Titel:
Erfolglose Nachbarklage gegen Aufstockung einer Doppelhaushälfte
Normenketten:
BauGB § 34
BayBO Art. 6 Abs. 4, Abs. 5
VwGO § 108 Abs. 2
GG Art. 103 Abs. 1
Leitsätze:
1. Für die Frage des Einfügens nach § 34 BauGB kommt es auf Grundstücksgrenzen nicht vorrangig an. (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)
2. Der Anspruch auf rechtliches Gehör gewährt keinen Schutz gegen Entscheidungen, die den Sachvortrag eines Beteiligten aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts ganz oder teilweise außer Betracht lassen. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Nachbarklage, Grundstücksteilung, keine Verletzung nachbarschützender Vorschriften, Abstandsfläche, Abmarkung, Gebot der Rücksichtnahme, Einfügen, rechtliches Gehör
Vorinstanz:
VG München, Urteil vom 21.03.2024 – M 11 K 22.2967
Fundstelle:
BeckRS 2025, 175
Tenor
I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 7.500 Euro festgesetzt.
Gründe
1
Der Kläger wendet sich gegen die Aufstockung einer Doppelhaushälfte auf dem südlichen Nachbargrundstück (Vorhabengrundstück). Die Grundstücke liegen in einer Hanglage, das Gelände fällt von Norden nach Süden deutlich ab.
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Mit Bescheid vom 3. Mai 2022 genehmigte das Landratsamt die beantragte Aufstockung der Haushälfte der Beigeladenen um ca. 2 m. Das bei Stellung des Bauantrags noch ungeteilte Vorhabengrundstück wurde vor Erteilung der Baugenehmigung in einen westlichen und östlichen Grundstücksteil aufgeteilt und die Grundstücksgrenze zum klägerischen Grundstück abgemarkt.
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Die Klage gegen die Baugenehmigung wies das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 21. März 2024 ab. Das genehmigte Vorhaben verletze keine dem Schutz des Klägers dienenden Vorschriften des Abstandsflächenrechts. Die Abstandsflächen zum klägerischen Grundstück würden ersichtlich eingehalten; dies gelte selbst dann, wenn man über die gesamte Länge der gemeinsamen Grundstücksgrenze zugunsten des Klägers einen um 1 m nach Süden versetzten Grenzverlauf zugrunde legen würde und unabhängig davon, ob man die gesetzlichen Vorgaben des Art. 6 Abs. 4 und 5 BayBO oder die Regelungen der Abstandsflächensatzung der Gemeinde heranziehe. Auch ein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme liege nicht vor, zumal das klägerische Anwesen zum Vorhabengrundstück bereits dreigeschossig in Erscheinung trete und aufgrund der ausgeprägten Hanglage deutlich höher liege. Nachbarrelevante Bestimmtheitsmängel der Baugenehmigung ließen sich nicht daraus ableiten, dass die genehmigte Eingabeplanung das noch ungeteilte Vorhabengrundstück darstelle.
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Mit dem Zulassungsvorbringen macht der Kläger geltend, dass ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils beständen und ein Verfahrensmangel vorliege. Die durchgeführte Prüfung der Abstandsflächen überzeuge nicht, da das Verwaltungsgericht die Teilung des Grundstücks vollkommen unberücksichtigt lasse. Bei der Prüfung des Gebots der Rücksichtnahme habe das Verwaltungsgericht einen zu strengen Maßstab angelegt. In der mündlichen Verhandlung sei verfahrensfehlerhaft die beantragte Schriftsatzfrist abgelehnt worden.
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Der Beklagte und die Beigeladenen treten dem Zulassungsvorbringen entgegen.
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Ergänzend wird auf die Gerichtsakten und die vorgelegte Behördenakte verwiesen.
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Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Die geltend gemachten Zulassungsgründe der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) und des Vorliegens eines Verfahrensmangels (§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO) bestehen nicht bzw. werden nicht dargelegt (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO).
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1. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils, die die Zulassung der Berufung rechtfertigen, sind zu bejahen, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Verwaltungsgerichts mit schlüssigen Argumenten in Frage gestellt wird (vgl. BVerfG, B.v. 8.5.2019 – 2 BvR 657/19 – juris Rn. 33; B.v. 20.12.2010 – 1 BvR 2011/10 – NVwZ 2011, 546) und die Zweifel an der Richtigkeit einzelner Begründungselemente auf das Ergebnis durchschlagen (vgl. BVerwG, B.v. 10.3.2004 – 7 AV 4.03 – DVBl 2004, 838). Das ist nicht der Fall.
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1.1. Mit dem Zulassungsvorbringen wird die Feststellung des Verwaltungsgerichts, dass das Vorhaben die Abstandsflächen zum klägerischen Grundstück einhält, nicht in Zweifel gezogen.
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Ein Grundstücksnachbar kann grundsätzlich nur die Einhaltung der Abstandsflächen zu seinem Grundstück verlangen. Durch die geradlinige Grenzziehung zwischen den Haushälften, die das zunächst einheitliche Grundstück in ein eigenständiges westliches und östliches Grundstück aufgeteilt hat, werden die Abstandsflächen zum nördlich liegenden Grundstück des Klägers nicht verändert. Es ist vielmehr im rechtlichen Sinn ein Doppelhaus entstanden, das dadurch charakterisiert ist, dass zwei Haushälften, die in wechselseitig verträglicher und abgestimmter Weise aneinandergebaut sind, an der gemeinsamen Grundstücksgrenze keine Abstandsflächen einhalten müssen (vgl. BVerwG, B.v. 23.4.2013 – 4 B 17.13 – BauR 2013, 1427; U.v. 24.2.2000 – 4 C 12.98 – BVerwGE 110, 355).
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Das Verwaltungsgericht hat die Berechnung der Tiefe der Abstandfläche zum klägerischen Grundstück sowohl nach der gesetzlichen Regelung des Art. 6 Abs. 4 und 5 BayBO als auch nach der Abstandsflächensatzung der Gemeinde vorgenommen, die auf der Grundlage von Art. 6 Abs. 5 Satz 2 BayBO erlassen wurde. Sie konnte damit offenlassen, ob die Gemeinde rechtmäßig von der Satzungsermächtigung Gebrauch gemacht hat. Danach ergibt sich eine maximale Abstandsflächentiefe von 3,52 m zum klägerischen Grundstück nach der gesetzlichen Regelung der Bayerischen Bauordnung bzw. von 7,295 m nach der gemeindlichen Abstandsflächensatzung. Gegen diese Abstandsflächenberechnung werden mit dem Zulassungsvorbringen keine ernstlichen Zweifel aufgezeigt. Es genügt nicht, pauschal zu behaupten, dass die Berechnung zu den erforderlichen Abstandsflächen, die auf dem Vorhabengrundstück liegen müssen, nicht nachvollziehbar ist. Die Wandhöhe, die für die Berechnung der Abstandsflächen maßgeblich ist, ergibt sich aus der Eingabeplanung, die Spannmaße für die Grenzabstände, die der Architekt nachgeliefert hat, wurden mit Rotrevision in der Eingabeplanung ergänzt. Zu letzteren hat das Verwaltungsgericht zugunsten des Klägers den Vortrag im Klageverfahren dahingehend berücksichtigt, dass es einen über die gesamte Länge der gemeinsamen Grundstücksgrenze um 1 m nach Süden versetzten Grenzverlauf zugrunde gelegt hat, und ist von einem minimalen Grenzabstand von 7,90 m im Bereich des Firstes zum klägerischen Grundstück ausgegangen, so dass die Abstandsflächen selbst bei dieser Sachlage eingehalten wären. Im Übrigen hat zum klägerischen Grundstück keine Neuvermessung der Grundstücksgrenze stattgefunden, sondern eine Abmarkung (vgl. den vorgelegten Abmarkungsbescheid vom 26.4.2022). Zweck der Abmarkung ist, die Grenzen der Grundstücke durch Marken (Grenzzeichen) örtlich erkennbar zu bezeichnen (vgl. Art. 1 Abs. 1 AbmG), der Verlauf der Grundstücksgrenze wird vor Ort, z.B. durch Grenzsteine, festgestellt: Die Grundstücksgrenzen im Liegenschaftskataster werden dadurch nicht abgeändert, sondern der Abmarkung zugrunde gelegt (vgl. Art. 2 Abs. 1 AbmG). Es bestehen daher bereits keine Anhaltspunkte, dass der genehmigte Eingabeplan mit dem Lageplan, der auf der Grundlage des Auszuges aus dem Katasterwerk zu erstellen ist (vgl. § 7 Abs. 2 BauVorlV) insoweit nicht mehr aktuell ist, als der Grenzabstand zum Grundstück des Klägers dargestellt ist. Abweichendes ist auch nicht aus der in BayernAtlas abrufbaren Flurkarte mit Daten aus dem Amtlichen Liegenschaftskatasterinformationssystem (ALKIS-Flurkarte) ersichtlich, bei der die Grundstücksteilung bereits berücksichtigt ist. Zu einer maßgeblichen Veränderung der nördlichen Grundstücksgrenze verhält sich das Zulassungsvorbringen auch nicht, sondern betont immer wieder nur die Grundstücksteilung, die auf den Gebäudeabstand zum klägerischen Grundstück keinen Einfluss hat.
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1.2. Soweit der Kläger geltend macht, dass das Verwaltungsgericht bei der Prüfung des in § 34 BauGB verankerten Gebots der Rücksichtnahme einen zu strengen Maßstab angelegt habe, da es die konkrete Prüfung der Abstandsflächen unter Zugrundelegung des tatsächlichen Grenzverlaufs aufgrund der Teilung des Grundstücks unterlassen habe, kann der Senat diesen Vortrag aufgrund der dezidierten Ausführungen im verwaltungsgerichtlichen Urteil, dass die Abstandsflächen zum klägerischen Grundstück bei jeder möglichen Sach- und Rechtlage eingehalten sind, nicht nachvollziehen. Unabhängig davon, dass das Maß der baulichen Nutzung nicht nachbarschützend ist, ändert sich die Beurteilung auch nicht durch die vorgenommene Teilung des Grundstücks, denn für die Frage des Einfügens nach § 34 BauGB kommt es auf Grundstücksgrenzen nicht vorrangig an (vgl. BVerwG, B.v. 3.4.2014 – 4 B 12.14 – BauR 2014, 1126; B.v. 28.9.1988 – 4 B 175.88 – NVwZ 1989, 354).
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2. Die auf die Versagung einer Schriftsatzfrist gestützte Rüge einer Gehörsverletzung (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) greift ebenfalls nicht durch.
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Der verfassungsrechtliche Anspruch auf rechtliches Gehör beinhaltet unter anderem, dass die Parteien im Prozess hinreichend Gelegenheit haben müssen, in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht alles vorzutragen, was aus ihrer Sicht zur Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendig ist. § 108 Abs. 2 VwGO konkretisiert diese verfassungsgerichtliche Gewährleistung für das verwaltungsgerichtliche Verfahren dahin, dass ein Urteil nur auf Tatsachen und Beweismittel gestützt werden darf, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten. Der Anspruch auf rechtliches Gehör gewährt dagegen keinen Schutz gegen Entscheidungen, die den Sachvortrag eines Beteiligten aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts ganz oder teilweise außer Betracht lassen (vgl. BVerwG, B.v. 29.7.2010 – 8 B 10.10 – juris Rn. 10). Die Einräumung einer Schriftsatzfrist kann auf Antrag eines Beteiligten geboten sein, wenn das Gericht in der mündlichen Verhandlung erstmals auf neue, aus seiner Sicht entscheidungserhebliche Gesichtspunkte tatsächlicher oder rechtlicher Art hinweist, mit denen der Beteiligte nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens schlechterdings nicht zu rechnen brauchte (vgl. BVerwG, B.v. 29.10.2018 – 1 B 35.18 – juris Rn. 6).
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Das Gericht hat die beantragte Schriftsatzfrist abgelehnt, da der Kläger genügend Zeit gehabt habe, sich zu den angesprochenen Problematiken zu äußern. Das ist nicht zu beanstanden. Soweit der Kläger mit dem Zulassungsvorbringen geltend macht, dass das Gericht eine falsche Beurteilungsgrundlage (ungeteiltes Grundstück) herangezogen bzw. damit unzutreffend auf eine Sach- und Rechtslage vor Erlass der Baugenehmigung abgestellt habe sowie die Abstandsflächenberechnung des Gerichts nicht nachvollziehbar sei, wendet er sich gegen die Rechtsauffassung des Gerichts; damit kann eine Gehörsrüge nicht begründet werden (zu der materiellen Prüfung vgl. oben). Zu der Rechtserheblichkeit der erfolgten Teilung des Vorhabengrundstücks und der stattgefundenen Abmarkung hatte der Kläger mehrfach schriftsätzlich vorgetragen (vgl. Schriftsätze vom 5.9.2022, 6.2.2023 und 12.3.2024); dass das Gericht diese Tatsachen nicht entscheidungserheblich für eine Rechtsverletzung ansieht, verletzt nicht den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör.
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3. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nr. 9.7.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit und entspricht dem vom Verwaltungsgericht festgesetzten Betrag.
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Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).