Inhalt

BayObLG, Beschluss v. 06.05.2025 – 203 StRR 175/25
Titel:

Zulassigkeit von Verfahrensrügen - Protokollinhalt und keine Rekonstruktion der Hauptverhandlung

Normenketten:
StPO § 243 Abs. 2 S. 2, Abs.5 S. 2, § 244 Abs. 2, § 261, § 265 Abs. 2 Nr. 3, § 273 Abs. 1 S. 1, Abs. 3
GG Art. 103 Abs. 1
Leitsätze:
1. Behauptet die Revision, das Gericht habe seine Überzeugung zu den persönlichen Verhältnissen des Angeklagten auch auf Tatsachen gegründet, die nicht auf den Angaben des Angeklagten beruhen, erweisen sich die Rügen der Verletzung von § 261 StPO und der Verletzung des rechtlichen Gehörs als unzulässig, wenn die Revision verschweigt, dass auch Zeugen zu den persönlichen Verhältnissen des Angeklagten vernommen worden sind. Der Beschwerdeführer darf in seinem Revisionsvorbringen ihm nachteilige Verfahrenstatsachen nicht übergehen. (Rn. 3)
2. Behauptet die Revision, das Gericht habe seine Überzeugung zu den persönlichen Verhältnissen des Angeklagten auch auf Tatsachen gegründet, die nicht auf den Angaben des Angeklagten beruhen und verweist dazu auf eine mangelnde Wiedergabe des Inhalts der Angaben des Angeklagten im Hauptverhandlungsprotokoll, kann dies keinen Verstoß gegen § 261 StPO begründen. Die Vernehmung eines Angeklagten zu seinen persönlichen Verhältnissen und zur Sache nach § 243 Abs. 2 S. 2, Abs. 5 S. 2 StPO erfolgt grundsätzlich mündlich. Das Protokoll der Hauptverhandlung muss nach § 273 Abs. 1 S. 1 StPO als wesentliche Verfahrensförmlichkeit nur den Umstand dokumentieren, dass sich der Angeklagte zur Sache eingelassen hat, nicht jedoch den Inhalt der Vernehmung des Angeklagten. Das Hauptverhandlungsprotokoll gibt daher außerhalb einer Anordnung der vollständigen Niederschreibung nach § 273 Abs. 3 StPO keine Auskunft über den Inhalt von Beweiserhebungen. Es enthält keine inhaltliche Wiedergabe der Einlassung des Angeklagten. Auch Vorhalte und Nachfragen sind nicht protokollierungspflichtig. (Rn. 4)
3. Beanstandet der Angeklagte, der Tatrichter habe entgegen § 261 StPO seine Einlassung nur unzureichend oder unzutreffend berücksichtigt, kann diese Rüge nicht durchgreifen, weil ihr das Rekonstruktionsverbot der Hauptverhandlung im Revisionsverfahren entgegensteht. (Rn. 4)
4. Eine Aufklärungsrüge kann nicht erfolgreich auf die Behauptung gestützt werden, ein Angeklagter habe sich in der Hauptverhandlung anders als im Urteil festgestellt eingelassen, der Tatrichter habe bei der Vernehmung des Angeklagten über seine persönlichen Verhältnisse bestimmte, sich aufdrängende Vorhalte nicht gemacht oder bestimmte Fragen nicht gestellt. Eine derartige Rekonstruktion der Beweisaufnahme ist unzulässig. (Rn. 5 und 6)
Schlagworte:
Revision, Verfahrensrüge, Zulässigkeit, Beweiswürdigung, Protokoll, Hauptverhandlung, Rekonstruktionsverbot, rechtliches Gehör
Vorinstanz:
LG Nürnberg-Fürth, Urteil vom 09.01.2025 – 6 NBs 570 Js 717/21 (2)
Fundstellen:
FDStrafR 2025, 014211
BeckRS 2025, 14211

Tenor

I. Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 09. Januar 2025 wird als unbegründet verworfen.
II. Der Angeklagte hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

1
Die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Revision hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben (§ 349 Abs. 2 StPO).
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1. Die formellen Rügen versagen. Die Revision beanstandet in mehreren Verfahrensrügen, das Landgericht habe die Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen des Angeklagten getroffen, obgleich diese Umstände nicht Gegenstand der Hauptverhandlung gewesen seien. Zur Begründung führt sie an, dass sich dazu im Protokoll der Hauptverhandlung „nichts“ finde, und verweist zum Beweis auf die Niederschrift, in der lediglich dokumentiert worden sei, dass der Angeklagte Angaben zu den persönlichen Verhältnissen gemacht habe, während sich die Feststellungen des Landgerichts zur Beziehung des Angeklagten, zu seinem Beschäftigungsverhältnis, zur Unterstützung seines Vaters, zu seiner Spendenbereitschaft und zu seinen Zukunftsplänen dem Protokoll inhaltlich nicht entnehmen ließen.
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a. Die Rügen der Verletzung von § 261 StPO und der Verletzung des rechtlichen Gehörs erweisen sich als unzulässig. Denn die Revision verschweigt bereits, dass auch die Zeugen K., M. und P. in der Hauptverhandlung zu den persönlichen Verhältnissen des Angeklagten vernommen worden sind (Urteil S. 11). Der Beschwerdeführer darf in seinem Revisionsvorbringen ihm nachteilige Verfahrenstatsachen nicht übergehen (Gericke in KK-StPO, 9. Aufl., § 344 Rn. 38; vgl. auch BGH, Beschluss vom 6. Dezember 2023 – 5 StR 271/23 –, juris).
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b. Die Rügen der Verletzung von § 261 StPO und der Verletzung des rechtlichen Gehörs wären auch unbegründet. Aus dem Protokoll der Hauptverhandlung lässt sich der Verstoß gegen § 261 StPO nicht ableiten. Die Vernehmung eines Angeklagten zu seinen persönlichen Verhältnissen und zur Sache nach § 243 Abs. 2 S. 2, Abs. 5 S. 2 StPO erfolgt grundsätzlich mündlich (vgl. Schneider in KK-StPO a.a.O. § 243 Rn. 87). Das Protokoll der Hauptverhandlung muss nach § 273 Abs. 1 S. 1 StPO als wesentliche Verfahrensförmlichkeit nur den Umstand dokumentieren, dass sich der Angeklagte zur Sache eingelassen hat, nicht jedoch den Inhalt der Vernehmung des Angeklagten (Schneider a.a.O. § 243 Rn. 99). Das Hauptverhandlungsprotokoll gibt daher außerhalb einer Anordnung der vollständigen Niederschreibung nach § 273 Abs. 3 StPO keine Auskunft über den Inhalt von Beweiserhebungen. Es enthält keine inhaltliche Wiedergabe der Einlassung des Angeklagten. Auch Vorhalte und Nachfragen sind nicht protokollierungspflichtig (vgl. Tiemann in KK-StPO a.a.O. § 261 Rn. 217). Was der Angeklagte gesagt hat, hat allein das Tatgericht wiederzugeben und zu würdigen (BGH, Beschluss vom 19. Oktober 2022 – 1 StR 326/22 –, juris Rn. 5). Die Niederschrift lässt daher eine inhaltliche Rekonstruktion der Tatsachenverhandlung nicht zu. Soll der Vortrag des Angeklagten dahin verstanden werden, dass er beanstandet, das Landgericht habe entgegen § 261 StPO seine Einlassung nur unzureichend oder unzutreffend berücksichtigt, könnte diese Rüge nicht durchgreifen, weil auch ihr das Rekonstruktionsverbot der Hauptverhandlung im Revisionsverfahren entgegensteht (vgl. BGH, Urteil vom 10. Juni 2020 – 5 StR 435/19-, juris Rn. 55; BGH, Beschluss vom 15. Januar 2004 – 3 StR 481/03 –, juris Rn. 4; BGH, Beschluss vom 14. August 2003 – 3 StR 17/03 –, juris Rn. 4; Schneider a.a.O. § 243 Rn. 93 und 131).
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c. Entsprechendes würde für eine Verletzung von § 244 Abs. 2 StPO gelten. Eine Aufklärungsrüge kann nicht erfolgreich auf die Behauptung gestützt werden, ein Angeklagter habe sich in der Hauptverhandlung anders als im Urteil festgestellt eingelassen, der Tatrichter habe bei der Vernehmung des Angeklagten über seine persönlichen Verhältnisse bestimmte, sich aufdrängende Vorhalte nicht gemacht oder bestimmte Fragen nicht gestellt. Auch eine derartige Rekonstruktion der Beweisaufnahme ist unzulässig (Krehl in KK-StPO a.a.O. § 244 Rn. 222; vgl. BGH, Beschluss vom 19. Oktober 2022 – 1 StR 326/22 –, juris Rn. 5).
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d. Ein Verstoß gegen § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO ist ebenfalls nicht dargetan. Nach § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO besteht eine Hinweispflicht, wenn der Hinweis auf eine veränderte Sachlage zur genügenden Verteidigung des Angeklagten erforderlich ist. Erfasst werden neben einer hier nicht in Betracht kommenden Veränderung einer Verfahrenslage die Fälle, in denen sich die Sachlage gegenüber der Schilderung des Sachverhalts in der zugelassenen Anklage ändert (vgl. Norouzi in MüKoStPO, 2. Aufl. 2024, § 265 Rn. 48 unter Verweis auf die Gesetzesbegründung; Stuckenberg in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Auflage, § 265 Rn. 51). Verwertet der Tatrichter aus der Hauptverhandlung gewonnene Erkenntnisse zu den persönlichen Verhältnissen des Angeklagten, löst dies mangels Änderung der Sachlage keine gerichtliche Hinweispflicht aus. Vielmehr ist es nach § 261 StPO die gesetzlich vorgesehene Aufgabe des Gerichts, das Ergebnis der Beweisaufnahme zu würdigen. Eine von der Revision besorgte Verletzung des rechtlichen Gehörs liegt darin nicht.
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2. Auch die Prüfung des Urteils auf die Sachrüge hin hat keinen durchgreifenden Rechtsfehler ergeben. Zur Begründung wird auf die Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft München in ihrer Antragsschrift vom 26. März 2025 Bezug genommen. Die Gegenerklärung vom 24. April 2025 hat dem Senat vorgelegen. Wenn die Strafkammer aufgrund der rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen zu der Beurteilung gekommen ist, dass die anstehende Hauptverhandlung der primäre Auslöser für die Wiederaufnahme der Therapie war, ist dagegen revisionsrechtlich nichts zu erinnern.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO.