Inhalt

VG München, Urteil v. 07.04.2025 – M 8 K 24.437
Titel:

Nachbar, Gebot der Rücksichtnahme, Erdrückende Wirkung (verneint), Abweichung, Abstandsflächen, Brandschutz

Normenketten:
BauGB § 30 Abs. 3 BauGB i.V.m. § 34
BayBO Art. 6 Abs. 1 S. 3, Abs. 2 S. 1, Abs. 6 S. 1 Nr. 3
BayBO Art. 63
BayBO Art. 62b Abs. 2 Nr. 1
Schlagworte:
Nachbar, Gebot der Rücksichtnahme, Erdrückende Wirkung (verneint), Abweichung, Abstandsflächen, Brandschutz
Fundstelle:
BeckRS 2025, 13749

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist für die Beklagte ohne, für die Beigeladene gegen Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch die Beklagte durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

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Die Klägerin wendet sich mit ihrer Klage gegen eine der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung für das Grundstück FlNr. … Gemarkung …, S. str. 25 („Baugrundstück“).
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Die Klägerin ist Eigentümerin des benachbarten Grundstücks FlNr. … Gemarkung …, Sch. str. 17 („Nachbargrundstück“). Das Nachbargrundstück und das Baugrundstück grenzen im Westen des Baugrundstücks unmittelbar aneinander. Der Grenzverlauf ist dabei nicht rechteckig. Auf der Höhe der südlichen Außenwand des bestehenden Vordergebäudes auf dem Baugrundstück bildet der Grenzverlauf nach Osten einen zunächst ca. 1,2 m (gemessen aus dem Abstandsflächenplan) breiten Vorsprung, der dann nach Süden trapezförmig auf eine Breite von ca. 0,7 m (gemessen aus dem Abstandsflächenplan) zuläuft.
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Das Nachbargrundstück ist mit einem achtgeschossigen Hotel bebaut, welches nahezu das gesamte Grundstück einnimmt. Lediglich im Bereich des Grenzversprungs sowie teilweise auch nördlich davon rückt das Nachbargebäude etwas nach Westen zurück, wodurch ein Freiraum entsteht, in dem eine bis ins Dachgeschoss reichende Fluchttreppe aus Metall untergebracht ist. Im Bereich des Gebäuderücksprungs sind bei dem Nachbargebäude an allen drei Gebäudeseiten Fenster vorhanden. In der unmittelbar Richtung Baugrundstück zeigenden, östlichen Wand des Gebäuderücksprungs sind festverglaste Milchglasfenster in den Zwischengeschossen angebracht, die für die Belichtung des dahinterliegenden Treppenhauses sorgen. An den nördlichen und südlichen Wänden des Rücksprungs befinden sich bodentiefe, öffenbare Fenster, die der Belichtung und Belüftung der dahinterliegenden Hotelzimmer sowie als Ausstieg auf die Fluchttreppe dienen.
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Vergleiche zur baulichen Situation folgenden Lageplan im Maßstab 1:1000 – nach dem Einscannen eventuell nicht mehr maßstabsgetreu – der eine Darstellung des Vorhabens enthält:
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Mit Antrag vom 7. Juni 2023 beantragte die Beigeladene bei der Beklagten die Erteilung einer Baugenehmigung für die Errichtung eines Hotels als Sonderbau.
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Die Beigeladene plant auf dem Baugrundstück die Errichtung eines Hotels mit 40 Zimmern und 80 Betten. Dabei sollen ein achtgeschossiges, zur S. straße hin orientiertes Vordergebäude und ein dreigeschossiges Rückgebäude im rückwärtigen Grundstücksbereich entstehen. Das Vorder- und das Rückgebäude sollen durch einen Verbindungsbau miteinander verbunden werden. Dieser Verbindungsbau soll im östlichen Grundstücksbereich wie das Rückgebäude dreigeschossig sein. Im Zentrum des Grundstücks soll ein lediglich erdgeschossiger Innenhofbau entstehen. Durch diese Anordnung der Gebäudeteile werden alle Gebäudeteile im Erdgeschoss im Inneren miteinander verbunden. An der Westseite zum Nachbargrundstück hin soll ein kleiner Hof verbleiben, der nicht überbaut wird. Klimatisierungs- / Entlüftungsanlagen werden weder in den Bauantragsunterlagen erwähnt noch sind sie in den Plänen eingezeichnet. In dem Bauantrag wurden unter anderem Anträge auf Abweichungen von Art. 6 BayBO wegen der Nichteinhaltung der erforderlichen Abstandsflächen zum Nachbargrundstücks gestellt. Hinsichtlich der Nichteinhaltung der Abstandsflächen zum Nachbargrundstück wurde folgende Abweichung beantragt,
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„3. Abweichung von Art. 6 BayBO: Die Abstandsfläche der südlichen Außenwand des Vordergebäudes und die Abstandsfläche des EG Rückgebäudes fallen in einem Umfang von 2,65 m2 auf Flur Nummer …
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4. Abweichung von Art. 6 BayBO: Die seitliche Abstandsfläche der Balkone fällt in einem Umfang von (zusätzlich) 7,72 m² auf Flur Nummer …“
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Mit Bescheid vom 17. November 2023 erteilte die Beklagte die beantragte Baugenehmigung. In der Baugenehmigung wurden auch Abweichungen von den Abstandsflächen zum Nachbargrundstück mit folgendem Wortlaut erteilt:
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„Abweichung gemäß Art. 63 Abs. 1 Bayerische Bauordnung (BayBO) von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 BayBO wegen Nichteinhaltung erforderlicher Abstandsflächen zu
- (…)
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- Fl.Nr. 7030 durch südliche Außenwand VGB mit RGB: ca. 2,7 m2 sowie
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- Fl.Nr. 7030 durch nicht untergeordneter Balkone VGB: ca. 7,7 m2.“
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Zur Begründung der Abweichung führte die Beklagte in der Baugenehmigung aus, dass sich das Vorhaben in einer dicht bebauten Innenstadtlage befinde, in der die nach Art. 6 BayBO erforderlichen Abstandsflächen regelmäßig nicht eingehalten würden. Die Abweichung sei auch städtebaulich vertretbar, da sich die Höhen, Breiten und Tiefen des geplanten Baukörpers in dieser innerstädtischen Lage einfügen würden. Außerdem würden die Anforderungen an gesunde Wohn- und Arbeitsverhältnisse gewahrt und eine ausreichende Belichtung und Belüftung bleibe erhalten. Die schutzwürdigen Individualinteressen der Nachbarn würden nicht nachhaltig und unzumutbar beeinträchtigt.
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Mit dem am 30. Januar 2024 bei Gericht eingegangenen Schriftsatz ließ die Klägerin durch ihren Bevollmächtigten Klage gegen die Baugenehmigung vom 17. November 2023 erheben.
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Die Klägerin beantragt zuletzt,
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Der der Beigeladenen erteilte Bescheid der Landeshauptstadt München, Referat für Stadtplanung und Bauordnung, vom 17.11.2023, Az. …- … betreffend die Erteilung einer Baugenehmigung für das Bauvorhaben Neubau eines Hotels mit 40 Zimmern und 80 Betten, S. str. 25, München, Flur-Nr. … wird aufgehoben.
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Die Abweichung von Art. 6 BayBO sei nicht rechtmäßig ergangen. Die nachbarlichen Belange seien nicht ausreichend gewürdigt worden. Durch die zum Innenhof gerichteten Balkone auf der Rückseite des geplanten Vordergebäudes entstünden Einsichtnahmemöglichkeiten in die an der Fluchttreppe gelegenen Hotelzimmer auf dem Nachbargrundstück. Zudem komme dem Vorhaben auch erdrückende Wirkung zu, es sei daher rücksichtslos. Für die an der Fluchttreppe gelegenen Fenster sei nach Umsetzung des Vorhabens keine ausreichende Belichtung und Belüftung mehr gewährleistet. Ferner seien die Bauantragsunterlagen und Pläne schon nicht hinreichend bestimmt. Insbesondere sei nicht erkennbar, welche brandschutzrechtlichen Vorgaben an das Vorhaben gestellt würden, insbesondere in Bezug auf die Fensteröffnungen im Vordergebäude ab dem vierten Obergeschoss, die sich in unmittelbarer Nähe zum Nachbargebäude befänden. Auch sei die Lage der – aus Sicht der Klägerin zwingend erforderlichen – Kühlanlage sowie die Art und Lage der Entlüftungsanlage für die im Keller befindliche Küche aus den Plänen nicht erkennbar. Es könne nicht ermittelt werden, welchen Lärmbelastungen die Klägerin durch diese Anlagen ausgesetzt sei.
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Die Beklagte beantragt
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Klageabweisung.
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Das Vorhaben verstoße nicht gegen das Gebot der Rücksichtnahme. Das Baugrundstück liege in einem Gebiet, für welches durch Bebauungsplan ein Kerngebiet festgesetzt sei. Außerdem sei das Nachbargrundstück entlang der Grenze zum Baugrundstück nur wenig befenstert. Hinter der Fluchttreppe liege im Inneren des Nachbargebäudes das dortige Treppenhaus. Mithin sei keine besonders schutzwürdige Nutzung von der Verschattung betroffen, da das Treppenhaus nicht dem Aufenthalt von Menschen diene. Zudem könne die Klägerin keine gesteigerte Rücksichtnahme verlangen, da sie selbst ihr Grundstück nahezu vollständig überbaut habe, dort ein Hotel betreibe und unmittelbar an der Grundstücksgrenze eine Lüftungsanlage angebracht habe. Auch sei hinsichtlich die Abstandsflächen eine Verletzung der klägerischen Rechte nicht gegeben. Die Frage der Abweichungen von den Abstandsflächen sei bereits durch einen Vorbescheid vom 14. September 2019 verbindlich entschieden. Für die Balkone fielen überdies gar keine Abstandsflächen an. Jedenfalls sei die erteilte Abweichung aber rechtmäßig. Wegen des besonderen Grundstückszuschnitts und der Lage des Vorhabens in einem innerstädtischen Bereich handle es sich um eine atypische Situation. Auch seien keine unzumutbaren, rücksichtslosen Auswirkungen gegeben. Die Abweichung betreffe lediglich etwa 2,7 m2 und falle daher nur sehr geringfügig ins Gewicht.
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Die Beigeladene beantragt
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Klageabweisung.
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Die Beigeladene hat sich inhaltlich nicht zur Sache geäußert.
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Das Gericht hat am 7. April 2024 Beweis erhoben durch Augenschein und eine mündliche Verhandlung durchgeführt. Zu den Ergebnissen des Augenscheins, dem Verlauf der mündlichen Verhandlung, dem weiteren Vorbringen der Parteien und den übrigen Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und auf die beigezogenen Behördenakten verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage ist zulässig, in der Sache jedoch unbegründet.
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Ein Dritter kann eine Baugenehmigung, die einem anderen erteilt wurde, nur dann erfolgreich anfechten, wenn öffentlich-rechtliche Vorschriften verletzt sind, die im bauaufsichtlichen Genehmigungsverfahren zu prüfen sind und die auch dem Schutz des Nachbarn dienen, weil dieser in qualifizierter und zugleich individualisierter Weise in schutzwürdigen Rechten betroffen ist (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO; vgl. BVerwG, U.v. 26.9.1991 – 4 C 5/87 – juris; BayVGH B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris).
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Die streitgegenständliche Baugenehmigung verletzt keine im einschlägigen Genehmigungsverfahren nach Art. 68 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 BayBO i.V.m. Art. 60 BayBO zu prüfenden, auch die Klägerin schützenden öffentlich-rechtlichen Vorschriften (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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1. Bauplanungsrechtlicher Nachbarschutz ist vorliegend aus § 30 Abs. 3 BauGB i.V.m. § 34 BauGB herzuleiten, da das Baugrundstück im Geltungsbereich des einfachen Bebauungsplans Nr. …, der als Gebietsart ein Kerngebiet nach § 7 BauNVO festsetzt, und im Übrigen im unbeplanten Innenbereich liegt.
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Da ein Verstoß gegen den Gebietserhaltungsanspruch weder gerügt noch ersichtlich ist, kann die Klägerin, die sich auf der Grundlage des § 34 Abs. 1 BauGB gegen ein Vorhaben im Innenbereich wendet, mit ihrer Klage nur durchdringen, wenn die angefochtene Baugenehmigung gegen das im Tatbestandsmerkmal des „Sich-Einfügens“ enthaltene Gebot der Rücksichtnahme verstößt (stRspr, BVerwG, U.v. 5.12. 2013 – 4 C 5.12 – ZfBR 2014, 257 m.w.N.). Darauf, ob sich das Bauvorhaben im Übrigen objektiv in die maßgebliche Umgebung einfügt, kommt es nicht an.
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Inhaltlich zielt das Gebot der Rücksichtnahme darauf ab, solche Spannungen und Störungen möglichst zu vermeiden, die durch eine unverträgliche Grundstücksnutzung entstehen können. Welche Anforderungen das Gebot der Rücksichtnahme begründet, hängt wesentlich von den jeweiligen Umständen des Einzelfalls ab. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung derer ist, auf die Rücksicht zu nehmen ist, umso mehr kann Rücksichtnahme verlangt werden. Je verständlicher und unabweisbarer die Interessen desjenigen sind, der das Vorhaben verwirklichen will, umso weniger ist Rücksicht zu nehmen (vgl. BVerwG, U.v. 25. 2. 1977 – 4 C 22/75 – juris Rn. 22). Für eine sachgerechte Beurteilung des Einzelfalls kommt es wesentlich auf eine Abwägung zwischen dem, was dem Rücksichtnahmebegünstigten einerseits und dem Rücksichtnahmeverpflichteten andererseits nach Lage der Dinge zuzumuten ist. Das Gebot der Rücksichtnahme ist verletzt, wenn unter Berücksichtigung der Schutzwürdigkeit des Betroffenen, der Intensität der Beeinträchtigung und der wechselseitigen Interessen das Maß dessen, was billigerweise noch zumutbar ist, überschritten wird (vgl. BVerwG, U.v. 25. 2. 1977 a.a.O.; BVerwG, U.v. 18.11.2004 – 4 C 1/04 – juris Rn. 22).
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Dies zugrunde gelegt erweist sich das Vorhaben gegenüber dem Grundstück der Klägerin nicht als rücksichtslos.
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1.1 Das Vorhaben verstößt nicht deshalb gegen das Gebot der Rücksichtnahme, weil von ihm eine „erdrückende“ oder „einmauernde“ Wirkung ausgehen würde. Eine „erdrückende“ Wirkung kommt bei nach Höhe, Breite und Volumen „übergroßen“ Baukörpern, die in geringem Abstand zu benachbarten Wohngebäuden errichtet werden, in Betracht (vgl. BayVGH B.v. 5.9.2016 – 15 CS 16.1536 – juris Rn. 28). Für die Annahme einer „erdrückenden“ Wirkung eines Nachbargebäudes besteht jedoch grundsätzlich schon dann kein Raum, wenn dessen Baukörper nicht erheblich höher ist als der des betroffenen Gebäudes (vgl. BayVGH, B.v. 5.9.2016 – 15 CS 16.1536 – juris Rn. 30). Dies gilt insbesondere dann, wenn beide Gebäude im dicht bebauten städtischen Bereich liegen (vgl. BayVGH, v. 20.4.2010 – 2 ZB 07.3200 – juris Rn. 3; B.v. 11.5.2010 – 2 CS 10.454 – juris Rn. 5; U.v. 7.10.2010 – 2 B 09.328 – juris Rn. 22; B.v. 5.12.2012 – 2 CS 12.2290 – juris Rn. 9).
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Legt man zugrunde, unter welchen Umständen von der Rechtsprechung eine einmauernde oder erdrückende Wirkung angenommen wurde (vgl. bspw. BVerwG, U.v. 13.3.1981 – 4 C 1/78 – juris Rn. 38: 12-geschossiges Gebäude in 15 m Entfernung zum 2,5-geschossigen Nachbarwohnhaus; U.v. 23.5.1986 – 4 C 34/85 – juris Rn. 15: drei 11,05 m hohe Siloanlagen im Abstand von 6 m zu einem zweigeschossigen Wohnanwesen), steht außer Frage, dass das streitgegenständliche Vorhaben keinen solchen Extremfall darstellt. Vorliegend kann schon aufgrund der Höhenverhältnisse nicht von einer „erdrückenden“ Wirkung die Rede sein. Das Bauvorhaben soll – bei gleicher Geschossigkeit wie das Nachbargebäude – nur etwa 2,8 m (abgemessen aus Schnitt A1-A1) höher als dieses sein. Ein erheblicher Höhenunterschied i.S. einer „abriegelnden“ Wirkung liegt hierin nicht. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass lediglich das Vordergebäude die beschriebene Höhenentwicklung aufweist. Das Rückgebäude und der Verbindungsbau sind mit nur drei Geschossen bzw. nur einem Erdgeschoss wesentlich niedriger als das klägerische Gebäude, welches auch im rückwärtigen Grundstücksbereich mit acht Geschossen unmittelbar an der Grenze zum Baugrundstück steht.
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1.2 Auch hinsichtlich seiner Auswirkungen auf die Belichtung und Belüftung des Nachbargrundstücks erweist sich das Vorhaben nicht aus rücksichtslos. Das Rücksichtnahmegebot gewährleistet weder eine bestimmte Dauer oder „Qualität“ der natürlichen Belichtung noch die unveränderte Beibehaltung einer insoweit zuvor gegebenen Situation (OVG Hamburg, B.v. 26.9.2007 – 2 Bs 188/07 – juris Rn. 10). Auch gibt es dem Nachbarn nicht das Recht, von jeglicher Beeinträchtigung der Licht- und Luftverhältnisse oder der Verschlechterung der Sichtachsen von seinem Grundstück aus verschont zu bleiben (BayVGH, B.v. 22.6.2011 – 15 CS 11.1101 – juris Rn. 17). Vielmehr ist ein Verschattungseffekt als typische Folge der Bebauung insbesondere in innergemeindlichen bzw. innerstädtischen Lagen, bis zu einer im Einzelfall zu bestimmenden Unzumutbarkeitsgrenze in der Regel nicht rücksichtslos und daher hinzunehmen (vgl. BayVGH, B.v. 10.12.2008 – 1 CS 08.2770 – juris Rn. 24; B.v. 20.3.2018 – 15 CS 17.2523 – juris Rn. 28 m.w.N.; B.v.5.4.2019 – 15 ZB 18.1525 – BeckRS 2019, 7160 Rn. 15; OVG Bremen, B.v. 19.3.2015 – 1 B 19/15 – juris Rn. 19; SächsOVG, B.v. 4.8.2014 – 1 B 56/14 – juris Rn. 19).
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Dass die Grenze zur Unzumutbarkeit vorliegend aufgrund einer besonderen Belastungswirkung im konkreten Fall überschritten wird, ist im Rahmen der vorgegebenen städtebaulichen Situation nicht erkennbar. Eine wesentliche Verschlechterung tritt durch das Vorhaben nicht ein. Das geplante Vordergebäude rückt nicht tiefer in das Grundstück hinein als das im Bestand vorhandene Vordergebäude. Es wird lediglich höher und erreicht die gleiche Geschossigkeit wie das Gebäude auf dem Nachbargrundstück. Zudem nimmt die Planung des Vorhabens Rücksicht auf die Belange der Klägerin, da insbesondere durch die niedrigere Höhenentwicklung und Situierung von Rückgebäude, Verbindungsbau und Innenhofbau dem Interesse der Klägerin an einer ausreichenden Belichtung und Belüftung Rechnung getragen wird. Darüber hinaus sind insbesondere die meisten der nach Osten zum Baugrundstück gerichteten Wände des Nachbargebäudes als fensterlose Brandwände ausgestaltet und daher nicht von einer Belichtungseinbuße betroffen. Zudem dienen die im Bereich der Fluchttreppe nach Osten gerichteten Milchglasfenster lediglich der Belichtung des Treppenhauses des Hotels. Bei dem Treppenhaus handelt es sich um einen weniger schützenswerten Raum, da es nicht für den dauerhaften Aufenthalt von Menschen vorgesehen ist. Außerdem kann die Klägerin auch keine gesteigerte Rücksichtnahme ihr gegenüber beanspruchen. Es ist nämlich hinsichtlich der von Norden und Süden auf die Fluchttreppe führenden Hotelzimmerfenster zu berücksichtigen, dass diese – insbesondere in den unteren Geschossen – bereits durch Verschattung vorbelastet sind und die Klägerin sich selbst durch die grenznahe Bebauung, sowie die vollständige Ausnutzung des Grenzanbaurechts in diese empfindliche Position gebracht hat. Sie hat ihr eigenes Grundstück nahezu vollständig überbaut, sodass eine Belichtung der östlichen Hotelzimmer nur noch über die auf die Fluchttreppe führenden Fenster erfolgen kann. Auch die Fluchttreppe trägt in diesem Bereich zu der nur eingeschränkten Belichtung bei. Insbesondere kann die Klägerin vor diesem Hintergrund nicht damit rechnen, dass das Gebäude auf dem Baugrundstück dauerhaft hinter der durch das Nachbargebäude vorgegebenen Geschossigkeit und Höhe zurückbleibt. Vielmehr sind in der durch die Bebauung auf dem klägerischen Grundstück geschaffenen, empfindlichen Situation Einschränkungen der Belichtung und Belüftung durch benachbarte Bauvorhaben zu erwarten.
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2. Auch hinsichtlich der Abstandsflächen ist die Klägerin nicht in subjektiv-öffentlichen Rechten verletzt.
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Gemäß Art. 6 BayBO sind vor den Außenwänden von Gebäuden Abstandsflächen von oberirdischen Gebäude einzuhalten. Abstandsflächen müssen auf dem Grundstück selbst liegen (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 BayBO).
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2.1 Soweit das Vorhaben grenzständig errichtet wird, bedarf es keiner Abstandsflächen, Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO. Nach dieser Vorschrift ist eine Abstandsfläche nicht erforderlich vor Außenwänden, die an Grundstücksgrenzen errichtet werden, wenn nach planungsrechtlichen Vorschriften an die Grenze gebaut werden muss oder gebaut werden darf. Dies ist hier der Fall, die nähere Umgebung wird durch die geschlossene Bauweise geprägt. Sowohl entlang der S. straße als auch entlang der Sch. straße sind die Gebäude in geschlossener Bauweise errichtet. Auch im rückwärtigen Grundstücksbereich finden sich im Geviert grenzständig errichtete Bauten, so etwa das im Bestand vorhandene Rückgebäude auf dem Baugrundstück.
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2.2 Was die Balkone anbelangt, so werden durch diese wegen Art. 6 Abs. 6 Satz 1 Nr. 3 BayBO schon keine Abstandsflächen ausgelöst. Einer Abweichung bedurfte es daher insoweit nicht. Nach Art. 6 Abs. 6 Satz 1 Nr. 3 BayBO bleiben bei der Bemessung der Abstandsflächen bei Gebäuden, die an die Grundstücksgrenze gebaut werden, die Seitenwände von Vorbauten und Dachaufbauten, auch wenn sie nicht an der Grundstücksgrenze errichtet werden, außer Betracht. Balkone sind Vorbauten in diesem Sinne. Das Vorhaben steht im Westen auf der gemeinsamen Grundstücksgrenze, was auch zulässig ist, da in dem Geviert in geschlossener Bauweise gebaut werden darf bzw. muss. Mithin bleiben die Seitenwände der Balkone auf der Rückseite des Vordergebäudes bei der Bemessung der Abstandsflächen außer Betracht.
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2.3 Im Übrigen wurde die erforderliche Abweichung erteilt. Diese ist auch rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.
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Gemäß Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO soll die Bauaufsichtsbehörde Abweichungen von den Anforderungen der Bayerischen Bauordnung zulassen, wenn sie unter Berücksichtigung des Zwecks der jeweiligen Anforderung und unter Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange mit den öffentlichen Belangen, insbesondere den Anforderungen des Art. 3 Satz 1 BayBO vereinbar sind.
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Sämtliche durch das Vorhaben ausgelöste Abstandsflächen, die auf das benachbarte Grundstück fallen, werden durch die Abweichung erfasst (2.3.1) und die Voraussetzungen für die Erteilung einer Abweichung nach Art. 63 Abs. 1 BayBO liegen vor (2.3.2).
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2.3.1 Die in der Baugenehmigung erteilte Abweichung erfasst sämtliche durch das Vorhaben ausgelöste Abstandsflächen, die auf dem Nachbargrundstück zum Liegen kommen. Aus der Zusammenschau des Antrags auf Abweichung und der erteilten Abweichung wird deutlich, dass auch die durch den erdgeschossigen Innenhofbau ausgelösten Abstandsflächen von der Abweichung erfasst sein sollen. Der Innenhofbau wird in den Bauantragunterlagen, insbesondere im Abstandsflächenplan, als „Rückgebäude“ bezeichnet. Im Antrag auf Abweichung findet sich ferner die Formulierung „Abstandsfläche des EG Rückgebäude“, was sich logisch nur auf den erdgeschossigen Innenhofbau beziehen kann, da im Übrigen keine erdgeschossigen Gebäudeteile vorhanden sind. Die in der Baugenehmigung erteilte Abweichung formuliert dies dann um zu „VGB mit RGB“, meint damit jedoch das Gleiche.
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2.3.2 Die Abweichung nach Art .63 Abs. 1 Satz 1 BayBO ist auch nicht zu beanstanden.
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Es kann offenbleiben, ob die Erteilung einer Abweichung nach Art. 63 BayBO nach Einfügung von Art. 6 Abs. 1 Satz 4 BayBO auch eine atypische Situation voraussetzt (LT-Drs. 17/21574, zu Nr. 5 (Art. 6); vgl. zu den Voraussetzungen einer Atypik auch: BayVGH, B.v. 22.1.2020 – 15 ZB 18.2547 – juris, Rn. 34 m.w.N.), da eine solche hier zweifelsohne gegeben ist. Die Lage der betroffenen Grundstücke in einem seit langer Zeit dicht bebauten großstädtischen Innenstadtquartier, in dem – wie hier – allenfalls wenige Gebäude die nach heutigen Maßstäben erforderlichen Abstände zu den jeweiligen Grundstückgrenzen einhalten, vermittelt eine besondere Atypik, die eine Abweichung von der Einhaltung der Regelabstandsflächen gegenüber Nachbarn rechtfertigt (BayVGH, B.v. 22.1.2020 – 15 ZB 18.2547 – juris, Rn. 36; B.v. 4.8.2011 – 2 CS 11.997 – juris Rn. 23; B.v. 26.9.2016 – 15 CS 16.1348 – juris Rn. 34). Ferner ergibt sich die Atypik vorliegend auch aus einem besonderen Grundstückszuschnitt (BayVGH, B.v. 16.7.2007 – 1 CS 07.1340 – juris Rn. 16), da die Westgrenze des Baugrundstücks nicht gerade verläuft, sondern einen deutlichen trapezförmigen Versprung aufweist.
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Die Abweichung ist auch mit den nachbarlichen Belangen vereinbar (Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO). Die Belichtungs- und Belüftungssituation wird, wie bereits im Rahmen des Rücksichtnahmegebots dargestellt, für die Nachbarbebauung nicht wesentlich verschlechtert. Auch im Rahmen der Abwägung der nachbarlichen Interessen mit den Interessen der Beigeladenen als Bauherrin ist zu berücksichtigen, dass die Klägerin sich durch die Bebauung auf ihrem eigenen Grundstück in die empfindliche Lage begeben hat. Weiter ist zu beachten, dass die Abstandsflächen im Bestand schon nicht eingehalten werden. Schon bisher werden durch die Gebäude auf dem Baugrundstück Abstandsflächen auf das Nachbargrundstück im Bereich des Grenzversprungs geworfen. Zudem löst auch das klägerische Anwesen mit seiner achtgeschossigen grenznahen Bebauung in nicht unerheblichem Umfang Abstandsflächen aus, die auf dem Baugrundstück zum Liegen kommen. Der Umfang der durch das Vorhaben ausgelösten Abstandsflächen, die auf das Nachbargrundstück fallen, ist im Vergleich dazu mit nur etwa 2,7 m2 relativ gering.
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Ermessensfehler sind nicht ersichtlich. Die Beklagte hat das ihr zustehende Ermessen erkannt und ohne Fehler davon Gebrauch gemacht.
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3. Auch hinsichtlich der Vorschriften über den Brandschutz ist keine Verletzung der klägerischen Rechte gegeben. Der Brandschutz ist vorliegend nicht Teil des Genehmigungsverfahrens nach Art. 60 BayBO, da der Brandschutznachweis laut Bauantrag gemäß Art. 62b Abs. 2 Nr. 1 BayBO durch einen Prüfsachverständigen für Brandschutz bescheinigt werden soll. Die Baugenehmigung weist insoweit keine Feststellungswirkung auf (Lechner/Busse in: Busse/Kraus, Bayerische Bauordnung, 156. EL Dezember 2024, Art. 60 Rn. 12) und vermittelt keinen Drittschutz. Nur wenn die Prüfung des Brandschutznachweises Teil des Prüfprogramms ist, weil es sich um einen Sonderbau handelt und die Prüfung durch die Bauaufsichtsbehörde vorzunehmen ist, kann die Baugenehmigung selbst mit Verweis auf die nachbarschützende Bestimmung angefochten werden.
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4. Ebenso wenig werden subjektiv-öffentliche Rechte der Klägerin durch Klimatisierungs- / Entlüftungsanlagen auf dem Baugrundstück verletzt. Eine Baufreigabe hinsichtlich solcher Teile ist nicht erfolgt. Entsprechende Bauteile finden weder in den Bauantragsunterlagen noch in den Plänen Erwähnung. Die Baugenehmigung kann nicht über den beantragten Umfang hinausgehen. Beinhalten Antragsunterlagen und Pläne bestimmte Bauteile nicht, so sind diese auch nicht vom Umfang der Genehmigung erfasst. Eine Verletzung nachbarlicher Rechte durch die Baugenehmigung kommt insoweit daher nicht Betracht.
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5. Eine Verletzung anderer im bauaufsichtlichen Genehmigungsverfahren nach Art. 60 BayBO zu prüfender, drittschützender Vorschriften ist weder vorgebracht noch ersichtlich.
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6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
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Es entspricht der Billigkeit, der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen aufzuerlegen, da diese Sachanträge gestellt und sich dadurch einem Kostenrisiko ausgesetzt hat, § 154 Abs. 3, § 162 Abs. 3 VwGO.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. § 708 ff ZPO.