Rn. 7). Weiter müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass der Tatrichter alle Umstände erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat, die die Entscheidung zu Gunsten oder zu Lasten des Angeklagten beeinflussen können (BGH, Beschluss vom 11. März 2025 – 2 StR 340/24 –, juris Rn. 9; BGH, Beschluss vom 26. Juni 2024 – 1 StR 176/24-, juris Rn. 7; BGH, Beschluss vom 10. Mai 2023 – 4 StR 37/23 –, juris Rn. 6). Die Konstanzanalyse als wesentliches methodisches Element der Aussageanalyse bezieht sich insbesondere auf aussageübergreifende Qualitätsmerkmale, die sich aus dem Vergleich von Angaben über denselben Sachverhalt zu unterschiedlichen Zeitpunkten ergeben. Falls ein Zeuge mehrfach vernommen worden ist, ist ein Aussagevergleich in Bezug auf Übereinstimmungen, Widersprüche, Ergänzungen und Auslassungen vorzunehmen (BGH, Urteil vom 18. Dezember 2024 – 1 StR 293/24 –, juris Rn. 17).
6
b. Gemessen daran erweist sich die Beweiswürdigung der Strafkammer als lückenhaft. Das Landgericht hat bereits versäumt, die Inhalte früherer Aussagen der Geschädigten im Ermittlungs- und Strafverfahren (vgl. dazu etwa BGH, Beschluss vom 23. Mai 2000 – 1 StR 156/00 –, juris Rn. 10 ff.) mitzuteilen und auf Konstanz zu prüfen. Dazu hat nicht zuletzt die Angabe der Zeugin, sie hätte in der ersten Instanz bei Ihrer Bekundung „etwas vergessen“, Anlass geboten. Auch hätte die Strafkammer die Inhalte der von der Zeugin angefertigten Gedächtnisprotokolle sowie die Sachverhaltsschilderung gegenüber ihrem Ehemann als weitere Erkenntnisquellen ausschöpfen müssen. Etwas anderes folgt auch nicht aus der Aussage der Zeugin M. . Die Strafkammer hat zum einen nicht dargelegt, welchen „Sachverhalt“ die Zeugin L1. ihr telefonisch schilderte, und in welchem zeitlichen Abstand zum verfahrensgegenständlichen Geschehen das Telefonat stattfand. Zudem beschränkt sich ihre Wiedergabe des Gesprächs vom 5. Februar 2024 auf Formulierungen wie „die Sache“, „ein Fehler passiert“ oder „ihm leid tun, dass es ausgerechnet der Frau L1. passiert wäre“. Die Wortwahl belegt entgegen der Auffassung der Strafkammer kein Eingeständnis eines konkreten, sexualbezogenen Fehlverhaltens, sondern ließe sich unbefangen auch mit dem vom Angeklagten behaupteten Zugeständnis, „irgendetwas nicht richtig gemacht“ zu haben (Urteil S. 4), in Einklang bringen. Ein gravierendes Defizit in der Beweiswürdigung liegt gerade darin, dass sich der Tatrichter nicht mit der Auffälligkeit auseinandergesetzt hat, dass die Zeugin M. nach ihren Angaben das gesamte Gespräch am 5. Februar 2024 verfolgte, jedoch in ihrer Vernehmung die von der Zeugin L1. bekundeten Gesprächsinhalte, die ihrerseits für ein Eingeständnis eines sexualbezogenen Fehlverhaltens sprechen könnten, nämlich die Passagen „geschämt“, „dass der Vorfall allein von ihm ausgegangen wäre“, „Es käme ihm nicht auf das Alter an, sondern allein auf Sympathie“, nicht bestätigt hat. Sollte die Zeugin M. den gesamten Gesprächsverlauf inhaltlich abschließend wiedergegeben haben, würde ihre Aussage an beweiskritischen Stellen deutlich von den Angaben der Geschädigten abweichen. Es kommt daher nicht mehr darauf an, dass auch die Vereinbarung eines Folgetermins und die von der Zeugin bekundete Äußerung, dass ihr „das zu nahe“ wäre, nicht ohne weitere Erklärung der Geschädigten mit dem von ihr beschriebenen Reiben der Brustwarze zu vereinbaren sind.