Titel:
CMR-Haftpflichtversicherung – Insolvenz des Versicherungsnehmers
Normenketten:
VVG § 110
ZPO § 264 Nr. 2
InsO § 173 Abs. 1
BGB § 1228 Abs. 2, § 1282 Abs. 1
Leitsätze:
1. In der Haftpflichtversicherung kann der Versicherungsnehmer grundsätzlich nur auf Feststellung klagen, dass der Versicherer wegen einer im Einzelnen genau zu bezeichnenden Haftpflichtforderung Versicherungsschutz zu gewähren habe, außer wenn der Anspruch sich in einen Zahlungsanspruch umgewandelt hat. Die Feststellungsklage bleibt auch dann zulässig, wenn sich der Befreiungsanspruch während des Prozesses in einen Zahlungsanspruch verwandelt. (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
2. Gemäß § 110 VVG kann der geschädigte Dritte wegen des ihm gegen den Versicherungsnehmer zustehenden Anspruchs abgesonderte Befriedigung aus dem Freistellungsanspruch des Versicherungsnehmers verlangen, wenn über dessen Vermögen das Insolvenzverfahren eröffnet ist. Dies stellt sicher, dass die Versicherungsleistung dem geschädigten Dritten und nicht den Gläubigern des Versicherungsnehmers zugutekommt. Letzteres widerspräche der Sozialbindung der Haftpflichtversicherung zu Gunsten des Dritten. Dies gilt auch in der CMR-Haftpflichtversicherung. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die in einem Informationsblatt enthaltenen Hinweise, dass der Vertrag – über eine CMR- Haftpflichtversicherung – dem italienischen Recht unterliege und dass es den Parteien freistehe, das Recht eines anderen Staates zu vereinbaren, ergänzt um den Vorschlag, dass auf den Vertrag italienisches Recht anzuwenden sei, stellt keine Rechtswahl im Sinne des Art. 27 Abs. 1 S. 2 EGBGB aF dar, die sich ausdrücklich oder mit hinreichender Sicherheit aus den Bedingungen des Vertrages ergibt. (Rn. 24 – 26) (redaktioneller Leitsatz)
4. Das in der Haftpflichtversicherung geltende prozessuale Trennungsprinzip findet seine notwendige Ergänzung in der Bindungswirkung des rechtskräftigen Haftpflichturteils für den nachfolgenden Deckungsrechtsstreit, soweit Voraussetzungsidentität besteht. Sie folgt aus dem Leistungsversprechen, das der Haftpflichtversicherer dem Versicherungsnehmer gegeben hat, und bedeutet, dass das Ergebnis des vorangegangenen Haftpflichtprozesses für die Deckungsfrage verbindlich ist. Damit wird verhindert, dass die im Haftpflichtprozess getroffene Entscheidung und die zugrunde liegenden Feststellungen im Deckungsprozess erneut überprüft werden können. (Rn. 46) (redaktioneller Leitsatz)
5. Auf Grundlage des § 110 VVG erlangt der Gläubiger, wenn über das Vermögen des Versicherungsnehmers das Insolvenzverfahren eröffnet ist, ein gesetzliches Pfandrecht an dem Freistellungsanspruch des Versicherungsnehmers gegen den Haftpflichtversicherer. Damit ist der Gläubiger nach § 50 Abs. 1 InsO zur abgesonderten Befriedigung und nach § 173 Abs. 1 InsO zur Verwertung des Freistellungsanspruchs berechtigt. Als Inhaber eines Pfandrechts kann der Gläubiger die Forderung des Versicherungsnehmers gegen den Haftpflichtversicherer einziehen (§ 1282 Abs. 1, § 1228 Abs. 2 BGB) und nach Feststellung des Haftungsanspruchs ohne eine Pfändung vom Versicherer Zahlung verlangen. (Rn. 59 – 61) (Leitsätze der RdTW-Redaktion) (redaktioneller Leitsatz)
1. Gemäß § 110 VVG kann der geschädigte Dritte wegen des ihm gegen den Versicherungsnehmer zustehenden Anspruchs abgesonderte Befriedigung aus dem Freistellungsanspruch des Versicherungsnehmers verlangen, wenn über dessen Vermögen das Insolvenzverfahren eröffnet ist. Dies stellt sicher, dass die Versicherungsleistung dem geschädigten Dritten und nicht den Gläubigern des Versicherungsnehmers zugutekommt. Letzteres widerspräche der Sozialbindung der Haftpflichtversicherung zu Gunsten des Dritten. Dies gilt auch in der CMR-Haftpflichtversicherung. (redaktioneller Leitsatz)
2. Die in einem Informationsblatt enthaltenen Hinweise, dass der Vertrag über eine CMR- Haftpflichtversicherung dem italienischen Recht unterliege und dass es den Parteien freistehe, das Recht eines anderen Staates zu vereinbaren, ergänzt um den Vorschlag, dass auf den Vertrag italienisches Recht anzuwenden sei, stellt keine Rechtswahl im Sinne des Art. 27 Abs. 1 S. 2 EGBGB aF dar, die sich ausdrücklich oder mit hinreichender Sicherheit aus den Bedingungen des Vertrages ergibt. (redaktioneller Leitsatz)
3. Das in der Haftpflichtversicherung geltende prozessuale Trennungsprinzip findet seine notwendige Ergänzung in der Bindungswirkung des rechtskräftigen Haftpflichturteils für den nachfolgenden Deckungsrechtsstreit, soweit Voraussetzungsidentität besteht. (Leitsätze der Redaktion) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Freistellung, objektive Anknüpfung, Pfandrecht, gesetzliches Pfandrecht, Elektroartikel, Feststellungsklage, Sozialbindung, Klageänderung, Gefahrerhöhung, Verjährung, Haftpflichtversicherung, Insolvenzverfahren, abgesonderte Befriedigung, Absonderungsrecht, Rechtswahl, CMR-Haftpflichtversicherung, Verwertungsrecht, Pfandverwertung
Vorinstanzen:
LG München I, Berichtigungsbeschluss vom 17.06.2024 – 10 HK O 24843/14
LG München I, Endurteil vom 29.04.2024 – 10 HK O 24843/14
Fundstellen:
ZRI 2025, 901
FDVersR 2025, 020212
BeckRS 2025, 20212
Tenor
1. Der Senat beabsichtigt, die Berufung gegen das Urteil des Landgerichts München I vom 29. April 2024, Az. 10 HK O 24843/14, berichtigt durch Beschluss vom 17. Juni 2024, gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, weil er einstimmig der Auffassung ist, dass die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, der Rechtssache auch keine grundsätzliche Bedeutung zukommt, weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung über die Berufung nicht geboten ist.
2. Hierzu besteht Gelegenheit zur Stellungnahme binnen zwei Wochen nach Zustellung dieses Beschlusses.
Entscheidungsgründe
1
Die F… GmbH (fortan: Schuldnerin) unterhielt bei der Beklagten eine CMR-Haftpflichtversicherung (Spediteurhaftungsversicherung; vgl. Anlagen B 2, B 3). Die Schuldnerin hatte als Unterfrachtführerin eine Sendung mit Elektronikartikeln im Wert von 71.157 € von London nach Berlin zu befördern, die am 2. September 2011 auf dem Transport entwendet wurde. Die Klägerin ist Transportversicherer der Hauptauftraggeberin S… GmbH und entschädigte diese für den Verlust der Sendung. Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Schuldnerin wurde der Insolvenzverwalter rechtskräftig verurteilt, im Wege der abgesonderten Befriedigung gemäß § 110 VVG aus der Entschädigungsforderung der bei der Beklagten unterhaltenen CMR-Haftpflichtversicherung an die Klägerin 76.356,97 € nebst Zinsen zu zahlen (vgl. Anlage K 1; fortan auch: Haftpflichtprozess).
2
Unter Verweis auf ihr Recht auf abgesonderte Befriedigung hat die Klägerin von der Beklagten zuletzt die Zahlung dieses Betrags verlangt. Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. Mit der Berufung erstrebt die Beklagte die Abweisung der Klage.
3
Die zulässige Berufung der Beklagten hat offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg. Die angefochtene Entscheidung beruht weder auf einer Rechtsverletzung (§ 546 ZPO) noch rechtfertigen nach § 529 ZPO zugrunde zu legende Tatsachen eine andere Entscheidung (§ 513 Abs. 1 ZPO). Mit weitgehend zutreffender Begründung hat das Landgericht der Klage stattgegeben. Das Vorbringen in der Berufungsbegründung vom 2. August 2024 ist nicht geeignet, zu einer abweichenden Beurteilung zu gelangen.
4
1. Das Landgericht hat ausgeführt, der Übergang von der Feststellungszur Leistungsklage sei zulässig, die Beklagte passiv- und die Klägerin aktivlegitimiert. Auf den Versicherungsvertrag komme deutsches Recht zur Anwendung. Ein Anspruch der Klägerin gegen die Schuldnerin, der abgesondert zu befriedigen sei, stehe aufgrund der rechtskräftigen Verurteilung des Insolvenzverwalters fest. Das Recht auf abgesonderte Befriedigung aus der Versicherungsleistung gewähre der Klägerin entsprechend § 1282 BGB ein unmittelbares Einziehungsrecht gegenüber dem hier beklagten Versicherer der Schuldnerin. Einwendungen, die im Versicherungsverhältnis zur Leistungsfreiheit des Versicherers führen würden, lägen nicht vor. Es bestehe weder Leistungsfreiheit gemäß § 26 VVG noch sei Verjährung eingetreten.
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2. Die Klage ist zulässig.
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a) Auf die Zulässigkeit der ursprünglich erhobenen Feststellungsklage kommt es in diesem Zusammenhang nicht an. Entsprechend dem zuletzt gestellten Klageantrag hat das Landgericht die Beklagte zur Zahlung verurteilt. Nur ergänzend ist deshalb anzumerken, dass die zuvor erhobene Feststellungsklage zulässig war:
7
In der Haftpflichtversicherung kann der Versicherungsnehmer grundsätzlich nur auf Feststellung klagen, dass der Versicherer wegen einer im Einzelnen genau zu bezeichnenden Haftpflichtforderung Versicherungsschutz zu gewähren habe, außer wenn der Anspruch sich in einen Zahlungsanspruch umgewandelt hat (Prölss/Martin/Lücke, VVG, 32. Aufl., § 100 Rn. 19 mwN). Die Feststellungsklage bleibt auch dann zulässig, wenn sich der Befreiungsanspruch während des Prozesses in einen Zahlungsanspruch verwandelt (Prölss/Martin/Lücke, aaO Rn. 22). Dies gilt auch für die anstelle der Versicherungsnehmerin klagende Klägerin.
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Entgegen der Berufungsbegründung (S. 2 unter 2 b) setzt ein Feststellungsinteresse der Klägerin keine darüber hinausgehende „Sozialbindung“ der Haftpflichtversicherung voraus. Gemäß § 110 VVG kann der geschädigte Dritte wegen des ihm gegen den Versicherungsnehmer zustehenden Anspruchs abgesonderte Befriedigung aus dem Freistellungsanspruch des Versicherungsnehmers verlangen, wenn über dessen Vermögen das Insolvenzverfahren eröffnet ist. Dies stellt sicher, dass die Versicherungsleistung dem geschädigten Dritten und nicht den Gläubigern des Versicherungsnehmers zugutekommt; letzteres widerspräche der Sozialbindung der Haftpflichtversicherung zu Gunsten des Dritten (BGH, Beschluss vom 25. September 2014 – IX ZB 117/12, VersR 2015, 497 Rn. 7 mwN). Dies ist Gesetzeszweck der Vorschrift des § 110 VVG, mit der die Klägerin ihre Einziehungsberechtigung begründet, und kein zusätzliches Erfordernis. Auch ist nicht ersichtlich, warum in der CMR-Haftpflichtversicherung der Zweck des § 110 VVG nicht gelten sollte, dass die Versicherungsleistung dem Geschädigten zugutekommen soll und nicht den Gläubigern des Versicherungsnehmers.
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b) Der im ersten Rechtszug erfolgte Übergang von der Feststellungszur Leistungsklage ist zulässig.
10
aa) Bei einem solchen Übergang liegt ein Fall des § 264 Nr. 2 ZPO in Gestalt einer Erweiterung des Klageantrags vor (vgl. BeckOK-ZPO/Bacher, 2025, § 264 Rn. 5, 5.1). Der neue Antrag auf Zahlung der Versicherungsleistung aus der CMR-Haftpflichtversicherung umfasst als inhaltsgleiches Minus den früheren Antrag auf Feststellung der Verpflichtung, Versicherungsschutz aus dieser Versicherung zu gewähren.
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Entgegen der Berufungsbegründung (S. 2 f unter 2 c) betreffen die Anträge keine unterschiedlichen Streitgegenstände. Unzutreffend ist die Annahme, mit der Klageänderung werde ein Haftpflichtanspruch des Geschädigten gegen den Versicherer des Schädigers verfolgt. Auch die Zahlung begehrt die Klägerin als Einziehungsberechtigte (§ 110 VVG, § 1282 BGB) des Anspruchs der Schuldnerin auf die Versicherungsleistung aus ihrem Haftpflichtversicherungsvertrag mit der Beklagten, also im Deckungsverhältnis.
12
bb) Unabhängig hiervon lägen auch die Voraussetzungen einer zulässigen Klageänderung gemäß § 263 ZPO vor. Zutreffend hat das Landgericht im angefochtenen Urteil (S. 5 unter I 1) eine etwaige Klageänderung hilfsweise für sachdienlich erachtet. Denn diese sollte keinen völlig neuen Streitstoff in den Rechtsstreit einführen, bei dessen Beurteilung das Ergebnis der bisherigen Prozessführung nicht verwertet werden könnte (vgl. BeckOK-ZPO/Bacher, 2025, § 263 Rn. 10 mwN).
13
c) Der Zulässigkeitsvoraussetzung des § 253 Abs. 2 Nr. 1 ZPO ist genügt. Die Klageschrift bezeichnet die beklagte Partei. Unschädlich ist (entgegen der Berufungsbegründung, S. 3 unter 2 d) die offensichtliche Falschbezeichnung als „A… AG“.
14
Entscheidend ist, welchen Sinn die Erklärung vom objektiven Empfängerhorizont des Gerichts und des Prozessgegners aus hat. Für diese Auslegung sind auch die der Klageschrift beigefügten Unterlagen heranzuziehen (vgl. BeckOK-ZPO/Bacher, 2025, § 253 Rn. 45, 45.1 mwN). Aus diesen erschließt sich eindeutig, dass als Haftpflichtversicherer der Schuldnerin die Beklagte in Anspruch genommen werden soll.
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3. Die Klage ist begründet. Die Klägerin kann von der Beklagten die zuerkannte Zahlung verlangen. Der Schuldnerin steht gegen die Beklagte ein versicherungsvertraglicher Freistellungsanspruch zu (dazu unter a), den die Klägerin als Pfandgläubigerin zur Zahlung an sich selbst einziehen darf (unter b).
16
a) Der Schuldnerin steht aus dem Haftpflichtversicherungsvertrag mit der Beklagten gegen diese ein Anspruch auf Freistellung von der Verbindlichkeit aus dem Haftpflichtprozess zu.
17
aa) Gemäß § 100 VVG ist der Haftpflichtversicherer verpflichtet, den Versicherungsnehmer von Ansprüchen freizustellen, die von einem Dritten aufgrund der Verantwortlichkeit des Versicherungsnehmers für eine während der Versicherungszeit eintretende Tatsache geltend gemacht werden. Gemäß § 106 Satz 1 VVG hat der Versicherer den Versicherungsnehmer innerhalb von zwei Wochen vom Anspruch des Dritten freizustellen, nachdem der Anspruch des Dritten mit bindender Wirkung für den Versicherer durch rechtskräftiges Urteil, Anerkenntnis oder Vergleich festgestellt worden ist.
18
bb) Der Versicherungsvertrag zwischen der Schuldnerin und der Beklagten unterliegt (entgegen der Berufungsbegründung, S. 4 ff unter 3 b bis e) dem deutschen Recht.
19
(1) Anders als im angefochtenen Urteil (S. 5 unter I 4) angenommen bestimmt sich das auf den Versicherungsvertrag anwendbare Recht nicht nach Art. 7 Abs. 3, Abs. 6 Rom I-Verordnung. Gemäß Art. 28 Rom I-VO wird die Verordnung auf Verträge angewandt, die ab dem 17. Dezember 2009 geschlossen wurden. Die streitgegenständliche Versicherung wurde schon am 28. August 2009 policiert (vgl. Anlage B 2, erste Seite).
20
Verträge, die – wie hier – ab dem 1. September 1986 und vor dem 17. Dezember 2009 geschlossen wurden, sind nach Maßgabe der Art. 27 ff EGBGB in der damals gültigen Fassung (des Gesetzes vom 21. September 1994, FNA 400-1) zu beurteilen (vgl. BeckOGK-Rom I-VO/Paulus, 2025, Art. 28 Rn. 12). Gemäß Art. 27 Abs. 1 Satz 1 EGBGB aF unterliegt der Vertrag dem von den Parteien gewählten Recht. Mangels Rechtswahl unterliegt der Vertrag gemäß Art. 28 Abs. 1 Satz 1 EGBGB aF dem Recht des Staates, mit dem er die engsten Verbindungen aufweist.
21
(2) Die Parteien des Versicherungsvertrags haben keine Rechtswahl getroffen. Gemäß Art. 27 Abs. 1 Satz 2 EGBGB aF muss die Rechtswahl ausdrücklich sein oder sich mit hinreichender Sicherheit aus den Bestimmungen des Vertrages oder aus den Umständen des Falles ergeben.
22
Keine dieser Varianten liegt hier vor.
23
(a) Der von der Beklagten angeführte Text stellt keine Rechtswahl der Vertragsparteien dar.
24
(aa) Das vorgelegte zweisprachige „Informationsblatt“ der Beklagten (in Anlagen B 1 und B 2), das von einem Versicherungsmakler mit Sitz in Bozen (Südtirol) verwendet wurde, enthält im Abschnitt „Angaben zum Vertrag“ unter der Überschrift „1. Anwendbares Recht“ zwei Absätze. Der erste Absatz informiert darüber, dass nach einer – offenbar italienischen – Rechtsvorschrift der Vertrag italienischem Recht unterliege und es den Parteien freistehe, das Recht eines anderen Staates zu vereinbaren. Der zweite Absatz lautet: „Die [Beklagte] schlägt Ihnen daher vor, auf den Vertrag italienisches Recht anzuwenden.“
25
(bb) Der erste Absatz stellt schon nach seinem Wortlaut keine Vereinbarung der Vertragsparteien dar, nach der das Recht eines bestimmten Staates Anwendung finden solle. Es handelt sich nach der Formulierung lediglich um eine Information über das anwendbare Recht.
26
(cc) Auch dem zweiten Absatz ist nicht zu entnehmen, dass dieser eine Vereinbarung der Vertragsparteien über das anwendbare Recht begründet hätte. Seine Auslegung ergibt, dass es sich um keinen Antrag der Beklagten auf Abschluss einer Rechtswahlvereinbarung handelt. Zudem fehlte es an einer Annahme.
27
Erstens ist der Text nicht im regelnden Teil des Versicherungsvertrags enthalten, in dem der Versicherungsnehmer als Erklärungsempfänger rechtsgeschäftliche Erklärungen erwarten würde. Es handelt sich um einen mit „Informationsblatt“ überschriebenen, ersichtlich erläuternden Text.
28
Zweitens ist der Absatz nicht als Antrag auf Abschluss einer Vereinbarung formuliert. Er steht im Zusammenhang mit dem ersten Absatz, der erläutert, dass – ohne Rechtswahl – italienisches Recht anwendbar sei. Wenn die Beklagte sogleich im Anschluss vorschlägt, „italienisches Recht anzuwenden“, wofür es nach der Erläuterung im Absatz zuvor keiner Vereinbarung bedürfte, so kann der Erklärungsempfänger nicht davon ausgehen, zum Abschluss einer Rechtswahlvereinbarung aufgefordert zu werden, sondern muss den Vorschlag in dem Sinne verstehen, dass die Beklagte vorschlägt, es bei der gesetzlichen Regelung zu belassen, also gerade keine – abweichende – Rechtswahlvereinbarung zu schließen.
29
Drittens ließe – selbst wenn man dies anders sähe – der Absatz nach seiner Formulierung als bloßer Vorschlag dem Versicherungsnehmer jedenfalls die Wahl, ob auch er auf den Vertrag italienisches Recht anwenden will. Dem bloßen Abschluss des Versicherungsvertrags, der in seinen Bestimmungen keine Rechtswahlvereinbarung enthält, kann kein entsprechender Wille des Versicherungsnehmers entnommen werden. Dieser muss nicht damit rechnen, mit dem Abschluss des Versicherungsvertrags ohne besondere Bestimmungen hierzu etwaigen „Vorschlägen“ des Versicherers zuzustimmen, die im Produktinformationsblatt als solche bezeichnet sind.
30
(dd) Ebenso wenig ergibt sich eine Rechtswahl aus den Umständen des Falles. Vielmehr sprechen auch diese dagegen, den von der Beklagten angeführten Text als Rechtswahlvereinbarung anzusehen.
31
Der in Kiefersfelden (Deutschland) ansässigen Schuldnerin wurde ein Informationsblatt des ebenfalls in Deutschland ansässigen beklagten Versicherers vorgelegt, das in deutscher und italienischer Sprache abgefasst war und sich schon im Einleitungssatz auf eine ausländische – offenbar italienische – Rechtsvorschrift bezog. Dieser Umstand war naheliegend darauf zurückzuführen, dass der Versicherungsvertrag über einen in Italien ansässigen Versicherungsmakler zustande kam. Dies liefert keinen Anhaltspunkt dafür, dass die deutsche Schuldnerin und die deutsche Beklagte den abzuschließenden Versicherungsvertrag für das gesamte Transportgeschäft der Schuldnerin italienischem Recht unterstellen wollten. Auch sonst sind hierfür keine Anhaltspunkte ersichtlich.
32
(b) Es bedarf keiner Beweisaufnahme.
33
(aa) Eine Vernehmung der von der Beklagten angebotenen Maklermitarbeiterin R… als Zeugin zur Vereinbarung italienischen Rechts ist nicht geboten.
34
Die Beweisbehauptung der Beklagten geht dahin, die Vertragsparteien hätten die Geltung italienischen Rechts vereinbart, was in dem vorgelegten Versicherungsvertrag schriftlich fixiert worden sei (vgl. Urteil, S. 5 unter I 4; Schriftsatz der Beklagten vom 28. August 2023, S. 2 unter 3 = Bl. 123 d. A. LG). Der Inhalt des schriftlichen Vertrags ist unstreitig. Aus ihm ergibt sich keine Rechtswahlvereinbarung (s.o. unter (a)). Eine von dem vorgelegten schriftlichen Vertrag abweichende (Rechtswahl-)Vereinbarung behauptet die Beklagte gerade nicht.
35
(bb) Ebenso wenig ist eine Vernehmung der Zeuginnen geboten, welche die Beklagte in der Berufungsbegründung (S. 5 unter 3 d) als Frau R… und Frau H… benennt.
36
Insoweit bringt die Beklagte vor, ein Versicherungsvertrag für CMR-Transporte wäre zwischen der Schuldnerin und der Beklagten nur unter Geltung des italienischen Rechts zustande gekommen. Es sei falsch, wenn das Landgericht unterstelle, ein entsprechender Versicherungsvertrag wäre auch dann zustande gekommen, wenn nicht die Geltung italienischen Rechts für CMR-Transporte vereinbart worden wäre.
37
Dieses Vorbringen kann nur so verstanden werden wie dasjenige im Schriftsatz der Beklagten vom 28. August 2023 (s.o. unter (aa)). Denn unstreitig ist zwischen der Schuldnerin und der Beklagten ein Versicherungsvertrag mit dem Inhalt des von der Beklagten vorgelegten schriftlichen Vertrags zustande gekommen. Es kann nicht angenommen werden, dass die Beklagte nunmehr – im Widerspruch hierzu – vortragen will, es sei kein Versicherungsvertrag – für den sie Prämien vereinnahmt hat – geschlossen worden. Solches Vorbringen wäre gemäß § 531 Abs. 2 ZPO auch nicht zuzulassen. Dass die Beklagte den unstreitigen Vertragsinhalt anders würdigt, was die Frage einer Rechtswahlvereinbarung angeht, ist als Frage der rechtlichen Würdigung dem Zeugenbeweis nicht zugänglich.
38
(3) Mangels Rechtswahl unterliegt gemäß Art. 28 Abs. 1 Satz 1 EGBGB aF (s.o. unter (1)) der Versicherungsvertrag dem Recht des Staates, mit dem er die engsten Verbindungen aufweist. Dies ist hier Deutschland.
39
Gemäß Art. 28 Abs. 2 Satz 1, Satz 2 EGBGB aF wird vermutet, dass der Vertrag die engsten Verbindungen mit dem Staat aufweist, in dem die Partei, welche die charakteristische Leistung zu erbringen hat, im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses – wenn es sich um eine juristische Person handelt, die den Vertrag in Ausübung ihrer gewerblichen Tätigkeit geschlossen hat – ihre Hauptniederlassung hat, von der nach dem Vertrag die Leistung zu erbringen ist. Die charakteristische Leistung des Versicherungsvertrags hat als Versicherer die Beklagte zu erbringen. Deren Hauptniederlassung, welche die Leistung zu erbringen hat, lag in Deutschland.
40
Gemäß Art. 28 Abs. 5 EGBGB aF gilt die Vermutung des Absatzes 2 nicht, wenn sich aus der Gesamtheit der Umstände ergibt, dass der Vertrag engere Verbindungen mit einem anderen Staat aufweist. Dies ist nicht der Fall. Es handelt sich um einen Haftpflichtversicherungsvertrag zwischen einem deutschen Versicherer und einer deutschen Versicherungsnehmerin. Der Vertrag bezieht sich nicht auf ein spezielles, in Italien belegenes Risiko, sondern gemäß seiner Nr. 1 grundsätzlich auf die gesamte betriebliche Haftung des Versicherungsnehmers (vgl. auch die Versicherungsbestätigung vom 16. Dezember 2010, Anlage B 3: „der gesamte Fuhrpark Ihrer Firma“). Lediglich die Einschaltung eines italienischen Versicherungsmaklers (s.o. unter (2) (a) (aa), (dd)) ist demgegenüber kein Umstand, der engere Verbindungen mit Italien begründen könnte. Die Anwendbarkeit deutschen Rechts wird bestätigt durch die Kontrollüberlegung, dass auch bei Anwendung der Rom I-Verordnung (s.o. unter (1)) der Vertrag deutschem Recht unterläge, weil Deutschland der Staat ist, in dem das Risiko belegen ist, nämlich die Niederlassung der Schuldnerin in Kiefersfelden, auf die sich der Vertrag bezieht (vgl. Art. 7 Abs. 3 Unterabs. 3, Abs. 6 Rom I-VO, Art. 310 Satz 2, Art. 13 Nr. 13 lit. d ii der RL 2009/138/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 betreffend die Aufnahme und Ausübung der Versicherungs- und der Rückversicherungstätigkeit – Solvabilität II).
41
cc) Nach dem anwendbaren deutschen Recht (s.o. unter bb) liegt ein Haftpflichtversicherungsvertrag gemäß §§ 100 ff VVG vor. Gegenstand der Versicherung ist gemäß Nr. 1 des Vertrags die Haftung des Versicherungsnehmers in den dort genannten Bereichen.
42
dd) Der vereinbarte Umfang des Versicherungsschutzes umfasst den im Haftpflichtprozess festgestellten Schadensersatzanspruch gegen die Schuldnerin.
43
Versichert ist gemäß Nr. 1 des Vertrags mit der Beklagten die Haftung des Versicherungsnehmers als Spediteur, Frachtführer oder Lagerhalter aus entgeltlichen Verkehrsverträgen, wenn und soweit die damit zusammenhängenden Tätigkeiten in der Betriebsbeschreibung dokumentiert sind. Eingeschlossen ist die CMR-Haftung (vgl. Nrn. 2.1.6, 4.1.3) und die deliktische Haftung (vgl. Nrn. 2.1.19, 4.1.2), auch für reine Vermögensschäden (vgl. Nr. 4.1).
44
Der im Haftpflichtprozess festgestellte Schadensersatzanspruch ist ein solcher aus einer Frachtführerhaftung der Schuldnerin gemäß Art. 13, 17 CMR (vgl. Urteil Anlage K 1, S. 5 oben, S. 6 f; vgl. auch die Revisionsentscheidung: BGH, Urteil vom 13. Oktober 2022 – I ZR 151/21, BGHZ 234, 334 Rn. 33 ff). Hierfür war die Schuldnerin bei der Beklagten haftpflichtversichert.
45
ee) Der Anspruch des Dritten ist mit bindender Wirkung für den Versicherer durch rechtskräftiges Urteil festgestellt worden.
46
(1) Das in der Haftpflichtversicherung geltende prozessuale Trennungsprinzip findet seine notwendige Ergänzung in der Bindungswirkung des rechtskräftigen Haftpflichturteils für den nachfolgenden Deckungsrechtsstreit, soweit Voraussetzungsidentität besteht. Sie folgt aus dem Leistungsversprechen, das der Haftpflichtversicherer dem Versicherungsnehmer gegeben hat, und bedeutet, dass das Ergebnis des vorangegangenen Haftpflichtprozesses für die Deckungsfrage verbindlich ist. Damit wird verhindert, dass die im Haftpflichtprozess getroffene Entscheidung und die zugrunde liegenden Feststellungen im Deckungsprozess erneut überprüft werden können (OLG Rostock, Beschluss vom 31. Mai 2019 – 4 U 17/16, juris Rn. 20 mwN, insoweit nicht abgedruckt in r+s 2020, 22; vgl. OLG Karlsruhe, VersR 2020, 472, 474; OLG Saarbrücken, VersR 2021, 168, 169; BeckOK-VVG/Ruks, 2025, § 106 Rn. 5 f).
47
(2) Der Haftpflichtprozess wurde durch das Urteil des Landgerichts Berlin vom 17. Oktober 2014 (100 O 84/13, Anlage K 1), das die Berufung zurückweisende Urteil des Kammergerichts vom 16. September 2021 (2 U 153/14, RdTW 2022, 365) und das – soweit hier von Interesse – die Revision zurückweisende Urteil des Bundesgerichtshofs vom 13. Oktober 2022 (I ZR 151/21, BGHZ 234, 334) rechtskräftig entschieden.
48
Entschieden wurde, dass die (auch dortige) Klägerin von dem Insolvenzverwalter über das Vermögen der Schuldnerin im Wege der abgesonderten Befriedigung die Zahlung von 76.356,97 € nebst Zinsen verlangen kann. Hierzu wurde insbesondere festgestellt, dass die Schuldnerin als Unterfrachtführerin für den Verlust der Sendung am 2. September 2011 verantwortlich ist, der Hauptauftraggeberin aus Art. 13, 17, 29 CMR Schadensersatz in der zuerkannten Höhe schuldete und der Ersatzanspruch der Hauptauftraggeberin auf die Klägerin als deren Transportversicherer gemäß § 86 VVG übergegangen ist.
49
Diese Feststellungen und die darauf gestützte Entscheidung des Haftpflichtprozesses sind auch für die Beklagte als Haftpflichtversicherer der Schuldnerin bindend. Die Beklagte kann im Versicherungsverhältnis zur Schuldnerin nicht einwenden, der Ersatzanspruch der Klägerin gegen die Schuldnerin bestehe nicht oder nicht so wie im Haftpflichtprozess festgestellt. Es kommt deshalb nicht auf das Vorbringen an, mit dem die Beklagte geltend machen will, der Haftpflichtprozess sei im Ergebnis unrichtig entschieden worden (vgl. Berufungsbegründung, S. 6-8 unter 6). ff) Die Beklagte ist im Verhältnis zur Schuldnerin weder ganz noch teilweise leistungsfrei.
50
(1) Es besteht keine Leistungsfreiheit wegen Gefahrerhöhung gemäß §§ 23, 26 VVG. Es liegt schon keine Gefahrerhöhung im Sinne des § 23 VVG vor.
51
Im Versicherungsvertrag ist in Nr. 4.1 eine Begrenzung der Ersatzleistung je Schadenfall für Güter- und Güterfolgeschäden auf 1.500.000 € vereinbart, für reine Vermögensschäden auf 500.000 €, in Nr. 4.1.2 für deliktische Ansprüche unabhängig von der Art des Schadens auf 250.000 € und in Nr. 4.3 falls nicht anders vereinbart auf 2.000.000 € je Schadenereignis. Die hier betroffene Ersatzleistung liegt weit unter diesen Grenzen. Für eine anzeigepflichtige Gefahrerhöhung unter diesem Gesichtspunkt ist nichts ersichtlich.
52
Die Parteien des Versicherungsvertrags haben in dessen Nr. 7 vereinbart, dass bei einer „Gefahrerhöhung, wie z. B. Änderung und/oder Erweiterung der Tätigkeitsbereiche oder Ausweitung des Geltungsbereiches“ oder „erhebliche Zunahme der Lagertätigkeit“ Versicherungsschutz gewährt wird, allerdings eine Anzeigepflicht besteht. Eine Gefahrerhöhung, die in ihrem Gewicht mit den vereinbarten Beispielen vergleichbar wäre, ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.
53
(2) Unbehelflich ist in diesem Zusammenhang die unter Zeugenbeweis gestellte Behauptung in der Berufungsbegründung (S. 8 unter 7 a), „[e]ntsprechende werthaltige, diebstahlsgefährdete Sachen“ seien „nicht versichert“ gewesen. Dies ist eine dem Zeugenbeweis unzugängliche Rechtsfrage. Nach dem unstreitigen Inhalt des schriftlichen Versicherungsvertrags besteht kein entsprechender Ausschluss. Gleiches gilt für einen angeblichen Leistungsausschluss wegen qualifizierten Verschuldens (vgl. Berufungsbegründung, S. 8 unter 7 c).
54
(3) Weiter beruft sich die Beklagte darauf, die Schuldnerin habe den Versicherungsschaden nicht unverzüglich, zumindest nicht rechtzeitig gemeldet (vgl. Berufungsbegründung, S. 8 unter 7 b). Insoweit fehlt es für eine Leistungsfreiheit der Beklagten schon an den Voraussetzungen gemäß § 28 Abs. 2, Abs. 4 VVG. Zudem wäre die Beklagte auch gemäß § 28 Abs. 3 Satz 1 VVG zur Leistung verpflichtet, weil eine etwaige Verletzung der Obliegenheit weder für die Feststellung des Versicherungsfalles noch für die Feststellung oder den Umfang der Leistungspflicht der Beklagten ursächlich wäre; die hierfür maßgeblichen tatsächlichen Fragen konnten unter Beteiligung der hiesigen Beklagten im Haftpflichtprozess geklärt werden.
55
(4) Eine Selbstbeteiligung ist gemäß Nr. 5 des Versicherungsvertrags nicht vorgesehen (Nr. 5.1.1: „Keine“).
56
gg) Der Anspruch der Schuldnerin auf die Versicherungsleistung ist (entgegen der Berufungsbegründung, S. 3 Abs. 2, S. 6 unter 4 und 5) nicht verjährt. Zur Vermeidung von Wiederholungen verweist der Senat zunächst auf die auch insoweit zutreffende Begründung im angefochtenen Urteil (S. 7 f unter I 6).
57
Anders als die Beklagte meint, beträgt die Verjährungsfrist nicht lediglich ein Jahr ab dem Tag, an dem sich der Vorfall ereignet hat, aus dem sich der Anspruch ergibt. Der entsprechende Hinweis im Informationsblatt (in Anlage B 2) unter der Überschrift „3. Verjährungsfrist“ bezieht sich auf die gesetzliche Verjährungsfrist nach Art. 2.952 des (italienischen) Zivilgesetzbuchs. Wie bereits ausgeführt (s.o. unter bb) unterliegt der vorliegende Vertrag aber deutschem Recht. Der Hinweis im Informationsblatt stellt auch keine von der deutschen gesetzlichen Regelung abweichende vertragliche Vereinbarung dar, weil mit ihm keine Verjährungsfrist vereinbart, sondern eine – wenn auch hier unzutreffende – Information über die Gesetzeslage gegeben werden sollte.
58
Die Erhebung der Feststellungsklage gemäß Klageschrift vom 19. Dezember 2014 hat die Verjährung gehemmt. Wie schon dargestellt (s.o. unter 2 b aa) hat die Klägerin sowohl mit der Feststellungsklage als auch mit dem nunmehr gestellten Zahlungsantrag den Deckungsanspruch der Schuldnerin verfolgt.
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b) Die Klägerin ist gemäß § 1282 Abs. 1 BGB als Gläubigerin eines gesetzlichen Pfandrechts an dem Anspruch auf die Versicherungsleistung zur Einziehung des Freistellungsanspruchs der Schuldnerin gegen die Beklagte berechtigt. Die Klägerin kann Zahlung an sich verlangen.
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aa) Gemäß § 110 VVG kann der geschädigte Dritte wegen des ihm gegen den Versicherungsnehmer zustehenden Anspruchs abgesonderte Befriedigung aus dem Freistellungsanspruch des Versicherungsnehmers verlangen, wenn über dessen Vermögen das Insolvenzverfahren eröffnet ist. Dies stellt sicher, dass die Versicherungsleistung dem geschädigten Dritten und nicht den Gläubigern des Versicherungsnehmers zugutekommt; letzteres widerspräche der Sozialbindung der Haftpflichtversicherung zu Gunsten des Dritten. Materiellrechtlich erlangt der Dritte wegen § 110 VVG in der Insolvenz des Schädigers ein gesetzliches Pfandrecht am Freistellungsanspruch (BGH, Beschluss vom 25. September 2014 – IX ZB 117/12, VersR 2015, 497 Rn. 7 mwN).
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Gemäß dem hiernach anwendbaren § 50 Abs. 1 InsO sind Gläubiger, die an einem Gegenstand der Insolvenzmasse ein Pfandrecht haben, nach Maßgabe der §§ 166 bis 173 InsO für Hauptforderung, Zinsen und Kosten zur abgesonderten Befriedigung an dem Pfandgegenstand berechtigt. Ein Verwertungsrecht des Insolvenzverwalters nach § 166 Abs. 2 InsO besteht – entgegen der Berufungsbegründung (S. 3 Abs. 4) – nicht. Der deshalb gemäß § 173 Abs. 1 InsO selbst zur Verwertung berechtigte Gläubiger kann sein Absonderungsrecht entsprechend den auf sein Sicherungsrecht anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen außerhalb des Insolvenzverfahrens durchsetzen. Als Inhaber eines Pfandrechts kann der Gläubiger die Forderung des Versicherungsnehmers gegen seinen Haftpflichtversicherer einziehen (§ 1282 Abs. 1, § 1228 Abs. 2 BGB), nach Feststellung des Haftungsanspruchs somit vom Versicherer Zahlung verlangen. Einer vorherigen Pfändung bedarf es in diesem Fall nicht (vgl. BGH, Beschluss vom 25. September 2014, aaO Rn. 10 mwN; vgl. auch BGH, Urteil vom 10. März 2021 – IV ZR 309/19, NJW 2021, 1823 Rn. 10 mwN). bb) Die Voraussetzungen des § 110 VVG liegen vor.
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§ 110 VVG ist international anwendbar (s.o. unter a bb). Die Schuldnerin ist Versicherungsnehmerin eines Haftpflichtversicherungsvertrags mit der Beklagten (s.o. unter a cc). Über das Vermögen der Schuldnerin ist das Insolvenzverfahren eröffnet worden. Die Klägerin ist Dritte im Sinne der §§ 100 ff VVG, der ein Anspruch gegen die Schuldnerin zusteht, nämlich der gemäß § 86 VVG auf die Klägerin übergegangene Schadensersatzanspruch der Hauptauftraggeberin (s.o. unter a ee). Der Schuldnerin steht wegen dieses Anspruchs ein Freistellungsanspruch gegen die Beklagte aus der Haftpflichtversicherung zu (s.o. unter a). cc) Die Voraussetzungen des § 1282 Abs. 1 BGB liegen vor.
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(1) Die Klägerin ist Pfandgläubigerin an dem Freistellungsanspruch der Schuldnerin gegen die Beklagte: Ein gesetzliches Pfandrecht (s.o. unter aa) steht der Klägerin aufgrund § 110 VVG zu (s.o. unter bb).
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(2) Gemäß § 1282 Abs. 1 Satz 1 BGB gelten auch für die Verwertung eines Pfandrechts an einem Recht die Voraussetzungen des § 1228 Abs. 2 BGB für den Pfandverkauf. Diese sind eingetreten.
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Nach § 1228 Abs. 2 Satz 1 BGB darf die Pfandverwertung (Befriedigung) erfolgen, sobald die (gesicherte) Forderung ganz oder zum Teil fällig ist. Besteht der (dem Pfandgläubiger) geschuldete Gegenstand nicht in Geld, so ist nach Satz 2 der Vorschrift die Pfandverwertung erst zulässig, wenn die (gesicherte) Forderung in eine Geldforderung übergegangen ist.
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Die gesicherte Forderung ist der im Haftpflichtprozess festgestellte Schadensersatzanspruch der Klägerin gegen die Schuldnerin. Dieser ist auf Geldzahlung gerichtet und fällig. Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Schuldnerin hat lediglich ein Vollstreckungshindernis gemäß § 89 Abs. 1 InsO begründet. Zudem ist die Klägerin nicht von § 89 Abs. 1 InsO betroffen, soweit sie das Absonderungsrecht gemäß § 110 VVG verwerten will (vgl. BGH, Beschluss vom 25. September 2014 – IX ZB 117/12, VersR 2015, 497 Rn. 5 mwN).
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(3) Gemäß § 1282 Abs. 1 Satz 2 BGB steht die Einziehung einer Geldforderung dem Pfandgläubiger nur insoweit zu, als sie zu seiner Befriedigung erforderlich ist. Auch diese Voraussetzung liegt vor.
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Die Klägerin zieht (nunmehr) eine Geldforderung gegen die Beklagte ein. Der Freistellunganspruch des Versicherungsnehmers wandelt sich in der Hand des Dritten in einen Zahlungsanspruch um, wenn dieser nach § 110 VVG vorgeht (Prölss/Martin/Lücke, VVG, 32. Aufl., § 100 Rn. 7 mwN; vgl. BGH, Urteil vom 10. März 2021 – IV ZR 309/19, NJW 2021, 1823 Rn. 10). So liegt der Fall hier.
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Die Einziehung der Geldforderung in der zuerkannten Höhe ist zur Befriedigung der Klägerin erforderlich. Dies steht fest aufgrund der Bindungswirkung des Haftpflichturteils (s.o. unter a ee).
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4. Es wird erwogen, den Berufungsstreitwert auf 76.356,97 € festzusetzen.
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5. Da die Berufung keine Aussicht auf Erfolg hat, legt das Gericht aus Kostengründen die Rücknahme der Berufung nahe. Im Falle der Berufungsrücknahme ermäßigen sich vorliegend die Gerichtsgebühren von 4,0 auf 2,0 Gebühren (vgl. Nr. 1222 des Kostenverzeichnisses zum GKG).
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6. Die Klägerin hat mit Schriftsatz vom 11. August 2025 das Verfahren in der Hauptsache teilweise für erledigt erklärt (wegen einer Drittzahlung in Höhe von 35.245,43 € nebst Zinsen).
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a) Hierzu hat die Beklagte gemäß § 91a Abs. 1 ZPO Gelegenheit zur Stellungnahme innerhalb einer Notfrist von zwei Wochen ab Zustellung des (für sie beigefügten) Schriftsatzes.
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Es wird darauf hingewiesen, dass das Gericht über die Kosten des für erledigt erklärten Teils unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes nach billigem Ermessen entscheiden wird, wenn sich der Erledigungserklärung angeschlossen oder der Erledigungserklärung nicht innerhalb einer Notfrist von zwei Wochen seit der Zustellung des Schriftsatzes widersprochen wird (§ 91a Abs. 1 ZPO).
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b) Soweit die Beklagte der teilweisen Erledigungserklärung nicht widerspricht (s.o. unter a), wird das angefochtene Urteil im Umfang der übereinstimmenden Erledigungserklärung wirkungslos (vgl. BGH, Beschluss vom 23. Oktober 2003 – I ZB 45/02, BGHZ 156, 335 Rn. 30, 34; BeckOK-ZPO/Jaspersen, 2025, § 91a Rn. 27). In einem etwaigen Beschluss gemäß § 516 Abs. 3 ZPO nach Zurücknahme der Berufung oder Zurückweisungsbeschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO würde der Senat dies klarstellend aussprechen.
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Falls die Beklagte der teilweisen Erledigungserklärung widerspricht, könnte über den Antrag auf Feststellung der teilweisen Erledigung in einem etwaigen Zurückweisungsbeschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO entschieden werden (vgl. OLG Rostock, MDR 2006, 947; Prütting/Gehrlein/Barnick, ZPO, 16. Aufl., § 91a Rn. 66).