Titel:
Dublin-Verfahren (Zielstaat Kroatien, Herkunftsstaat Türkei), Abschiebungsandrohung anstatt Abschiebungsanordnung, Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens („mutual trust“), Kettenabschiebungen von Kroatien nach Bosnien-Herzegowina und Serbien, Relevanz von völkerrechtlichen Rückübernahmeabkommen (readmission agreements), Systematisch auftretende Polizeigewalt gegenüber Geflüchteten in Kroatien, Systemische Mängel (bejaht)
Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a
AsylG § 34a Abs. 1 S. 4
VO (EU) 604/2013 (Dublin III-VO) Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2
Dublin III-VO Art. 3 Abs. 3
Dublin III-VO Art. 18 Abs. 2 Unterabs. 2
RL 2013/32/EU Art. 9 Abs. 2
RL 2013/32/EU Art. 33 Abs. 2 Buchst. c
RL 2013/32/EU Art. 39 Abs. 2 bis Abs. 4
RL 2008/115/EG Art. 2 Abs. 1
RL 2008/115/EG Art. 3 Nr. 3
RL 2008/115/EG Art. 3 Nr. 4
RL 2008/115/EG Art. 6 Abs. 1
EUV Art. 6 Abs. 3
GRCh Art. 4
GRCh Art. 52 Abs. 3 S. 1
EMRK Art. 3
Leitsätze:
1. Der Vollzug eines völkerrechtlichen bilateralen Rückübernahmeabkommens des Dublin-Zielstaats mit einem Nicht-EU-Drittstaat kann unter ergänzender Berücksichtigung der nationalen Drittstaatenvorschriften des Dublin-Zielstaats zur Grundlage einer Gefahrenprognose im Kontext des Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO und Art. 4 GRCh gemacht werden (mittelbare Zurückweisung/indirect refoulement).
2. Für Asylsuchende, die nach der Dublin III-VO nach Kroatien rückgeführt werden sollen und die ursprünglich erstmalig über Bosnien-Herzegowina als Transitland unerlaubt nach Kroatien eingereist sind, besteht nach der aktuellen Vollzugspraxis des bilateralen Rückübernahmeabkommens zwischen Kroatien und Bosnien-Herzegowina das ernsthafte Risiko, in diesen Drittstaat – ggf. auch erst nach Erlass einer Unzulässigkeitsentscheidung gemäß Art. 33 Abs. 2 Buchst. c RL 2013/32/EU – abgeschoben zu werden.
3. In Kroatien bestehen nach derzeitiger Auskunftslage keine effektiven Rechtsschutzmechanismen für Asylsuchende, die durch die kroatische Polizei eine erniedrigende oder unmenschliche Behandlung erfahren haben.
Schlagworte:
Dublin-Verfahren (Zielstaat Kroatien, Herkunftsstaat Türkei), Abschiebungsandrohung anstatt Abschiebungsanordnung, Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens („mutual trust“), Kettenabschiebungen von Kroatien nach Bosnien-Herzegowina und Serbien, Relevanz von völkerrechtlichen Rückübernahmeabkommen (readmission agreements), Systematisch auftretende Polizeigewalt gegenüber Geflüchteten in Kroatien, Systemische Mängel (bejaht)
Fundstelle:
BeckRS 2024, 5218
Tenor
I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 25. August 2022 wird aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leisten.
Tatbestand
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Die Kläger wenden sich mit ihren Klagen gegen die Ablehnung ihrer Asylanträge als unzulässig und die damit verbundene Androhung ihrer Überstellung nach Kroatien im Rahmen des sogenannten „Dublin-Verfahrens“.
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Die Kläger, nach eigenen Angaben türkische Staatsangehörige, reisten zunächst von der Türkei über Bosnien-Herzegowina und Kroatien am 18* Juni 2022 in das Bundesgebiet ein und äußerten Asylgesuche, von denen das Bundesamt durch behördliche Mitteilung vom gleichen Tag schriftlich Kenntnis erlangt hat. Die förmlichen Asylanträge datieren vom 4. August 2022.
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Aufgrund der EURODAC-Ergebnismitteilung vom 18. Juni 2022, die Treffermeldungen sowohl der Kategorie 1 als auch der Kategorie 2 vom gleichen Tag aufweist (vgl. „HR2[…]“ und „HR1[…]“ vom 11.6.2022, Aufgriff in …), ergaben sich für die Beklagte Anhaltspunkte für die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats nach der VO (EU) 604/2013 (Dublin III-VO). Am 11. August 2022 richtete die Beklagte ein auf Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-VO gestütztes Wiederaufnahmegesuch an Kroatien, das von den dortigen Behörden am 24. August 2022 unter Verweis auf Art. 20 Abs. 5 Dublin III-VO akzeptiert wurde. Das Schreiben der kroatischen Behörden vom 24. August 2022 enthält folgenden Zusatz: „According to Directive 2013/32/EU of the European Parliament and the Council of 26 June 2013, when there is reasonable cause to consider that an applicant has implicitly withdrawn or abandoned his or her application, Member States shall ensure that the determining authority take a decision either to discontinue the examination or, provided that the determining authority considers the application to be unfounded on the basis of an adequate examination of its substance in line with Article 4 of Directive 2011/95/EU, to reject the application.“
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Mit Bescheid vom 25. August 2022 lehnte das Bundesamt die Asylanträge als unzulässig ab (Nummer 1 des Bescheids), verneinte das Vorliegen von Abschiebungsverboten gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG (Nummer 2 des Bescheids) und forderte die Kläger auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise wurde die Abschiebung nach Kroatien angedroht (Nummer 3 des Bescheids). Das angeordnete Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 19 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Auf die Begründung des Bescheids wird Bezug genommen.
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Die Kläger haben am 5. September 2022 über ihren Bevollmächtigten Klage gegen den Bescheid vom 25. August 2022 erhoben und beantragen,
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den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 25. August 2022 aufzuheben.
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Zur Begründung wird mit Schriftsatz vom 29. September 2022 ausgeführt, dass die Ablehnung der Asylanträge der Kläger rechtswidrig sei, weil das kroatische Asylsystem systemische Mängel im Sinn von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO aufweise. In Kroatien komme es in großem Umfang zu Misshandlungen von Flüchtlingen durch die Polizei, gewaltsamen Pushbacks und Kettenabschiebungen. Der Kläger zu 1 sei von kroatischen Polizisten misshandelt worden. Er sei im Beisein seiner Ehefrau und seines Kindes von Polizisten geschlagen worden. Ein Polizist habe das Handy des Klägers zu 1 mit dem Fuß kaputtgetreten. Die Polizisten hätten den Klägern etwa 500 Euro Bargeld abgenommen, welches diesen nicht mehr zurückgegeben worden sei. Zudem sei den Klägern Kleidung abgenommen und weggeworfen worden. Nach ihrer Verhaftung hätten sie 2 Tage in einem abgeschlossenen Raum verbringen müssen. Die Vorstellung, wieder nach Kroatien zu müssen, mache den Klägern Angst. Die Kläger seien mit einem 4 Jahre alten Kind und (nun) einem Säugling zudem als vulnerabel anzusehen.
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Mit Schriftsatz vom 10. Dezember 2022 übersandte der Bevollmächtigte der Kläger ein Foto des zertretenen Mobiltelefons des Klägers zu 1.
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Die Beklagte beantragt mit Schriftsätzen vom 23. September 2022 und 20. Februar 2024,
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die Klagen abzuweisen.
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Zur Begründung wird zusammengefasst im Wesentlichen ausgeführt, dass sogenannte „Pushbacks“ für Dublin-Verfahren grundsätzlich nicht relevant seien, da auf Grundlage der Dublin III-VO als unmittelbar geltendem Recht eine Überstellung zwischen zwei Mitgliedstaaten stattfände, deren Durchführung nicht ohne Einverständnis zwischen den Mitgliedstaaten erfolgen könne. Dies bestätige auch die überwiegende Mehrheit der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung. Die Schweizerische Botschaft in Kroatien sei überdies nach mehrfachen Abklärungen zu der Einschätzung gelangt, es sei kaum denkbar, dass Dublin-Rückkehrenden unmittelbar nach ihrer Ankunft am Flughafen Z. eine Kettenabschiebung drohe. Diese Einschätzung werde von zivilgesellschaftlichen Organisationen geteilt. Es gebe auch keine belastbaren Erkenntnisse, die darauf hindeuteten, dass Personen wie die Kläger, die nach der Dublin III-VO wieder nach Kroatien überstellt würden, von illegalen Push-Backs oder Kettenabschiebungen betroffen sein könnten (unter Verweis insbesondere auf: NdsOVG, U.v. 11.10.2023 – 10 LB 18/23 – juris Rn. 47 ff.; B.v. 22.2.2023 – 10 LA 12/23 – juris Rn. 8; VGH BW, U.v. 11.5.2023 – A 4 S 2666/22 – juris Rn. 58). Im Übrigen unterscheide sich die Situation von Asylsuchenden, die im Weg des Dublin-Verfahrens nach Kroatien rücküberstellt werden, erheblich von denjenigen Betroffenen, die von Slowenien nach Kroatien rücküberstellt und sodann weiter nach Bosnien-Herzegowina abgeschoben worden seien. Schließlich sei der Vortrag der Kläger bezüglich der in Kroatien erlittenen Misshandlungen durch die dortige Polizei als unglaubhaft zu bewerten.
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Mit Beschluss vom 26. September 2022 lehnte das Gericht einen Antrag der Kläger gemäß § 80 Abs. 5 VwGO wegen fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses als unzulässig ab, da der Klage aufgrund der erlassenen Abschiebungsandrohung (§ 34a Abs. 1 Satz 4 AsylG) bereits aufschiebende Wirkung zukomme (vgl. B.v. 26.9.2022 – M 10 S 22.50480, n.v.).
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakten, auch im Verfahren M 10 S 22.50480, das Protokoll über die mündliche Verhandlung vom 22. Februar 2024 sowie die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässigen Klagen der Kläger sind begründet.
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Der Bescheid der Beklagten vom 25. August 2022 erweist sich in dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG als rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 VwGO). Die Ablehnung der Asylanträge als unzulässig gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG und die hierauf gemäß § 34a Abs. 1 Satz 4 AsylG erlassene Abschiebungsandrohung sind rechtswidrig, da im kroatischen Asylsystem in mehrfacher Hinsicht systemische Mängel vorliegen, die sich auch in überstellungsrelevanter Weise auf die Kläger konkret auswirken. Dementsprechend haben auch die Nebenentscheidungen des streitbefangenen Bescheids keinen rechtlichen Bestand.
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I. Die auf § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG gestützte Ablehnung der Asylanträge als unzulässig ist rechtswidrig, weil eine Überstellung an Kroatien als den an sich zuständigen Mitgliedstaat (hier nach Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 Dublin III-VO) an Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO wegen systemischer Mängel im dortigen Asylsystem, aus denen sich die ernsthafte Gefahr einer Verletzung der Rechte der Kläger aus Art. 4 GRCh ergibt, scheitert. Demnach ist die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens der Kläger gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 3 Dublin III-VO auf die Beklagte übergegangen.
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1. Nach dem Prinzip der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93 und 2 BvR 2315/93 – juris) bzw. dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10 und C-493/10 – juris) gilt die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat der Europäischen Union den Vorschriften der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), der Europäischen Konvention für Menschenrechte (EMRK) und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union entspricht. Allerdings ist diese Vermutung nicht unwiderleglich. Der Begriff des Vertrauens meint im konkreten Rechtskontext in einer Situation des Nichtwissens das Bestehen von Normkonformitätserwartungen des überstellenden Staates an den Zielstaat, was im Grundsatz mit Kontrollverzichten und Unbeachtlichkeitsregeln einhergeht (vgl. Lübbe, NVwZ 2017, 674/676). In diesem Sinn reicht Vertrauen so weit, bis es von entgegenstehenden Realitäten erschüttert wird (vgl. Lübbe, a.a.O.). Den nationalen Gerichten obliegt insoweit die Prüfung, ob es im jeweiligen Mitgliedstaat Anhaltspunkte für systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber gibt, welche zu einer Gefahr für die Kläger führen, bei der Rückführung in den zuständigen Mitgliedstaat einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh ausgesetzt zu werden (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011, a.a.O.). Die Vermutung ist aber nicht schon bei einzelnen einschlägigen Regelverstößen der zuständigen Mitgliedstaaten widerlegt. Regelverstöße, die Betroffene schicksalhaft treffen, sind nicht vorhersehbar und lassen sich – anders als bei regelhaft vorkommenden Rechtsverstößen – nicht verlässlich prognostizieren (vgl. Lübbe, ʹ‘Systemic Flaws’ and Dublin Transfers: Incompatible Tests before the CJEU and the ECtHR?ʹ in International Journal of Refugee Law (27) 2015, 135/137 f.). An die Feststellung systemischer Mängel sind daher hohe Anforderungen zu stellen. Systemische Schwachstellen bzw. Mängel, die eine Überstellung im Sinn von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO unmöglich machen, liegen nur dann vor, wenn Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen im zuständigen Mitgliedstaat aufgrund größerer Funktionsstörungen regelhafte Defizite aufweisen und als Folge davon im konkreten Fall dem Asylbewerber im Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss daraus die Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung droht (vgl. BVerwG, B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris Rn. 18 ff.; BVerwG, B.v. 19.3.2014 – 10 B 6.14 – juris Rn. 9; VGH BW, U.v. 16.4.2014 – A 11 S 1721/13 – juris Rn. 41; grundlegend EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10, „Abdullahi“ – NVwZ 2012, 417, Rn. 80 ff.). Auf der anderen Seite machen selbst schwerwiegende Schwachstellen oder Mängel im Asylverfahren oder in den Aufnahmebedingungen, die nicht nur vereinzelt vorkommen (und damit „systemisch“ sind), eine Überstellung im Sinn von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO nicht unmöglich, wenn sich daraus im konkret zu entscheidenden Einzelfall keine Gefahr einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung entgegen Art. 4 GRCh ableiten lässt (vgl. NdsOVG, U.v. 11.10.2023 – 10 LB 18/23 – juris Rn. 28; vgl. für den Fall des Vorliegens einer konkreten Garantieerklärung durch den Dublin-Zielstaat bei ansonsten vorliegenden systemischem Mangel: BayVGH, B.v. 27.2.2023 – 24 ZB 22.50056 – juris Rn. 13). Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist zu berücksichtigen, dass der Begriff der systemischen Schwachstellen nicht notwendigerweise gesamtbezogen auf das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen im Überstellungsstaat zu verstehen ist, sondern auch Teilbereiche hiervon erfasst sein können, die lediglich bestimmte Personengruppen betreffen (vgl. EuGH, U.v. 16.2.2017 – C-578/16 PPU – juris Rn. 70 ff. = NVwZ 2017, 691 ff. m. Anm. Hruschka; BVerwG, B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris Rn. 18). Andererseits kann auch die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verletzung von Art. 4 GRCh eine Überstellung im Sinn von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO unmöglich machen, wenn diese Rechtsverletzung nicht die Konsequenz aus der Existenz systemischer Schwachstellen im Überstellungsstaat ist (vgl. EuGH, U.v. 16.2.2017 – C-578/16 PPU – juris Rn. 91-95 = NVwZ 2017, 691/695 m. Anm. Hruschka). Der rechtliche Bezug zu Art. 4 GRCh setzt dabei in jedem Fall das Erreichen einer besonders hohen Erheblichkeitsschwelle voraus. Diese besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit ist (auch) erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass sich eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Bedürfnissen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen (vgl. BVerwG, B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris Rn. 18; EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 „Ibrahim“ u.a. – juris Rn. 89 ff. und C-163/17, „Jawo“ – juris Rn. 91 ff.).
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In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist dabei geklärt, dass es ungeachtet des europarechtlichen Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten sowohl verfassungsrechtlich als auch europa- und konventionsrechtlich geboten sein kann, dass sich die zuständigen Behörden und Gerichte vor der Rückführung eines Asylsuchenden in einen anderen Staat über die dortigen Verhältnisse informieren und gegebenenfalls Zusicherungen der zuständigen Behörden einholen müssen (vgl. BVerfG, B.v. 10.10.2019 – 2 BvR 1380/19 – juris Rn. 16 m.w.N.). Insoweit kann nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die gemäß Art. 6 Abs. 3 EUV, Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh im Dublin-Rechtskontext zu berücksichtigen ist, der Grundsatz des „mutual trust“ nicht im Sinn eines „blinden Vertrauens“ zur Rechtfertigung von Überstellungen zwischen EU-Mitgliedstaaten verstanden und auch nicht „schematisch“ bzw. „mechanisch“ angewandt werden (stRspr, vgl. EGMR, U.v. 21.9.2019 (GK) – I. und A./Ungarn, Nr. 47287/15 – HUDOC Rn. 141 m.w.N. = NVwZ 2020, 937/940; U.v. 23.5.2016 – Avotiņš/Litauen, Nr. 17502/07 = HUDOC Rn. 114-116 = NJOZ 2018, 1515/1519; U.v. 3.7.2014 – Mohammadi/Österreich, Nr. 71932/12 – HUDOC Rn. 60 = BeckRS 2014, 127908; U.v. 21.1.2011 (GK) – M.S.S./Belgien u. Griechenland, Nr. 30696/09 – HUDOC Rn. 342 ff. = NVwZ 2011, 413 ff.). Dass gegenseitiges Vertrauen nicht mit „blindem Vertrauen“ verwechselt werden darf, hat zuletzt auch die Generalanwältin im Verfahren C-753/22 vor dem Gerichtshof der Europäischen Union dargelegt (vgl. Schlussanträge vom 25.1.2024 – C-753/22 – BeckRS 2024, 688, Rn. 41). In der zitierten Entscheidung I. und A./Ungarn hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte unter Verweis auf das M.S.S.-Urteil nachdrücklich bekräftigt, dass der abschiebende Staat nicht einfach unterstellen könne, der Asylbewerber werde im Drittstaat unter Einhaltung von Konventionsgarantien behandelt, er müsse vielmehr zunächst selbst prüfen, wie die dortigen Behörden ihr Asylrecht in der Praxis anwenden (vgl. EGMR, U.v. 21.9.2019 (GK) – I. und A./Ungarn, Nr. 47287/15 – HUDOC Rn. 141 m.w.N. = NVwZ 2020, 937/940). Bei einer zutreffenden Handhabung der mit dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens einhergehenden Vermutungsregel ergeben sich insofern auch keine praktischen Unterschiede zwischen den Maßstäben des Gerichtshofs der Europäischen Union sowie des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (vgl. Lübbe, ʹ‘Systemic Flaws’ and Dublin Transfers: Incompatible Tests before the CJEU and the ECtHR?ʹ in International Journal of Refugee Law (27) 2015, 135/139).
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2. Gemessen an diesen rechtlichen Maßgaben ist vorliegend in Bezug auf Kroatien aufgrund regelhaft vorkommender Rechtsverstöße gegen das Recht auf Zugang zu einem Asylverfahren (Art. 6 RL 2013/32/EU), das Refoulement-Verbot sowie das Verbot der Kollektivausweisung das mitgliedstaatliche Vertrauen in rechtserheblicher Weise erschüttert und daher von Schwachstellen bzw. Mängeln auszugehen, die „systemisch“ sind (a). Diese sind auch in einer die Überstellung hindernden Weise im Sinn von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO beachtlich, da sie sich in überstellungsrelevanter Weise auf die Kläger auswirken bzw. mit der konkreten Gefährdung ihrer Rechte aus Art. 4 GRCh einhergehen (b).
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a) Die Kammer trifft ausweislich der in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel zunächst folgende tatsächliche und rechtliche Feststellungen zur allgemeinen abschiebungs- bzw. überstellungsrelevanten Lage in Kroatien und in Bosnien-Herzegowina:
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aa) Die Existenz sogenannter Pushback-Praktiken bzw. Kettenabschiebungen in bzw. ausgehend von Kroatien ist ein Problem, welches bereits seit einigen Jahren besteht und in der Rechts- und Gerichtspraxis kontrovers diskutiert wird. Kroatische Behörden leugnen die Existenz sogenannter Pushbacks in öffentlichen Erklärungen entweder per se oder rechtfertigen diese, wenn sich derartige Erklärungen als nicht haltbar erweisen, als „Umleitungs-“ oder „Abfangoperationen“ (vgl. European Center for Constitutional and Human Rights, Auskunft an das Verwaltungsgericht München vom 27.4.2023, S. 10 [im Folgenden: ECCHR-Auskunft]; eingehend zur Pushback-Problematik insgesamt: Human Rights Watch, „Like We Were Just Animals“ – Pushbacks of People Seeking Protection from Croatia to Bosnia and Herzegovina [Mai 2023], im Folgenden: HRW-Bericht; Report of the Special Rappoteur on the human rights of migrants, Felipe Gonzáles Morales: Human rights violations at international borders: trends, prevention and accountability [26.4.2022], UN Doc. A/HRC/50/31, Rn. 49 m.w.N.; CPT, Report to the Croatian Government on the visit to Croatia carried out by the European Committee for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treatment or Punishment from 10 to 14 August 2020 [veröffentlicht 3.12.2021], CPT/Inf 2021., Rn. 41 f.; Third Party Intervention by the Council of Europe Commissioner for Human Rights, No. 18810/19, 18865/19 and 23495/19, S.B. v. Croatia, A.A. v. Croatia and A.B. v. Croatia, Rn. 24; vgl. auch Raad van State, U.v. 13.4.2022 – 202104072/1/V3 = ECLI:NL:RVS:2022:1042, Rn. 3.2 m.w.N.). Die der Kammer zur Verfügung stehenden Erkenntnisse zeigen dabei, dass es dabei oftmals – entgegen anderweitiger verbreiteter Darstellung – nicht nur um Zurückschiebungsmaßnahmen an der Grenzlinie zu Bosnien-Herzegowina oder Serbien geht, sondern dass auch Geflüchtete betroffen waren, die tief im Landesinneren, teils sogar kurz vor der Grenze zu Slowenien aufgegriffen wurden (ECCHR-Auskunft, S. 10; Amnesty International, Auskunft an das Verwaltungsgericht München vom 20.9.2023, S. 9, jeweils m.w.N.).
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In Abgrenzung zu Pushback-Praktiken als solchen kommt sogenannten Kettenabschiebungen von Kroatien in die angrenzenden Drittstaaten (Bosnien-Herzegowina und Serbien) noch eine eigenständige Qualität zu. Hierbei handelt es sich um Abschiebungen von Ausländern in die genannten Drittstaaten durch Kroatien, nachdem diese vorher ihrerseits zunächst nach Kroatien von anderen EU-Staaten (konkret vor allem von Italien und Österreich zunächst über Slowenien, hauptsächlich aber direkt aus Slowenien) rücküberstellt wurden. So wird etwa für das Jahr 2021 davon berichtet, dass 9.114 Personen von Kroatien nach Bosnien-Herzegowina gelangt seien, wovon ein signifikanter Anteil Kettenabschiebungen gewesen sei (vgl. AIDA, Country Report Croatia, 2021, S. 24: „According to the Danish Refugee Council [DRC], 9,114 persons have been pushed back from Croatia to Bosnia and Herzegovina [BiH] in 2021, including vulnerable categories […] out of which a significant number of individuals were subject to chain refoulement“; vgl. eingehend und ausführlich auch HRW-Bericht, S. 66 ff.; Third Party Intervention by the Council of Europe Commissioner for Human Rights, No. 18810/19, 18865/19 and 23495/19, S.B. v. Croatia, A.A. v. Croatia and A.B. v. Croatia, Rn. 16). In dieses tatsächliche Bild fügt sich dabei der Umstand ein, dass die kroatische Polizei nach Ankunft der Betroffenen in Kroatien in zahlreichen Fällen deren Asylgesuche ignoriert hat und sie dennoch über die Grenze nach Bosnien-Herzegowina gebracht hat (vgl. HRW-Bericht, Summary, S. 54; vgl. auch AIDA, Country Report Croatia, Update 2022 [26.6.2023], S. 27: „[v]ictims of pushback cases being denied access to the asylum procedure in 2022.“; CPT, a.a.O., Rn. 42). In anderen Fällen sollen kroatische Polizisten vor einer Abschiebung nach Bosnien-Herzegowina auf die entsprechenden Asylgesuche von Betroffenen mit rassistischen Beleidigungen reagiert haben (vgl. HRW-Bericht, a.a.O., „stupid Africans“), in einem Fall einer unerlaubten Einreise aus Serbien mit der Androhung einer mindestens 1-jährigen Inhaftierung im Fall der Stellung eines Asylantrags (vgl. das „Case Sheet“ zum vor dem EGMR anhängigen Verfahren Y.K./Kroatien, Nr. 38776/21, abrufbar unter https://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-214590).
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Der rechtliche Hintergrund derartiger Kettenabschiebungen liegt im Völkerrecht und erfolgte aufgrund bilateraler Rückübernahmeabkommen (bilateral readmission agreements) der jeweiligen Staaten. So haben etwa sowohl Italien und Slowenien, Slowenien und Kroatien, als auch Kroatien mit Bosnien-Herzegowina und Serbien derartige bilaterale Rückübernahmeabkommen geschlossen. Nachdem die genannten Kettenabschiebungen verstärkt in die öffentliche Kritik gerieten und insbesondere auch italienische Gerichte Rückführungen nach Slowenien nach dem entsprechenden Rückübernahmeabkommen aussetzten, wurde der Vollzug des italienisch-slowenischen Rückübernahmeabkommens von Italien suspendiert. Kroatien lässt aktuell zunehmend keine Rückübernahmen nach dem mit Slowenien geschlossenen Rückübernahmeabkommen mehr zu (vgl. HRW-Bericht, S. 67 f.).
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Das Rückübernahmeabkommen zwischen Kroatien und Bosnien-Herzegowina, das in Kroatien mit dem „Gesetz über die Bestätigung des Abkommens zwischen der Regierung der Republik Kroatien und dem Ministerrat von Bosnien und Herzegowina über die Übergabe und Annahme von Personen, deren Einreise oder Aufenthalt illegal ist“ (verkündet am 12.7.2011 – siehe zum Original-Text: https://....html) in Kraft trat, kam erstmals in der zweiten Hälfte des Jahres 2021 zur Anwendung (vgl. HRW-Bericht, S. 71). Da es sich dabei um einen völkerrechtlichen Vertrag handelt, bei dem Deutschland nicht Vertragspartei ist, handelt es sich um fremdes Recht, welches im vorliegenden Verfahren gemäß § 173 VwGO i.V.m. § 293 Satz 1 ZPO auf Tatsachenebene zu berücksichtigen ist (vgl. allg. dazu BVerwG, B.v. 5.3.2018 – 1 B 155.17 – juris Rn. 4; U.v. 19.7.2012 – 10 C 2.12 – juris Rn. 14). Anders als bei rein informellen Übernahmen, die außerhalb jeglicher prozeduraler Rahmen geschehen, sieht dieses Abkommen in mehrfacher Hinsicht gegenseitige Verwaltungskooperation bei Rückübernahmen vor. So ist etwa nach Art. 9 des Abkommens vorgesehen, dass sich die zuständigen Behörden der Vertragsparteien über die für die Durchfuhr relevanten Tatsachen unterrichten. Nach Art. 10 Abs. 2 des Abkommens ist es möglich, dass die Beamten des ersuchenden Vertragsstaats im Hoheitsgebiet des ersuchten Vertragsstaats tätig werden können, wobei sie sich bei der Durchführung des Abkommens nach den Rechtsvorschriften des ersuchten Vertragsstaats zu verhalten haben. Gemäß Art. 2 Abs. 1 des Abkommens nimmt jede Vertragspartei auf Ersuchen der anderen Vertragspartei einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in ihr Hoheitsgebiet auf, der die im Hoheitsgebiet der ersuchenden Vertragspartei geltenden Einreise- oder Aufenthaltsvoraussetzungen nicht oder nicht mehr erfüllt, wenn festgestellt wurde oder vernünftigerweise angenommen werden kann, dass diese Person unmittelbar nach dem Aufenthalt oder der Durchquerung des Hoheitsgebiets der ersuchten Vertragspartei in das Hoheitsgebiet dieser Vertragspartei eingereist ist. Die Aufnahmepflicht besteht gemäß Art. 3 Buchst. e des Abkommens nicht, wenn die ersuchende Vertragspartei hinsichtlich des Drittstaatsangehörigen das Verfahren zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bis zur endgültigen Entscheidung eingeleitet hat.
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Die der Kammer vorliegenden Erkenntnisse zur Vollzugspraxis (vgl. dazu Art. 31 Abs. 3 Buchst. b Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK) i.d.F. d. Gesetzes vom 3.8.1985 – BGBl. 1985 II S. 926) des Abkommens zwischen Kroatien und Bosnien-Herzegowina deuten darauf hin, dass die praktische Bedeutung dieses Abkommens in der jüngeren Zeit stark gestiegen ist. Aus einer Pressemitteilung des B. V. M. N. (BVMN) vom 31. März 2023 mit dem Titel „Croatia carries out mass deportations of people on the move to Bosnia and Herzegovina“ geht hervor, dass eine neue und besorgniserregende Praxis der kroatischen Polizei dahingehend festzustellen sei, Geflüchtete in ganz Kroatien zusammentreiben und teilweise in kellerähnlichen Verliesen ohne Zugang zu Wasser und Essen zu inhaftieren, wo ihnen Ausweisungsbescheide nach Bosnien-Herzegowina ausgehändigt würden. Dagegen gebe es keine Möglichkeit, Rechtsbehelfe zu ergreifen oder Kontakt zu einem Rechtsbeistand aufzunehmen. Die Betroffenen würden massenweise in Bussen zu Grenzübergängen nach Bosnien-Herzegowina gefahren, wo sie den dortigen Beamten übergeben würden. In Medienberichten wird dazu ausgeführt, dass diese Vorgänge verstärkt auf den Vollzug des bilateralen Abkommens zwischen Kroatien und Bosnien-Herzegowina zurückgingen (vgl. T. Siviero/A. Kurtic/ V. Tesija, „Migrants‘ Mass Expulsions from Croatia Raise Legal Doubts“, abrufbar unter: https://balkaninsight.com/2023/05/05/migrants-mass-expulsions-from-croatia-raise-legal-doubts/ [5.5.2023]). Diese verstärkten Rückführungen nach dem Rückübernahmeabkommen haben aber auch in Bosnien-Herzegowina teils zu Verärgerung seitens der dortigen Behörden geführt, weil viele der Rückgeführten unbekannt seien und in ein Haftzentrum geführt worden seien, von dem sie nichts gewusst hätten (https://....-pm/ [6.4.2023]).
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Im Bericht „Keep on Moving the Balkan Route: No quarter for Afghan asylum seekers in Croatia and Serbia“ vom 26. September 2023 wird ausgeführt, dass im Jahr 2022 etwa 30.000 sogenannte „7-Tage-Papiere“ an Geflüchtete von der kroatischen Polizei ausgestellt worden seien, die formal mit dem Begriff „return decision“ überschrieben seien (vgl. dazu auch AIDA, Country Report Croatia, Update 2022 [26.6.2023], S. 27). Diese Praxis würde nach Berichten ohne ein klares Muster andauern und überlasse betroffene Migranten letztlich einem ungewissen Schicksal. Die Rückkehrentscheidung könne es faktisch entweder ermöglichen, weiterzureisen, oder in Haft genommen zu werden und nach Bosnien-Herzegowina zurückgewiesen zu werden. Eine dritte Variante, die aktuell (d.h. im Jahr 2023) verstärkt zur Anwendung komme, sei eine formale Ausweisungsverfügung nach Bosnien-Herzegowina, was dazu führe, dass die betroffene Person formell von Bosnien-Herzegowina wiederaufgenommen würde. Die Betroffenen würden in so einem Fall der Polizei von Bosnien-Herzegowina übergeben. Dieses formale Ausweisungsprozedere sei selbst im Fall einer Asylantragstellung geschehen. Manchen Geflüchteten gelänge es jedoch, Zugang zu einem Asylverfahren in Kroatien zu bekommen, woraufhin diese an das entsprechende Aufnahmezentrum weitergeleitet würden.
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Das kroatische Asylrecht, welches die Kammer ebenfalls als Tatsache in das Verfahren eingeführt hat (§ 173 VwGO i.V.m. § 293 Satz 1 ZPO) und wie die vorgenannten völkerrechtlichen Abkommen mit einem KI-Tool hat übersetzen lassen, enthält nach dem Gesetz über den internationalen Schutz und den vorübergehenden Schutz (abrufbar unter https://www.zakon.hr/z/798/Zakon-o-me%C4%91unarodnoj-i-privremenoj-za%C5%A1titi) folgenden Regelungen zu sicheren Drittstaaten:
Ablehnung eines Antrags oder eines Folgeantrags
(1) Das Ministerium erlässt einen Bescheid über die Ablehnung des Antrags, wenn
3. es möglich ist, das Institut eines sicheren Drittstaats gemäß Artikel 45 dieses Gesetzes zu beantragen.
4. es möglich ist, das Institut eines sicheren europäischen Drittstaats gemäß Art. 46 dieses Gesetzes zu beantragen.
(1) Ein sicherer Drittstaat ist ein Staat, in dem der Antragsteller vor Verfolgung nach Artikel 20 oder der Gefahr eines ernsthaften Schadens nach Artikel 21 dieses Gesetzes sicher ist und in dem er die sich aus Artikel 6 dieses Gesetzes ergebenden Vorrechte genießt und die Möglichkeit hat, Zugang zu einem wirksamen Verfahren zur Gewährung von Schutz nach dem Übereinkommen von 1951 zu erhalten.
(2) Ob die Voraussetzungen für die Beantragung des Instituts für sichere Drittstaaten erfüllt sind, wird für jeden Antrag gesondert festgestellt, wobei unter Berücksichtigung aller Tatsachen und Umstände seines Antrags geprüft wird, ob ein Staat in die Absatz 1 dieses Artikels genannten Voraussetzungen erfüllt und ob zwischen diesem Staat und dem Antragsteller eine Verbindung besteht, aufgrund derer vernünftigerweise erwartet werden kann, er dort internationalen Schutz beantragt.
(3) Der Antragsteller wird rechtzeitig über den Antrag des Instituts für sicherer Drittstaaten unterrichtet, damit er ihn in Bezug auf die Absätze 1 und 2 dieses Artikels in Bezug auf die Besonderheiten seiner persönlichen Umstände anfechten kann.
(4) Das Ministerium stellt dem Antragsteller, dessen Antrag gemäß § 43 Abs. 1 Nr. 3 dieses Gesetzes abgelehnt wurde, eine Bescheinigung in der Sprache eines sicheren Drittstaats aus, aus der hervorgeht, dass die zuständigen staatlichen Behörden dieses Staates darüber informiert wurden, dass die Begründetheit seines Antrags in der Republik Kroatien nicht geprüft werde.
(5) Lehnt ein sicherer Drittstaat die Aufnahme eines Ausländers ab, so wird über die Begründetheit des Antrags nach den Vorschriften dieses Gesetzes entschieden.
(6) Das Ministerium unterrichtet die Europäische Kommission regelmäßig über die Länder, für die das Institut sichere Drittstaat beantragt wurde.
Europäischer sicherer Drittstaat
(1) Ein europäischer sicherer Drittstaat ist ein Staat, der die Bestimmungen des Übereinkommens von 1951 und der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließlich die Normen für einen wirksamen Rechtsbehelf, ratifiziert hat und anwendet und ein wirksames Verfahren für die Gewährung von Schutz nach dem Übereinkommen von 1951 eingeführt hat.
(2) Ob die Voraussetzungen für den Antrag des Europäischen Instituts für sichere Drittstaaten erfüllt sind, wird für jeden Antrag festgestellt, wobei gesondert bewertet wird, ob ein Land die in Absatz 1 dieses Artikels genannten Bedingungen erfüllt.
(3) Der Antrag des Antragstellers, der aus einem sicheren europäischen Drittstaat illegal in das Hoheitsgebiet der Republik Kroatien eingereist ist, wird gemäß Art. 43 Absatz 1 Nummer 4 dieses Gesetzes unter Berücksichtigung der Einhaltung der in Artikel 6 dieses Gesetzes genannten Grundsätze und besonderer Umstände humanitären oder politischen Charakters sowie der Regeln des Völkerrechts abgelehnt.
(4) Der Antragsteller wird rechtzeitig über den Antrag des Europäischen Instituts für sichere Drittstaaten unterrichtet, damit er ihn unter Berücksichtigung seiner persönlichen Umstände in Bezug auf Absatz 1 dieses Artikels anfechten kann.
(5) Das Ministerium stellt dem Antragsteller, dessen Antrag gemäß § 43 Abs. 1 Nr. 4 dieses Gesetzes abgelehnt wurde, eine Bescheinigung in der Sprache eines sicherer europäischen Drittstaats aus, aus der hervorgeht, dass die Begründetheit des konkreten Antrags in der Republik Kroatien nicht geprüft wurde.
(6) Das Ministerium unterrichtet die Europäische Kommission regelmäßig über die Länder, für das Europäische Institut für sichere Drittstaaten beantragt wurde.
28
Aus der Erkenntnismittellage geht hervor, dass das kroatische Innenministerium wenigstens zeitweise Serbien als sicheren Drittstaat im Sinn von Art. 45 des Gesetzes über den vorübergehenden Schutz und internationalen Schutz (vgl. auch Art. 38 RL 2013/32/EU) betrachtet haben muss. Im März 2021 wurde bekannt, dass das Verfassungsgericht Kroatiens eine Entscheidung des Innenministeriums im Fall einer afghanischen Familie, Serbien sei ein sicherer Drittstaat, aufgehoben hat, nachdem die Vorinstanzen noch die Entscheidungen des Ministeriums bestätigt hatten (vgl. AIDA, Safe Third Country, Croatia [Stand 26.6.2023]). Ungeachtet dessen kam es dennoch im zeitlichen Nachgang zu der Entscheidung des Verfassungsgerichts Kroatiens in zahlreichen Fällen auch zu Abschiebungen von Kroatien nach Serbien (vgl. HRW-Bericht, S. 20, S. 70). Die Kammer geht angesichts anhaltender Abschiebungen von Kroatien (auch) nach Serbien davon aus, dass sich die allgemeine Lageeinschätzung des serbischen Staates als „sicher“ durch Kroatien ungeachtet der Entscheidung des Verfassungsgerichts nicht geändert hat. Dies gilt unabhängig davon, ob die Bewertung Serbiens als „sicher“ durch Kroatien im Rahmen einer Asylentscheidung oder im Rahmen einer Zurückweisungsentscheidung (die europarechtlich unter die RL 2008/115/EG subsumiert werden müsste) erfolgt. Denn mit den nach wie vor stattfindenden Abschiebungen nach Serbien bringt Kroatien zum Ausdruck, dass Serbien entweder im Sinn des sicheren Drittstaatsprinzips „sicher“ sei (vgl. Art. 38 Abs. 1 RL 2013/32/EU) bzw. auch als Rückkehrentscheidung (vgl. Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Nr. 3 Zweiter Spiegelstrich, Nr. 4 RL 2008/115/EG) mit den Grundsätzen des Gebots der Nicht-Zurückweisung vereinbar sei (vgl. Art. 5 RL 2008/115/EG).
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Die Kammer geht nach der Erkenntnismittellage davon aus, dass die beschriebenen Kettenabschiebungen von Kroatien nach Bosnien-Herzegowina und Serbien ihren rechtlichen Hintergrund in der Einordnung beider Staaten als „sicher“ haben (gemeint sowohl im Hinblick auf die Einordnung als sichere [europäische] Drittstaaten als auch im Hinblick auf Art. 5 RL 2008/115/EG). Die Kammer interpretiert insbesondere die vom B. V. M. N. geschilderten „Massenausweisungen“ (mass expulsions) nach Bosnien-Herzegowina dahingehend, dass es sich um den Vollzug entweder von ablehnenden Asylentscheidungen gemäß Art. 46 des Kroatischen Gesetzes über den vorübergehenden und internationalen Schutz oder um den Vollzug von Rückkehrentscheidungen gemäß den Vorschriften des kroatischen Ausländergesetzes handeln muss. Der korrespondierende europarechtliche Hintergrund liegt hierbei jeweils in Art. 33 Abs. 2 Buchst. c, Art. 39 Abs. 1 RL 2013/32/EU bzw. Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Nr. 4, Nr. 3 Zweiter Spiegelstrich RL 2008/115/EG. Art. 39 Abs. 1 RL 2013/32/EU sieht dabei ausdrücklich die Möglichkeit vor, dass sogar gar keine Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz stattfinden muss, wenn eine Abschiebung in einen sicheren europäischen Drittstaat erfolgen soll (wobei sowohl nach kroatischem Recht als auch gemäß Art. 39 Abs. 3 und Abs. 4 RL 2013/32/EU die Einhaltung der genannten Garantien gewährleistet sein muss). In europarechtlicher Hinsicht dürfte Bosnien-Herzegowina formal als sicherer europäischer Drittstaat einzustufen sein, da es sowohl die Genfer Flüchtlingskonvention ohne geografischen Vorbehalt ratifiziert hat und deren Bestimmungen (wohl jedenfalls grundsätzlich) einhält, über ein gesetzlich festgelegtes Asylverfahren verfügt und die Europäische Menschenrechtskonvention ratifiziert hat und deren Bestimmungen (wohl jedenfalls grundsätzlich) einhält (vgl. Art. 39 Abs. 2 RL 2013/32/EU). In diesem Sinn weisen hinsichtlich der Beendigung des Aufenthalts sowohl die Befugnis nach Art. 39 Abs. 1 RL 2013/32/EU als auch der Erlass einer Rückkehrentscheidung in einen Transitstaat gemäß Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Nr. 4, Nr. 3 Zweiter Spiegelstrich RL 2008/115/EG erhebliche Parallelen auf, da es in der Sache um die Abschiebung aus einen EU-Staat (Kroatien) in einen Durchgangs- bzw. Transitstaat geht (was bei Bosnien-Herzegowina und Serbien in der Realität der Fall ist), ohne überhaupt ein Asylverfahren einzuleiten. Insofern hält die Kammer die diesbezüglichen Ausführungen im Bericht von Amnesty International Deutschland an die Kammer, dass kroatische Behörden beim Zusammentreiben größerer Gruppen von Geflüchteten und deren kollektiver Ausweisung nicht nach Aufenthaltsstatus oder Verfahrensausgang differenzieren, in der Sache für belastbar und schlüssig. Wie oben ausgeführt, gibt es in Kroatien durch die dortige Polizei eine gefestigte Praxis, entweder auf Asylgesuche von Betroffenen gar nicht oder mit Beleidigungen und Drohungen zu reagieren, die ausschließlich darauf angelegt sein dürfte, den Zugang zu einem Asylverfahren mit den entsprechenden Verfahrensgarantien (insbesondere Art. 9 Abs. 1 Satz 1 RL 2013/32/EU) zu verhindern, um so auf vereinfachten Weg eine Rückkehrentscheidung im Sinn der RL 2008/115/EG erlassen zu können. Auf das im wesentlichen gleiche Ergebnis liefe im gleichen Zug die Nichtbeachtung eines Asylgesuchs durch die dortigen Behörden gemäß Art. 39 Abs. 1 RL 2013/32/EU oder eine vorhergehende Ablehnungsentscheidung gemäß Art. 46 des kroatischen Gesetzes über den internationalen Schutz und den vorübergehenden Schutz hinaus.
30
Die Kammer geht insofern davon aus, dass stattfindende Rückführungen nach Bosnien-Herzegowina und Serbien die allgemeine rechtspolitische Bestrebung Kroatiens widerspiegeln, auf der sogenannten „Balkan-Route“ stattfindende irreguläre Migration auf sein Territorium mit allen (und damit auch rechtswidrigen) Mitteln einzudämmen und bestrebt ist, seine europarechtliche Verantwortung nach dem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (insbesondere der RL 2013/32/EU und RL 2013/33/EU) auf die angrenzenden Drittstaaten Bosnien-Herzegowina und Serbien so weit wie möglich faktisch zu „externalisieren“. Kroatien ist von irregulärer Migration auf der sogenannten „Balkan-Route“ in erheblichem Umfang betroffen und hat insofern ein erhebliches (rechtspolitisches) Interesse daran, sich selbst mit der zuletzt massenweisen Abschiebung von Geflüchteten in diese Drittstaaten zu „entlasten“ (vgl. allg. zu diesem rechtspolitischen Umstand: Guiffré, The Readmission of Asylum Seekers under International Law [Hart Publishing, 2020], S. 174 f.). Da Griechenland aufgrund struktureller Vollzugsprobleme in der Umsetzung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, insbesondere in der richtlinienkonformen Unterbringung von Asylsuchenden als Dublin-Zielstaat für Rückführungen seit geraumer Zeit ausfällt (vgl. dazu bereits EGMR, U.v. 21.1.2011 (GK) – M.S.S./Belgien u. Griechenland, Nr. 30696/09 – HUDOC = NVwZ 2011, 413 ff.), ist Kroatien als zuständiger Mitgliedstaat faktisch umso stärker von der irregulären Einwanderung von Migranten betroffen, da (auch) ihm Überstellungen nach Griechenland infolge systemischer Mängel in den dortigen Aufnahmebedingungen nicht möglich sein dürften (vgl. allg. zu den Aufnahmebedingungen in Griechenland: VG München, B.v. 4.5.2021 – M 22 E 21.30294 – juris Rn. 101 m.w.N.).
31
Die Kammer hat dabei die Überzeugung, dass die bilateralen Rückübernahmeabkommen zwischen Kroatien und Bosnien-Herzegowina und Serbien eine essentielle Bedeutung in der praktischen Umsetzung der nationalen Drittstaatenregelungen Kroatiens haben. Die wechselseitige Bedeutung von völkerrechtlichen Rückübernahmeabkommen und der Anwendung des sicheren Drittstaatsprinzips (und umgekehrt) ist dabei im Allgemeinen mit Blick auf die Staatenpraxis relativ gut erforscht. Anhand der Staatenpraxis vieler Staaten lässt sich generell festhalten, dass sich der Grundgedanke des sicheren Drittstaatsprinzips nur dann praktisch verwirklichen lässt, wenn der Vollzug einer entsprechenden Entscheidung ohne praktische Hürden gelingt (vgl. ausführlich und eingehend: Guiffré, The Readmission of Asylum Seekers under International Law [Hart Publishing, 2020]; S. 151 ff., S. 187; Hurwitz, ʹSafe Third Country Practices, Readmission, and Extraterritorial Processingʹ, in Dies., The Collective Responsibility of States to Protect Refugees [Oxford University Press, 2009], S. 67; Majcher, The European Union Returns Directive and Its Compatibility with International Human Rights law [Brill, 2020], Kapitel 13 [„Removal to a Transit Country Based on Readmission Agreements“], S. 645). Während ein völkerrechtliches Rückübernahmeabkommen selbst nicht regelt, unter welchen Voraussetzungen ein Asylantrag abgelehnt werden kann, ist es auf der anderen Seite unerlässlich, damit im Weg der zwischenstaatlichen Behördenkooperation die Modalitäten von Abschiebungen bzw. Überstellungen zu regeln. Anders ausgedrückt, sind nationale Drittstaatenregelungen in praktischer Hinsicht im Wesentlichen „nutzlos“ bzw. ohne praktische Bedeutung, wenn es kein zwischenstaatlich geregeltes Verfahren gibt, dass den Vollzug einer Drittstaatenentscheidung durch den ersuchenden Staat ermöglicht (vgl. Caron, ʹRefugees, Readmission Agreements, “Safe” Third Countries: A Recipe for Refoulement?ʹ in Journal of Regional Security 2017, 27/36). Spiegelbildlich hierzu haben völkerrechtliche bilaterale Rückübernahmeabkommen, die als essentielles rechtliches und rechtspolitisches Instrument zur Reduzierung irregulärer Fluchtmigration an den EU-Außengrenzen fungieren (sollen), keine große praktische Bedeutung bzw. werden ebenso weitgehend „nutzlos“, wenn Bereichsausnahmen wie in Art. 3 Buchst. e des bilateralen Abkommens zwischen Kroatien und Bosnien-Herzegowina zum tatbestandlichen Regelfall werden. Kontrastierend hierzu stellt sich insofern der Vollzug der Dublin III-VO mit klar definierten Zuständigkeitsregeln einschließlich der geregelten Aufnahme- bzw. Wiederaufnahmepflichten des zuständigen Mitgliedstaats dar. Hinsichtlich der Verfahrensmodalitäten regelt sie überdies die entsprechende Kooperation der Verwaltungsbehörden des ersuchenden und ersuchten Mitgliedstaats, die durch die VO (EU) 603/2013 (EURODAC-VO) flankiert wird. Da diese EU-Verordnungen auf Drittstaaten wie Bosnien-Herzegowina oder Serbien keine Anwendung finden, kann der praktische Vollzug einer Entscheidung gemäß Art. 38 oder Art. 39 RL 2013/32/EU bzw. gemäß Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Nr. 4, Nr. 3 Zweiter Spiegelstrich RL 2008/115/EG nur gemäß den Modalitäten und Pflichten eines völkerrechtlichen Rückübernahmeabkommens mit dem Drittstaat erfolgen. Insofern dürfte auf EU-Ebene schließlich auch die Existenz des Abkommens vom 19. Dezember 2007 zwischen der Europäischen Gemeinschaft und Bosnien und Herzegowina über die Rücknahme von Personen mit unbefugtem Aufenthalt (ABl. EG L 334/67) zu erklären sein. Dessen Art. 3 Buchst. b sieht vor, dass Bosnien-Herzegowina auf Ersuchen eines Mitgliedstaats Drittstaatsangehörige zurücknimmt, sofern diese nach einem Aufenthalt im Hoheitsgebiet Bosnien-Herzegowinas oder nach einer Durchreise in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats illegal und auf direkten Weg eingereist sind.
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Zur Überzeugung der Kammer hat Kroatien vor diesen rechtlichen Hintergründen ein erhebliches Interesse daran, dass hinsichtlich irregulär Eingereisten aus Bosnien-Herzegowina der reibungslose Vollzug völkerrechtlicher Rückübernahmeabkommen (sowohl bilateral als EU-Abkommen) sichergestellt ist. Hinsichtlich des bilateralen Rückübernahmeabkommens zwischen Kroatien und Bosnien-Herzegowina (welches in der Praxis anstelle des EU-Abkommens vom 19.12.2007 zur Anwendung kommt) hat Kroatien dabei zusätzlich ein erhebliches Interesse daran, die Häufigkeit des tatbestandlichen Eintritts der Anwendungsbereichsausnahme in Art. 3 Buchst. e so gering wie möglich zu halten. Insofern dürfte dies auch die gezielte Missachtung der kroatischen Polizei von denjenigen Asylgesuchen zu erklären sein, bei denen Bosnien-Herzegowina vorher als Transitland durchquert wurde. Im gleichen Zug hält es die Kammer für wahrscheinlich, dass die Grenzbeamten von Bosnien-Herzegowina von der kroatischen Seite nicht über anhängige Asylverfahren in Kroatien informiert wurden bzw. werden. Anders dürfte die Tatsache, dass selbst Asylsuchende trotz geäußerter Asylgesuche von Kroatien nach Bosnien-Herzegowina kollektiv ausgewiesen wurden, nicht zu erklären sein, da anderenfalls Bosnien-Herzegowina deren Rückübernahme unter Verweis auf Art. 3 Buchst. e des Abkommens wohl abgelehnt hätte.
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Ungeachtet des formalen Vorliegens der tatbestandlichen Voraussetzungen eines sicheren europäischen Drittstaats in Art. 39 Abs. 2 RL 2013/32/EU entnimmt die Kammer den Erkenntnismitteln, dass sich die allgemeine abschiebungsrelevante Lage für Drittstaatsangehörige in Bosnien-Herzegowina als prekär darstellt und durchgreifende Bedenken dahingehend bestehen, dass diese dort ihre elementaren menschlichen Bedürfnisse im Sinn der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – C 297/17 „Ibrahim“ u.a. – juris Rn. 89 ff. und C-163/17, „Jawo“ – juris Rn. 91 ff.) befriedigen können. So geht bereits aus einem anhängigen Individualbeschwerdeverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte der Vorwurf hervor, dass Kroatien nicht nur mit der Abschiebung als solche gegen Art. 3 EMRK verstoßen habe, sondern auch, dass die Beschwerdeführer dort „grässlichen Lebensbedingungen“ („dire living conditions“) und einem dysfunktionalen Asylsystem ausgesetzt gewesen seien (S.B. u.a./Kroatien, Nr. 18810/19, veröffentlicht am 25.5.2020, abrufbar unter: https://....int/eng?i=001-202733). In einem Arbeitspapier der Europäischen Kommission vom 12. Oktober 2022 wird ausgeführt, dass die institutionellen Rahmenbedingungen und die Gesetzgebung im Asylbereich im Allgemeinen dem EU acquis entsprechen würden. Aus diesem Papier geht ebenso hervor, dass Bosnien-Herzegowina bilaterale Rückübernahmeabkommen unter anderem mit seinen Nachbarstaaten Serbien und Montenegro geschlossen hat (vgl. European Commission, Bosnia and Herzegovina 2022 Report – Commission Staff Working Document, S. 47). Im gleichen Zug wird jedoch bemerkt, dass Bosnien-Herzegowina immer noch kein ausreichendes Migrationsmanagement für seine Aufnahmeeinrichtungen erkennen lasse. Trotz anhaltender Unterstützung der Europäischen Union fehle es auf allen Ebenen an Koordination und Verantwortungsverteilung bei der Aufnahme von Asylsuchenden und Migranten im gesamten Land. Signifikante institutionelle und koordinationsmäßige Schwächen seien in dem gesamten Bereich noch vorhanden. Das Fehlen politischer Verantwortung in diesem Bereich mache es schwierig, ausreichende Unterstützung anzubieten (vgl. European Commission, a.a.O., S. 45). Das Land müsse ausreichende humanitäre Versorgung und Schutz für Asylsuchende (einschließlich Unterbringung, Essen und medizinische Unterstützung) und einen effektiven Zugang zum Asylsystem für Asylsuchende auf seinem Territorium seit 2018 gewährleisten (vgl. European Commission, a.a.O., S. 37). Die Einschätzung im Arbeitspapier der Europäischen Kommission vom 12. Oktober 2022 deckt sich im Wesentlichen mit den früheren Beobachtungen der Menschenrechtskommissarin des Europarats. In einer Interventionserklärung gemäß Art. 36 Abs. 3 EMRK im (anhängigen) Individualbeschwerdeverfahren S.B. u.a./Kroatien (Nr. 18810/19, 18865/19 und 23495/19 – https://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-202733) vom 22. Dezember 2020 (CommDH2020.33) hat die Menschenrechtskommissarin des Europarats ausgeführt, dass es in Bosnien-Herzegowina schwerwiegende Hürden für Asylsuchende gebe, Zugang zu einer angemessenen Unterkunft zu bekommen. Die Menschenrechtskommissarin drücke ihre Besorgnis darüber aus, dass viele Geflüchtete bzw. Migranten, darunter Familien mit Kindern, auf der Straße schlafen würden und keinen regelmäßigen Zugang zu Essen hätten (vgl. Third Party Intervention by the Council of Europe Commissioner for Human Rights, No. 18810/19, 18865/19 and 23495/19, S.B. v. Croatia, A.A. v. Croatia and A.B. v. Croatia, Rn. 35). Ein Vergleich der Stellungnahmen der Menschenrechtskommissarin bzw. des Arbeitspapiers der Europäischen Kommission lassen erkennen, dass sich die allgemeine abschiebungsrelevante Lage für Drittstaatsangehörige in Bosnien-Herzegowina, soweit es um die Befriedigung elementarer menschlicher Bedürfnisse geht, zwischen Dezember 2019 und dem Jahr 2022 nicht signifikant verbessert hat (vgl. ergänzend auch US Department of State, 2022 Country Reports on Human Rights Practices: Bosnia and Herzegovina: „[A]ccommodation in any of the reception centers was contingent on possession of this attestation document. This created a severe backlog in the asylum system, which has no mechanisms for identifying and prioritizing those with protection needs […]“).
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Nach den der Kammer zugrundeliegenden Erkenntnismitteln gehen die beschriebenen kollektiven Ausweisungen nach Bosnien-Herzegowina oder Serbien oftmals mit brutalen Gewalthandlungen gegenüber Geflüchteten bzw. deren Eigentum einher (vgl. dazu CPT, a.a.O., Rn. 15 ff.; OHCHR [19.6.2020], „Police brutality in migrant pushback operations must be investigated and sanctioned – UN Special Rappoteurs“; Schweizerische Flüchtlingshilfe [SFH] vom 13.9.2022, Polizeigewalt in Bulgarien und Kroatien: Konsequenzen für Dublin-Überstellungen, S. 7 ff.). Ein häufig anzutreffender Vorwurf gegenüber kroatischen Polizeibeamten ist die Zerstörung von Mobiltelefonen, etwa um Beweismittel bezüglich begangenen strafrechtlichen Unrechts zu beseitigen, aber etwa auch das Verbrennen der Kleidung von Betroffenen, um diese sodann vollständig nackt über mehrere Kilometer zur Grenze zu treiben (vgl. etwa AIDA, Country Report Croatia, Update 2022 [26.6.2023], S. 26; CPT, a.a.O., Rn. 30). Nach den in das Verfahren eingeführten Berichten von AIDA, des CPT sowie der eingeholten Auskünfte von Amnesty International und des ECCHR samt den dort angegebenen weiteren Fundstellen lassen sich dabei bestimmte gleichförmige Verhaltensmuster der kroatischen Polizei erkennen, die hinsichtlich ihrer Intensität nach Einschätzung des CPT teilweise die Einordnung als Folter nahelegen (vgl. etwa: Fesselung von Aufgegriffenen an Bäumen und gleichzeitiger Abgabe von Schüssen in ihre Richtung, Einreiben von frisch zugefügten Wunden mit Essig, Einsatz von Elektroschocks und harten Gegenständen wie Gewehrkolben oder Holzlatten, erzwungene Flussüberquerungen mit verschlossenen Händen). Die Kammer weiß zudem aus zahlreichen anhängigen weiteren Dublin-Verfahren zum Mitgliedstaat Kroatien vom wiederkehrenden Vorwurf Betroffener, nach dem Aufgriff durch kroatische Polizisten zunächst für um die 24 Stunden in überfüllte Haftzellen gebracht worden zu sein, ohne in dieser Zeit trotz ausdrücklicher Bitte etwas zu trinken oder ausreichend zu essen bekommen. Für die Kammer hat sich anhand der geschilderten zahlreichen Fälle ein Gesamtbild dergestalt ergeben, dass kroatische Polizisten offenbar bestrebt waren und sind, durch den Entzug elementarer menschlicher Grundbedürfnisse wie das Vorenthalten von Wasser für einen Zeitraum für bis zu 24 Stunden bestimmte (Rechts-)Handlungen von Betroffenen abzupressen. Rechtsförmige bzw. rechtsstaatliche Möglichkeiten, sich in Kroatien gegen derartige Behandlungen durch die Polizei (nachträglich) in effektiver Weise zur Wehr zu setzen, bestehen nach den von der Kammer eingeholten Auskünften des ECCHR bzw. Amnesty International Deutschland, die sich die Kammer insoweit zu eigen macht, nicht. Wie das ECCHR in seiner Auskunft an die Kammer mit Recht ausführt, setzen wirksame Rechtsschutzmöglichkeiten nach erlittener Polizeigewalt – sei es im Rahmen sogenannter Pushbacks, aber auch losgelöst davon – eine rasche, gründliche und unabhängige strafrechtliche Ermittlung und anschließende Strafverfolgung der Beschuldigten voraus. Die Kammer teilt die Einschätzung in diesem Bericht insoweit, dass es wenigstens aufgrund struktureller Defizite im Bereich der Strafverfolgung nicht zu strafgerichtlichen Verfahren gekommen ist und damit ein de facto etabliertes System der Impunität für kroatische Polizisten hinsichtlich Straftaten gegenüber Geflüchteten besteht (in diese Richtung auch ausdrücklich CPT, a.a.O., Rn. 29). Das CPT führt in diesem Zusammenhang an, dass es keine wirksamen Mechanismen zur Identifizierung der Täter von mutmaßlichen Misshandlungen gibt. In einem Medien-Bericht wird im Übrigen erwähnt, dass kroatische Polizisten selbst gegenüber Mitgliedern des CPT handgreiflich wurden (vgl. Spiegel Online, „Die verräterischen WhatsApp-Nachrichten der ››Operation Korridor‹‹“ [6.4.2023], abrufbar unter https://www.spiegel.de/ausland/kroatien-die-verraeterischen-whatsapp-nachrichten-der-operation-korridor-a-42d6ff22-c0d7-4d5d-af6e-a2cc62ae0675), während die CPT-Mitglieder vom Präsidenten Kroatiens als „Schädlinge“ bezeichnet wurden, die „überall ihre Nasen reinstecken“ (vgl. ECCHR-Auskunft, a.a.O., S. 4, m.w.N.). In einer veröffentlichen Stellungnahme des kroatischen Innenministeriums vom 2. Dezember 2021 unterstellt das Gericht dem Komitee, seine Befugnisse überschritten zu haben, während es zugleich keinen Zufall darstelle, dass gerade in dem Besuchszeitraum der Komitee-Mitglieder Migrantengruppen verstärkt versucht hätten, irregulär nach Kroatien einzureisen (https://....– aufgerufen 26.2.2024).
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Die Kammer stützt ihre Überzeugung, dass die straf- bzw. disziplinarrechtliche Verfolgung von Polizisten in der realen Praxis in Kroatien bei Straftaten gegenüber Geflüchteten (rechts-)politisch nicht gewollt ist, unter anderem auch auf die Tatsache, dass Kroatien auf die Verurteilung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in der Sache M.H./Kroatien (U.v. 18.11.2021, Nr. 15670/18 und 43115/18 = BeckRS 2021, 34869) bislang nur unzureichend reagiert hat bzw. diese Entscheidung nicht in einer der Konvention genügenden Weise umgesetzt hat. Der Gerichtshof hat in diesem Verfahren unter anderem eine Verletzung von Art. 2 EMRK festgestellt, nachdem ein damals sechs Jahre altes Mädchen während eines Pushbacks mit ihren Eltern von kroatischen Polizisten über Gleise nach Serbien getrieben und dort von einem Zug getötet wurde. Eine hinreichende den konventionsrechtlichen Anforderungen entsprechende strafrechtliche Aufarbeitung des Todes der Betroffenen durch den kroatischen Staat, geschweige denn eine strafrechtliche Untersuchung gegenüber den verantwortlichen Polizeibeamten, ist bislang nicht erfolgt oder eingeleitet worden. Aktuell ist ein Implementierungsverfahren gegen Kroatien vor dem Ministerkomitee des Europarats anhängig, welches noch nicht abgeschlossen ist (siehe hierzu mit näheren Informationen zum Verfahrensstand: https://....int/eng?i=004-60187). Anhand der bisherigen Berichtsausführungen des Ministerkomitees, welches den Fall zuletzt im September 2023 behandelt hat, lässt sich entnehmen, dass bislang von Kroatien keine konkreten Informationen über ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren vor den zuständigen nationalen Gerichten vorgelegt wurden. Die Eltern des getöteten Mädchens seien indes am 1. Juni 2023 von den Behörden über Video-Telefonat in Anwesenheit ihres Bevollmächtigten befragt worden und weitere Befragungen der involvierten Polizisten beabsichtigt.
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Der dargestellte Fall M.H./Kroatien verdeutlicht, wie schwierig und langwierig es für Betroffene ist, selbst nach einer Verurteilung Kroatiens durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im Hinblick auf Art. 2 EMRK, auf der Ebene der individuellen rechtlichen Verantwortlichkeit involvierte Beamte des kroatischen Staats zur Rechenschaft ziehen zu können. Bereits die Verurteilung im Hinblick auf den Verstoß gegen Art. 2 EMRK belegt, dass es im konkreten Fall in prozeduraler Hinsicht schwerwiegende rechtsstaatliche Defizite hinsichtlich einer ordnungsgemäßen strafrechtlichen Aufarbeitung des Todes des betroffenen Mädchens gegeben hat. Derartige Verurteilungen sind einem Rechtsstaat mit einer funktionierenden Strafrechtspflege normalerweise – wenn sie denn überhaupt vorkommen – die absolute Ausnahme, da regelmäßig zu erwarten ist, dass im Fall der Untätigkeit der Ermittlungsbehörden jedenfalls im Klageerzwingungsweg von der zuständigen Fachgerichtsbarkeit oder spätestens vom Verfassungsgericht eine entsprechende Intervention bzw. Korrektur zu erwarten wäre. Die Verurteilung gemäß Art. 2 EMRK einschließlich deren konkreter Begründung (U.v. 18.11.2021, Nr. 15670/18 und 43115/18 – HUDOC = BeckRS 2021, 34869 Rn. 150-165) bzw. das laufende Implementierungsverfahren vor dem Ministerkomitee (vgl. Art. 46 EMRK) ist nach Auffassung der Kammer ein wesentliches Indiz dafür, dass es sich nicht um ein singuläres Versagen der kroatischen Strafverfolgungsbehörden bzw. Strafjustiz handelt, sondern sich vielmehr als die Konsequenz von tiefgreifenden Defiziten systemischen Charakters in diesem Bereich darstellt. Dafür spricht nicht zuletzt, dass der Gerichtshof nur etwas mehr als ein Jahr nach der Verurteilung vom 18. November 2021 eine weitere Verletzung des Art. 2 EMRK (in prozeduraler Hinsicht) durch Kroatien festgestellt hat, nachdem ein Asylsuchender in einer Haftzelle in einer kroatischen Polizeidienststelle durch einen Brand gestorben war (vgl. EGMR, U.v. 17.1.2023 – Daraibou/Kroatien, Nr. 84523/17 – HUDOC). Die zitierten Randnummern des Urteils vom 18. November 2021 zur Verfahrenshistorie auf nationaler Ebene erwecken den Eindruck des gezielten Unwillens der kroatischen Strafverfolgungsbehörden, naheliegende bzw. sich aufdrängende Ermittlungsansätze zu einer individuellen Verantwortlichkeit der beteiligten Polizeibeamten verfolgt zu haben. Insofern geht die Kammer davon aus, dass für Migranten bzw. Geflüchtete, die in Kroatien von Gewalthandlungen durch Polizeibeamte betroffen sind oder waren, in der Praxis keine geeigneten Möglichkeiten gibt, sich hiergegen über das Disziplinar- oder Strafrecht in effektiver und vor allem zeitnaher Weise zur Wehr zu setzen.
37
Unbeschadet der obigen Ausführungen zu Kettenabschiebungen nach Serbien und Bosnien-Herzegowina bzw. der aktuell stattfindenden kollektiven Ausweisung von Drittstaatsangehörigen in diese Staaten wird in der Erkenntnismittellage ausgeführt, dass es Fälle gegeben habe, in denen Kroatien entgegen seiner Rechtspflicht aus Art. 18 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO Dublin-Rückkehrende als Folgeantragsteller behandelt habe, sofern diese vor Verlassen des Landes Kroatien ihre Asylanträge explizit zurückgezogen oder eine Zurückweisung erhalten hätten (vgl. AIDA, Country Report Croatia, Update 2021, S. 47 m.w.N.).
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bb) Angesichts der oben dargestellten allgemeinen abschiebungs- bzw. überstellungsrelevanten Lage ist das mitgliedstaatliche gegenseitige Vertrauen in mehrfacher und rechtserheblicher Weise erschüttert. Eine Normkonformitätserwartung dergestalt, dass vermutungsweise in einer Situation des Nichtwissens von einem richtlinien- bzw. menschenrechtskonformen Verhalten Kroatiens gegenüber Geflüchteten im Allgemeinen ausgegangen werden darf, lässt sich angesichts entgegenstehender Realitäten nicht mehr tragfähig begründen. Insoweit ist nach den nachstehenden Ausführungen von einem allgemeinen Vertrauensverlust (vgl. dazu jüngst: Schlussanträge der Generalanwältin vom 25.1.2024 – Rs. C-753/22 – BeckRS 2024, 688, Rn. 42 f.) in den kroatischen Staat hinsichtlich der Beachtung der Garantien aus Art. 6 RL 2013/32/EU, des Refoulement-Verbots sowie des Verbots der Kollektivausweisung auszugehen.
39
Die Kammer hält dabei zunächst die in der Erkenntnismittellage dargestellte Praxis, die kroatische Polizei habe nach Kroatien rücküberstellten Personen in zahlreichen Fällen trotz mehrfach geäußerter Asylgesuche den Zugang zum Verfahren verweigert, für europarechtlich eindeutig unzulässig. Die Vorgehensweise der kroatischen Polizei, auf die Asylgesuche in Kroatien angetroffenen oder dorthin rücküberstellten Personen entweder mit Drohungen oder Beleidigungen zu reagieren bzw. diese generell zu ignorieren, um auf vereinfachten Weg eine Rückkehrentscheidung im Sinn der RL 2008/115/EG erlassen zu können, hält die Kammer sowohl nach kroatischem Recht (vgl. etwa Art. 33 Abs. 2, Abs. 10, Art. 53 Abs. 1 des kroatischen Gesetzes über den internationalen Schutz und den vorübergehenden Schutz) als auch mit Blick auf die Verpflichtungen der kroatischen Polizei nach Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 2, Unterabs. 3 RL und Abs. 2 Satz 1 2013/32/EU für rechtswidrig. Dabei ist zu berücksichtigen, dass ein „Antrag auf internationalen Schutz“ im Sinn der Asylverfahrensrichtlinie bereits bei einem entsprechenden „Ersuchen“ des Drittstaatsangehörigen vorliegt (vgl. Art. 2 Buchst. b RL 2013/32/EU), der seine Rechtsstellung als Antragsteller auslöst und die Frist von sechs Arbeitstagen in Gang setzt, innerhalb dessen der Mitgliedstaat nach Äußerung des Gesuchs gegenüber einer anderen Behörde im Sinn des Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 2 RL 2013/32/EU den Antrag registrieren muss (vgl. EuGH, U.v. 9.9.2021 – C-768/19 – juris Rn. 49; U.v. 17.12.2020 – C-808/18, Kommission/Ungarn – juris Rn. 89 f.). Die Kammer geht davon aus, dass diese Vorgehensweise darauf abzielt, eine formale Registrierung als Asylsuchender in Kroatien zu verhindern (vgl. zu dieser Pflicht Kroatiens Art. 6 Abs. 2 Satz 1 RL 2013/32/EU) und damit Asylsuchenden die Verfahrensgarantie des Rechts zum Verbleib im Mitgliedstaat bis zur Entscheidung über den Asylantrag (vgl. Art. 9 Abs. 1 Satz 1 RL 2013/32/EU) abzuschneiden bzw. die Inanspruchnahme dieses Rechts in faktischer Hinsicht unmöglich zu machen. Diese Praxis korrespondiert mit der weiteren Vorgehensweise der kroatischen Polizei, durch Rückkehrentscheidungen im Sinn des Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Nr. 4 RL 2008/115/EG den illegalen Aufenthalt der betroffenen Person in Kroatien festzustellen und die Abschiebung in einen Durchgangs- bzw. Transitstaat, der kein EU-Staat ist, anzuordnen. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat insofern auch entschieden, dass Art. 2 Abs. 1 und Art. 3 Nr. 2 RL 2008/115/EG es in Verbindung mit Art. 9 Abs. 1 Satz 1 RL 2013/32/EU nicht zulassen, dass eine Rückkehrentscheidung gegenüber einen Drittstaatsangehörigen erlassen wird, nachdem dieser einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, aber bevor über diesen erstinstanzlich entschieden wurde (vgl. EuGH, U.v. 9.11.2023 – C-257/22 – juris Rn. 44). Die Kammer ist daher der Auffassung, dass nicht nur die Obstruktion des Zugangs zum Asylverfahren durch die kroatische Polizei, sondern auch der Erlass sogenannter 7-Tage-Papiere in zehntausenden Fällen gegen die dargestellten rechtlichen Maßgaben des Gerichtshofs der Europäischen Union zu Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 2 RL 2013/32/EU bzw. zum Verhältnis von Art. 9 Abs. 1 Satz 1 RL 2013/32/EU und Art. 6 Abs. 1 RL 2008/115/EG verstoßen. Die Kammer sieht sich in dieser Annahme auch anhand der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts bestärkt, wonach ein Asylsuchender, der in einem EU-Staat einen Asylantrag stellt, auch einen Anspruch darauf hat, dass dieser innerhalb der EU geprüft wird (vgl. BVerwG, U.v. 27.4.2016 – 1 C 24.15 – juris Rn. 20).
40
Ausgehend von den obigen Feststellungen zur allgemeinen abschiebungs- bzw. überstellungsrelevanten Lage verstößt Kroatien über verfahrensrechtliche europarechtliche Vorschriften des Zugangs zu einem Asylverfahren hinaus in zahlreichen Fällen gegen das völkerrechtliche Refoulement-Verbot (Art. 33 GFK, Art. 3 EMRK, Art. 7 IPbpR, Art. 3 Abs. 1 UN-Antifolterabkommen, Art. 4 GRCh) sowie gegen das Verbot der Kollektivausweisung (vgl. Art. 19 Abs. 2 GRCh, Art. 4 ZP 4 EMRK). Insoweit wird bereits aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 18. November 2021 ersichtlich, dass der Gerichtshof den konkreten Verstoß Kroatiens gegen das Verbot der Kollektivausweisung gerade auch vor dem Hintergrund der oben dargestellten allgemeinen Lage für Asylsuchende in Kroatien gewürdigt und eingeordnet hat (vgl. U.v. 18.11.2021, Nr. 15670/18 und 43115/18 – HUDOC = BeckRS 2021, 34869 Rn. 271). In vergleichbaren Fällen hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wiederholt geurteilt, dass der Vollzug bilateraler Rückübernahmeabkommen bzw. generell die Zurückweisung von Asylsuchenden an den EU-Außengrenzen ohne weitere Sachbehandlung von geäußerten Asylgesuchen die Vertragsstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht aus ihrer rechtlichen Verantwortlichkeit aus Art. 3 EMRK entlässt. Die Zurückweisung oder umgehende Rückführung nach einem solchem Rückübernahmeabkommen, ohne ein geäußertes Asylgesuch zu beachten bzw. ohne Zugang zu einem Asylverfahren zu gewähren, verstößt gegen das aus Art. 3 EMRK abgeleitete Refoulement-Verbot und bei einem gruppenweisen Vorgehen auch gegen das Verbot der Kollektivausweisung (stRspr, vgl. EGMR, U.v. 8.7.2021 – Shahzad u.a./Ungarn, Nr. 12625/17 – HUDOC Rn. 62 = NVwZ-RR 2022, 737/740; U.v. 23.7.2020 – M.K. u.a./Polen, Nr. 40503/17, 42902/17, 43643/17 – HUDOC Rn. 167 ff., Rn. 180 ff. = NVwZ-RR 2021, 1029/1033 f.; U.v. 11.12.2018 – M.A. u.a./Litauen, Nr. 59793/17 – HUDOC Rn. 113 f. = NVwZ 2019, 865/868; U.v. 21.11.2019 (GK) – I. und A./Ungarn, Nr. 47287/15 – HUDOC Rn. 134/137, 158 ff. = NVwZ 2020, 937/938 f.; U.v. 15.12.2016 (GK), Khlaifia u.a./Italien, Nr. 16483/12, HUDOC Rn. 241 = BeckRS 2016, 139293; grundlegend EGMR, U.v. 23.2.2012 (GK) – Hirsi Jamaa u.a./Italien, Nr. 27765/09 – HUDOC Rn. 129, 146 ff. = NVwZ 2012, 809/813 f.). Insbesondere aus den oben zitierten Entscheidungen, welche die Staaten Ungarn, Polen und Litauen betrafen, hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wiederholt geurteilt, dass ohne eingehende rechtliche Prüfung bzw. Vergewisserung durch die Behörden des abschiebenden Staates Asylsuchende nicht in die an die EU angrenzenden Staaten (dort Weißrussland und Serbien) zurückgewiesen werden dürfen, wenn ihnen dort die Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung droht. Dabei ist auch klarzustellen, dass sich die Gefahr dort sowohl in direkter Weise (also im Drittstaat selbst, z.B. aufgrund der allgemeinen Bedingungen dort) als auch in indirekter Weise (z.B. durch weitere Abschiebung in einen Viertstaat oder in das Herkunftsland) verwirklichen kann (stRspr, vgl. EGMR, U.v. 23.7.2020 – M.K. u.a./Polen, Nr. 40503/17, 42902/17, 43643/17 – HUDOC Rn. 171 = NVwZ-RR 2021, 1029/1033; U.v. 21.11.2019 (GK) – I. und A./Ungarn, Nr. 47287/15 – HUDOC Rn. 131 = NVwZ 2020, 937/939). Nach diesen gefestigten Rechtsprechungsmaßstäben des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte teilt die Kammer die bereits länger bestehende Einschätzung verschiedener Organe des Europarats, dass sowohl die oben beschriebenen Pushback-Praktiken im Allgemeinen als auch Kettenabschiebungen im Besonderen gegen das völkerrechtliche Refoulement-Verbot und das Verbot der Kollektivausweisung verstoßen (vgl. Third Party Intervention by the Council of Europe Commissioner for Human Rights, No. 18810/19, 18865/19 and 23495/19, S.B. v. Croatia, A.A. v. Croatia and A.B. v. Croatia, Rn. 8 m.w.N.).
41
Des Weiteren liegen im Hinblick auf die oben beschriebenen und sanktionslos gebliebenen Gewalthandlungen kroatischer Polizeibeamter, die bei den oben beispielhaft aufgezählten Fällen hinsichtlich ihrer besonderen Intensität die Einordnung als Folter nahelegen, in mehrfacher Hinsicht durchgreifende Anhaltspunkte für Verstöße gegen das UN-Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (Convention against Torture, UNTS 1465 1987., S. 85 ff. – BGBl. 1990 II S. 246, im Folgenden: CAT) vor. Die aufgezählten Handlungen erfüllen ohne Weiteres die in Art. 1 Abs. 1 CAT genannten tatbestandlichen Voraussetzungen und weisen angesichts ihrer berichteten Häufigkeit auf ein systemisches Problem in Kroatien hin (vgl. CPT, a.a.O., Rn. 15 ff., Rn. 29 f.). Jedenfalls kann zur Überzeugung der Kammer nach der Erkenntnismittellage nicht von singulären und zufällig vorkommenden Einzelfällen ausgegangen werden. Eine derartige Häufung solcher Vorfälle kommt zur Überzeugung der Kammer in der Regel auch nur dann vor, wenn die handelnden Täter wissen, dass in der disziplinar- bzw. strafrechtlichen Praxis keine persönlichen Konsequenzen folgen werden, das heißt de facto Impunität genießen (vgl. CPT, a.a.O., Rn. 29). Entgegen anderweitiger Darstellungen der Beklagten und auch in zahlreichen untergerichtlichen Entscheidungen erachtet die Kammer die Einordnung im Sinn eines „Fehlverhaltens einzelner Polizeibeamter“ als realitätsverzerrend und letztendlich verharmlosend. Eine derartige Charakterisierung im Sinn eines „Fehlverhaltens einzelner“ müsste sich zwangsläufig auch in den bei Asylfact eingestellten Erkenntnismitteln, insbesondere im Bericht des CPT, widerspiegeln. Das ist jedoch nicht der Fall, da es dort an keiner Stelle tragfähige Anhaltspunkte für die Einordnung als Exzesshandeln einzelner kroatischer Beamter ergibt. Die Einordnung eines Exzesshandelns einzelner Beamter ginge im Übrigen schon rein begrifflich mit der denknotwendigen Bedingung einher, dass es eine funktionierende Disziplinar- und Strafrechtspflege geben muss, die in der Praxis umgehende rechtliche Konsequenzen für Täter zur Folge hat, die auch generalpräventiv wirken. Die Kammer ist nach den eingeholten Auskünften des ECCHR bzw. von Amnesty International Deutschland sowie des Berichts des CPT indes davon überzeugt, dass eine generalpräventiv wirksame Disziplinar- und Strafrechtspflege gegenüber straffällig gewordenen Polizeibeamten, soweit es um Gewalt bzw. Folterhandlungen gegenüber Geflüchteten geht, nicht existiert. Nach den eingeholten Auskünften sprechen vielmehr deutliche Anhaltspunkte dafür, dass derartige Täter von Vorgesetzten bzw. übergeordneten Behörden gedeckt werden, zumal gerade in vielen Fällen versucht wurde, etwa durch die Zerstörung von Mobiltelefonen oder den Einsatz von Strumpfmasken bei handelnden Polizeibeamten Beweise zu vernichten bzw. die Beweisführung zu erschweren. Insofern spricht die Gleichförmigkeit und das wiederkehrende Muster der geschilderten Vorfälle deutlich dagegen, dass es sich um Fehlverhalten einzelner Polizeibeamter handelt.
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Nach allem bestehen in Anlehnung des Berichts des CPT bzw. der dort angeführten Kritik des Fehlens rechtsstaatlicher Aufarbeitungen tiefgreifende und ernstzunehmende Anhaltspunkte dafür, dass der kroatische Staat jedenfalls seit den Jahren 2018/2019 seine Rechtspflichten aus Art. 12, 13 und insbesondere Art. 16 Abs. 1 CAT systematisch verletzt bzw. unzureichend nachkommt. Nach Art. 12 CAT trägt jeder Vertragsstaat dafür Sorge, dass seine zuständigen Behörden umgehend eine unparteiische Untersuchung durchführen, sobald ein hinreichender Grund für die Annahme besteht, dass in einem seiner Hoheitsgewalt unterstehenden Gebiete eine Folterhandlung begangen wurde. Nach Art. 13 CAT muss jeder Vertragsstaat zudem dafür Sorge tragen, dass jeder, der behauptet, er sei in einem der Hoheitsgewalt des betreffenden Staates unterstehenden Gebiet gefoltert worden, das Recht auf Anrufung der zuständigen Behörden und auf umgehende Prüfung seines Falles durch diese Behörden hat. Nach Art. 16 Abs. 1 CAT ist jeder Vertragsstaat überdies verpflichtet, in jedem seiner Hoheitsgewalt unterstehenden Gebiete andere Handlungen zu verhindern, die eine grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe darstellen, ohne der Folter im Sinne des Artikels 1 gleichzukommen, wenn diese Handlungen von einem Angehörigen des öffentlichen Dienstes oder einer anderen in amtlicher Eigenschaft handelnden Person, auf deren Veranlassung oder mit deren ausdrücklichen oder stillschweigenden Einverständnis begangen werden. Die oben beschriebene de facto Impunität für kroatische Polizisten läuft den Vorgaben aus Art. 12 und Art. 13 CAT letztlich diametral entgegen. Insoweit reihen sich in dieses Bild auch die oben erwähnten jüngeren Verurteilungen Kroatiens nach Art. 2 EMRK durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein.
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b) Die vorgenannten tatsächlichen und rechtlichen Feststellungen zur allgemeinen überstellungsrelevanten Lage in Kroatien gehen auch mit der konkreten Gefährdung der Rechte der Kläger aus Art. 4 GRCh im Fall einer Rückkehr nach Kroatien einher. Die Kammer teilt dabei ausdrücklich die Prämisse, dass allein die Tatsache des Bestehens von Schwachstellen im Zielstaat, selbst wenn diese schwerwiegend sind, für sich genommen im Kontext des Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO nicht ausreichend ist, sofern sich diese Tatsachen nicht auch im konkreten Fall auf die zu überstellende Person auswirken (vgl. NdsOVG, U.v. 11.10.2023 – 10 LB 18/23 – juris Rn. 28; ebenso VG Sigmaringen, B.v. 13.11.2023 – A 5 K 2470/23 – juris Rn. 41). Zur Überzeugung der Kammer steht jedoch fest (§ 108 Abs. 1 VwGO), dass die oben dargestellten regelhaft auftretenden Schwachstellen/Mängel mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verletzung der Rechte der Kläger aus Art. 4 GRCh begründen.
44
Die konkrete Gefahr einer Verletzung der Rechte der Kläger aus Art. 4 GRCh liegt vorliegend darin, dass ihnen nach einer Rückkehr nach Kroatien aufgrund der Regelungen des bilateralen Rückübernahmeabkommens mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die weitere Überstellung nach Bosnien-Herzegowina droht. Nach dem unstreitig feststehenden Reiseverlauf der Kläger, welcher mit einem eintägigen Aufenthalt in Bosnien-Herzegowina bzw. anschließender Einreise nach Kroatien bei C. einherging, kann sich Kroatien gegenüber Bosnien-Herzegowina auf die Rückübernahmeverpflichtung der Kläger gemäß Art. 2 Abs. 1 des bilateralen Rückübernahmeabkommens berufen. Denn aufgrund des Grenzübertritts bei C. kann Kroatien im Sinn von Art. 2 Abs. 1 des bilateralen Rückübernahmeabkommens „vernünftigerweise annehmen“, dass die Kläger unmittelbar nach der Durchquerung von Bosnien-Herzegowina illegal nach Kroatien eingereist sind. C. liegt direkt hinter der äußersten nordwestlichen Grenze von Bosnien-Herzegowina, sodass keine Unklarheiten darüber vorliegen, von woher die Kläger zu Fuß die Landesgrenze nach Kroatien überschritten haben. Die tatbestandliche Bereichsausnahme gemäß Art. 3 Buchst. e des bilateralen Rückübernahmeabkommens greift nicht, da im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung kein Verfahren zur Zuerkennung internationalen Schutzes in Kroatien anhängig ist. Nach dem Zustimmungsschreiben der kroatischen Behörden gemäß Art. 25 Dublin III-VO ist derzeit offen, ob das Asylverfahren der Kläger in Kroatien eingestellt oder in absentia die Anträge abgelehnt wurden. Zum derzeitigen Zeitpunkt ist Bosnien-Herzegowina im Verhältnis gegenüber Kroatien völkervertragsrechtlich zur Rückübernahme der Kläger verpflichtet, worauf sich Kroatien im Verhältnis zu Bosnien-Herzegowina auch berufen kann (vgl. Art. 26 WVK). Diese Regelungsmechanismen, die im konkreten Fall aufgrund des Transits der Kläger durch Bosnien-Herzegowina tatbestandlich einschlägig sind, begründen unter ergänzender Berücksichtigung der Erkenntnisse zur Vollzugspraxis dieses Abkommens die hinreichend wahrscheinliche Gefahr einer Kettenabschiebung nach Bosnien-Herzegowina (vgl. auch allgemein aus dem Schrifttum: Guiffré, The Readmission of Asylum Seekers under International Law [Hart Publishing, 2020]; S. 151 ff., S. 187: „Moreover, there is a risk for asylum seekers who have transited through ‘safe third countries’ to be removed by means of a readmission agreement“). Die in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel zur allgemeinen abschiebungsrelevanten Lage in Bosnien-Herzegowina begründen dabei die Annahme, dass die Kläger dort einem in der Praxis weitgehend dysfunktionalen Asylsystem und Aufnahmebedingungen ausgesetzt wären, welche den Mindestanforderungen aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – C 297/17 „Ibrahim“ u.a. – juris Rn. 89 ff. und C-163/17, „Jawo“ – juris Rn. 91 ff.: „Brot, Bett, Seife“) nicht genügen (s.o.).
45
Hinsichtlich der genannten Regelungen des bilateralen Rückübernahmeabkommens zwischen Kroatien und Bosnien-Herzegowina unterscheidet sich die tatsächliche Situation zwischen Erstankommenden in Kroatien von derjenigen, mit denen die Kläger nach Ende des Abschiebungsvorgangs konfrontiert wären, nicht. Daran ändert auch das von der Beklagten in der mündlichen Verhandlung erwähnte Laisser-Passer-Papier nichts. Die Kläger waren zwar ursprünglich als Asylsuchende registriert, aber um die Bereichsausnahme gemäß Art. 3 Buchst. e des bilateralen Rückübernahmeabkommens auszuschließen, müsste ihnen erst ermöglicht werden, ihr Verfahren wiederzueröffnen, um den Rechtsstatus eines Antragstellers auf internationalen Schutz wiederzuerlangen, ohne dabei rechtliche Nachteile zu erleiden (vgl. Art. 18 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO, vgl. dazu bereits VG Stuttgart, B.v. 2.9.2022 – A 16 K 3603/22 – juris Rn. 23). Insofern kann bereits der oben zitierte Zusatz im Antwortschreiben der kroatischen Behörden gemäß Art. 25 Abs. 1 Dublin III-VO, nach welchem unklar bleibt, ob eine Verfahrenseinstellung oder Ablehnung des Antrags in absentia erfolgt ist, nicht unberücksichtigt bleiben. Die Kammer teilt in diesem Zusammenhang auch die Bewertung der zitierten Entscheidung des Verwaltungsgerichts Stuttgart, dass die unionswidrige Behandlung eines Asylantrags als Folgeantrag entgegen Art. 18 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO einen im Kontext des Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO beachtlichen systemischen Mangel darstellt (ebenso: SächsOVG, U.v. 8.6.2017 – 4 A 584/16.A – juris Rn. 36). Kroatien macht dabei von der Möglichkeit nach Art. 9 Abs. 2 RL 2013/32/EU Gebrauch, Folgeantragstellenden das Recht zum Verbleib in Kroatien bis zur Entscheidung über den Antrag zu entziehen (vgl. European Union Agency for Asylum [EUAA], Information on procedural elements and rights of applicants subject to a Dublin transfer to Croatia [20.4.2023], Rn. 4.6).
46
Selbst wenn es aber den Klägern im Einklang mit Art. 18 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO ermöglicht werden sollte, ihre Asylverfahren in Kroatien wiederzueröffnen, wäre nach dem vorliegenden Reiseverlauf der Kläger eine Ablehnung der Anträge gemäß den nationalen Drittstaatenregelungen Kroatiens bzw. gemäß Art. 33 Abs. 2 Buchst. c i.V.m. Art. 38 oder Art. 39 RL 2013/32/EU beachtlich wahrscheinlich. Auch im konkreten Fall der Kläger spricht Überwiegendes dafür, dass die Wiedereröffnung eines Asylverfahrens in Kroatien kein dauerhaftes rechtliches Hindernis gegen eine spätere Rücküberstellung nach Bosnien-Herzegowina darstellen würde. Denn die Bereichsausnahme nach Art. 3 Buchst. e des bilateralen Rückübernahmeabkommens würde jedenfalls mit dem Zeitpunkt entfallen, ab dem eine Unzulässigkeitsentscheidung gemäß Art. 33 Abs. 2 Buchst. c RL 2013/32/EU ergeht. Im konkreten Fall der Kläger, die durch Bosnien-Herzegowina als Transitland gereist sind, würde jedenfalls ab diesem Moment die Wiederaufnahmepflicht Bosnien-Herzegowinas im Verhältnis gegenüber Kroatien gemäß Art. 2 Abs. 1 des bilateralen Abkommens neu aufleben. Aufgrund der Erkenntnisse zur allgemeinen Vollzugspraxis des bilateralen Abkommens geht die Kammer daher davon aus, dass auch im konkreten Fall der Kläger eine einmal bestandene Rückübernahmepflicht Bosnien-Herzegowinas (nach der erstmaligen Einreise nach Kroatien) eine spätere Unzulässigkeitsentscheidung gemäß Art. 33 Abs. 2 Buchst. c RL 2013/32/EU determinieren würde, um eine Abschiebung in diesen Drittstaat schlussendlich zu ermöglichen.
47
Die obige Subsumtion der Regelungen des bilateralen Rückübernahmeabkommens unter Berücksichtigung des Transits der Kläger durch Bosnien-Herzegowina und der nationalen Drittstaatenregelungen Kroatiens stellt dabei im Kontext des Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO keineswegs etwas völlig Neuartiges dar. Die in diesem Kontext erörterte Problematik von Kettenabschiebungen bzw. der Gefahr der indirekten Zurückweisung (indirect refoulement) bestand und besteht hinsichtlich der Zulässigkeit von Dublin-Überstellungen in den Mitgliedstaat Ungarn, die damals noch in der untergerichtlichen Rechtsprechung in den Jahren 2014 bis 2016 (ebenso) kontrovers diskutiert wurde. Ungarn betrachtet Serbien als sicheren Drittstaat im Sinn von Art. 38 Abs. 1 RL 2013/32/EU, obwohl Serbien die Genfer Flüchtlingskonvention nicht ratifiziert hat und die Bewertung Serbiens als sicherer Drittstaat von zahlreichen Stellen (einschließlich des UNHCR) nicht geteilt wird. Flankierend zu der Drittstaatsregelung im ungarischen Recht hat Ungarn ein bilaterales Rückübernahmeabkommen mit Serbien geschlossen, das auch vollzogen wird. Dementsprechend haben ab Ende 2016 bzw. insbesondere im Jahr 2017 und danach verschiedene Obergerichte entschieden, dass infolge der nationalen Gesetzgebung Ungarns zur Einordnung Serbiens als sicherer Drittstaat gemäß Art. 38 Abs. 1 RL 2013/32/EU und des Vollzugs des bilateralen Rückübernahmeabkommens mit Serbien für Dublin-Rückkehrende in Ungarn die ernsthafte Gefahr bestehe, im Wege der Kettenabschiebung weiter nach Serbien abgeschoben zu werden (vgl. BayVGH, U.v. 23.3.2017 – 13a B 17.50003 – juris Rn. 32-34; HessVGH, U.v. 1.9.2017 – 4 A 2987/16.A – juris Rn. 48-51; OVG Saarl, U.v. 9.3.2017 – 2 A 364/16 – juris Rn. 28; NdsOVG, U.v. 20.12.2016 – 8 LB 184/15 – juris Rn. 48-52).
48
Auf allgemeiner Ebene sind die wesentlichen Begründungsstränge aus den zitierten obergerichtlichen Entscheidungen uneingeschränkt auf den vorliegenden Fall übertragbar. Aus dem zitierten Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 23. März 2017 (13a B 17.50003 – juris Rn. 32-34) lässt sich – wie auch aus den anderen zitierten obergerichtlichen Entscheidungen – der abstrakte Rechtssatz entnehmen, dass der Inhalt nationaler Drittstaatenregelungen sowie völkerrechtlicher Abkommen des Dublin-Zielstaats mit einem Nicht-EU-Drittstaat unter Berücksichtigung der Vollzugspraxis zum Gegenstand einer Gefahrenprognose im Kontext des Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO gemacht werden darf und muss. Dieser abstrakte Rechtssatz ist bei der vorliegend zu entscheidenden Streitfrage, ob den Klägern mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Kroatien die (weitere) Überstellung nach Bosnien-Herzegowina droht, auch heranzuziehen bzw. anwendbar. Sofern die Beklagte der Ansicht ist, dass den Klägern keine weitergehende Rücküberstellung von Kroatien nach Bosnien-Herzegowina entgegen des Refoulement-Verbots drohe, wäre es – gerade unter Berücksichtigung der tatbestandlichen Rückübernahmeverpflichtung Bosnien-Herzegowinas gemäß Art. 2 Abs. 1 des bilateralen Rückübernahmeabkommens und der in das Verfahren eingeführten Erkenntnisse zur allgemeinen Vollzugspraxis dieses Abkommens seit April/Mai 2023 – ihre Aufgabe gewesen, Gründe bzw. gegenteilige Erkenntnisse vorzulegen (vgl. mutatis mutandis zum Mitgliedstaat Ungarn nachdrücklich: BayVGH, U.v. 23.3.2017 – 13a B 17.50003 – juris Rn. 34 a.E.). Dies ist nicht geschehen, zumal die Beklagte in der mündlichen Verhandlung zuletzt die grundsätzliche Relevanz des bilateralen Rückübernahmeabkommens zwischen Kroatien und Bosnien-Herzegowina in Abrede gestellt hat.
49
Art. 3 Abs. 3 Dublin III-VO steht der Einordnung als überstellungsrelevantem systemischen Mangel im Sinn von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO (bezogen auf Kettenabschiebungen bzw. Kollektivausweisungen nach Bosnien-Herzegowina und Serbien) in systematischer Hinsicht nicht entgegen. Danach bleibt es den Mitgliedstaaten unberührt, nach Maßgabe der Bestimmungen und Schutzgarantien der RL 2013/32/EU einen Antragsteller in einen sicheren Drittstaat zurück- oder auszuweisen. Insoweit ist anerkannt, dass die Mitgliedstaaten über einen Ermessensspielraum verfügen. Jedoch liegt ein unzulässiger Ermessensmissbrauch vor, wenn ein Mitgliedstaat (hier Kroatien) das Dublin-System untergräbt, wenn er bilaterale Vereinbarungen mit seinen angrenzenden Nichtmitgliedstaaten trifft und dorthin sämtliche Drittstaatsangehörige, die sich auf seinem Territorium aufhalten, ausweist (vgl. Hönlinger in BeckOK MigR, Stand 15.10.2023, Art. 3 Dublin III-VO Rn. 24). Eine derartige Situation bzw. zumindest ein derartiges Bestreben seitens Kroatiens liegt aktuell im Hinblick auf die oben geschilderten kollektiven Ausweisungen nach Bosnien-Herzegowina ab April/Mai 2023 vor, die ausweislich der genannten Quellen gerade Ausfluss der Vollzugspraxis des bilateralen Rückübernahmeabkommens sind. Es stellt einen wesentlichen Grundgedanken des Dublin-Systems dar, dass ein in der Europäischen Union gestellter Asylantrag grundsätzlich auch von einem EU-Mitgliedstaat geprüft wird (vgl. BVerwG, U.v. 27.4.2016 – 1 C 24.15 – juris Rn. 20), da andernfalls die Daseinsberechtigung des Dublin-Systems selbst infrage steht. Davon mag im Einzelfall abgewichen werden können, wenn aufgrund einer entsprechenden Verbindung eines Antragstellers zu einem sicheren Drittstaat feststeht, dass es ihm zuzumuten ist, dort ein Asylverfahren zu durchlaufen. Ein Rechtsautomatismus dergestalt, über bilaterale Vereinbarungen mit einem sicheren europäischen Drittstaat gemäß Art. 39 RL 2013/32/EU die rechtliche Verantwortlichkeit nach dem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem dorthin in faktischer Hinsicht prinzipiell zu „externalisieren“, dürfte ebenso außerhalb des Art. 3 Abs. 3 Dublin III-VO liegenden Ermessensspielraums liegen, da es das Dublin-System damit, wie ausgeführt, letztlich obsolet macht.
50
An dieser Bewertung (bezogen sowohl auf Art. 3 Abs. 3 als auch Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO hinsichtlich der Gefahr von Kettenabschiebungen) sieht sich die Kammer auch insgesamt nicht durch das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 17. März 2016 gehindert (vgl. EuGH, U.v. 17.3.2016 – C-695/15 PPU, Rs. „Mirza“ – juris Rn. 63 = NVwZ 2016, 753 ff. m. Anm. Gutmann [Abschiebung nach Serbien gemäß Art. 38 Abs. 1 RL 2013/32/EU]). Denn zum einen befasst sich diese Entscheidung ausdrücklich nicht mit dem oben diskutierten Aspekt, dass eine rechtsmissbräuchliche Ausübung des nach Art. 3 Abs. 3 Dublin III-VO eingeräumten Ermessensspielraums vorliegen kann, wenn sich ein Mitgliedstaat durch den Abschluss völkerrechtlicher bilateraler Vereinbarungen, die als Grundsatz die Rückübernahme in Drittstaaten vorsehen, sich seinen Rechtspflichten nach dem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem prinzipiell entzieht. Abgesehen davon steht das zitierte Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union in der Sache „M.“, wie bereits zutreffend angemerkt worden ist (vgl. Gutmann, NVwZ 2016, 753/756), sowohl auf abstrakter als auch auf konkreter Ebene in nicht auflösbaren rechtlichen Friktionen und Wertungswidersprüchen mit gleich mehreren (neueren und älteren) Judikaten des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (vgl. EGMR, U.v. 8.7.2021 – Shahzad u.a./Ungarn, Nr. 12625/17 – HUDOC Rn. 62 = NVwZ-RR 2022, 737/740; U.v. 23.7.2020 – M.K. u.a./Polen, Nr. 40503/17, 42902/17, 43643/17 – HUDOC Rn. 171 = NVwZ-RR 2021, 1029/1033; U.v. 21.11.2019 (GK) – I. und A./Ungarn, Nr. 47287/15 – HUDOC Rn. 134, 141 = NVwZ 2020, 937/940; U.v. 3.7.2014 – Mohammadi/Österreich, Nr. 71932/12 – HUDOC Rn. 60 = BeckRS 2014, 127908; U.v. 21.1.2011 (GK) – M.S.S./Belgien u. Griechenland, Nr. 30696/09 – HUDOC Rn. 342 ff. = NVwZ 2011, 413 ff.), die in zwei Fällen überdies ebenso konkret Abschiebungen nach Serbien betrafen. Derartige rechtliche Friktionen sollen aber nach Art. 6 Abs. 3 EUV, Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh eigentlich gerade vermieden werden, die konkret ursächlich darin liegen, dass sich der Gerichtshof der Europäischen Union in der Rechtssache „M.“ mit seinen Ausführungen zu Art. 38 und Art. 39 RL 2013/32/EU jedenfalls nicht mit den sich aus Art. 3 EMRK ergebenden konventionsrechtlichen Garantien, wie sie sich bereits aus der Entscheidung M.S.S./Griechenland entnehmen lassen, befasst hat (vgl. Anm. Gutmann, NVwZ 2016, 753/756).
51
Schließlich erachtet die Kammer die oben dargestellten Schwachstellen in Bezug auf das systemische Stattfinden von Gewalthandlungen durch kroatische Polizeibeamte gegenüber Geflüchteten und deren defizitäre disziplinar- und strafrechtliche Verfolgung (gerade auch im Kontext der völkerrechtlichen Vorgaben aus Art. 12 ff. CAT) im Fall der Kläger als konkret überstellungsrelevant. Nach den Angaben der Kläger in der mündlichen Verhandlung ist die Kammer davon überzeugt, dass die Kläger die von ihnen geschilderte Behandlung durch die kroatische Polizei (Verweigerung von Wasser gegenüber der Klägerin zu 2, Tritte gegenüber dem Kläger zu 1, Zerstörung des Mobiltelefons des Klägers zu 1, faktischer Entzug der Freiheit für zwei Tage unter haftähnlichen Bedingungen) tatsächlich so erlebt haben. Art. 4 GRCh und Art. 3 Abs. 1 CAT haben im Hinblick auf das Refoulement-Verbot einen inhaltlich identischen Schutzbereich (vgl. Art. 53 GRCh). Bei der Frage, ob beachtliche Gründe im Sinn des Art. 3 Abs. 1 CAT vorliegen, ist gemäß Art. 3 Abs. 2 CAT zu prüfen, ob es in dem betreffenden Staat eine ständige Praxis grober, offenkundiger oder massenhafter Verletzung der Menschenrechte gibt (vgl. dazu Nowak/Birk/Monina, The United Nations Convention Against Torture And Its Optional Protocol – A Commentary, 2. Aufl. 2019 [Oxford University Press: Oxford], Art. 3 CAT Rn. 153 ff., 164 ff.). Der UN-Ausschuss gegen Folter hat in mehreren Individualbeschwerden im Kontext des Art. 3 Abs. 1, Abs. 2 CAT entschieden, dass die Frage des allgemeinen Bestehens effektiver Schutz- bzw. Präventionsvorkehrungen gegen Menschenrechtsverletzungen ebenso berücksichtigt werden müsse wie frühere konkrete Menschenrechtsverletzungen gegenüber der betroffenen Person (vgl. Nowak/Birk/Monina, a.a.O., Art. 3 CAT Rn. 164 ff., 169 ff. m.w.N.). Die Tatsache, dass die Intensität des konkret erlittenen Unrechts der Kläger durch die kroatische Polizei hinter denjenigen der oben beispielhaft aufgezählten Fälle zurückbleibt, ändert nichts daran, dass unter Berücksichtigung der Ausführungen des CPT vom Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 2 CAT auszugehen wäre, was die Kläger nach einer Rückkehr nach Kroatien auch betreffen würde. Die Kläger waren auch selbst Behandlungen durch die kroatische Polizei ausgesetzt, die das CPT in seinem Bericht beanstandet hat (Inhaftierung für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne die Möglichkeit der Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes, Zerstörung von Eigentum). Gemessen an diesen Maßstäben ist es mit Art. 3 Abs. 1 CAT nicht vereinbar, wenn betroffene Personen wie die Kläger, die durch kroatische Polizeibeamte bereits Schlechtbehandlungen („ill-treatment“) erfahren haben, in einen Staat rücküberstellt werden, in dem die handelnden Täter de facto Impunität genießen.
52
Diese Argumentation findet im Ergebnis ebenso eine Stütze in bestehender obergerichtlicher Rechtsprechung. Hinsichtlich des Mitgliedstaats Ungarn haben mehrere Obergerichte das Vorkommen von „Beschimpfungen, Schikanen, und Gewaltanwendungen“ bzw. „exzessiven Gewalteinsätzen“ durch die dortige Polizei gegenüber Geflüchteten als überstellungsrelevanten systemischen Mangel im Sinn von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO beurteilt (vgl. OVG Saarl, U.v. 9.3.2017 – 2 A 364/16 – juris Rn. 28; NdsOVG, U.v. 20.12.2016 – 8 LB 184/15 – juris Rn. 54). Die Kammer entnimmt insoweit auch diesen obergerichtlichen Entscheidungen den abstrakten Rechtssatz, dass das regelhafte Vorkommen von Gewalthandlungen oder Schikanen durch Polizeibeamte des Dublin-Zielstaats gegenüber Asylsuchenden als überstellungsrelevanter systemischer Mangel beurteilt werden kann. Auf allgemeiner Ebene hält die Kammer diese obergerichtlichen Entscheidungen in Bezug auf Dublin-Überstellungen nach Kroatien daher ebenso für übertragbar.
53
Die Kammer übersieht bei dieser Bewertung insgesamt nicht, dass sich die Beurteilung der überstellungsrelevanten Lage in Kroatien in der Rechtsprechung (sowohl in der deutschen als auch der ausländischen) in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht als umstritten darstellt (systemische Mängel insgesamt ablehnend: VG Düsseldorf, B.v. 19.2.2024 – 12 L 261/24.A – juris; VG Ansbach, B.v. 16.2.2024 – AN 17 S 24.50087 – juris; VG Darmstadt, B.v. 19.2.2024 – 12 L 261/24.A – juris; VG Karlsruhe, U.v. 6.12.2023 – A 19 K 4445/23 – juris; NdsOVG, B.v. 4.12.2023 – 10 LB 91/23 – juris [Entscheidung gemäß § 130a VwGO]; NdsOVG, U.v. 11.10.2023 – 10 LB 18/23 – juris; VG Augsburg, B.v. 10.10.2023 – Au 9 S 23.50364 – juris; VG Karlsruhe, B.v. 29.6.2023 – A 19 K 2160/23 – BeckRS 2023, 16102, Rn. 18 ff.; VG München, U.v. 11.7.2023 – M 3 K 17.53546 – juris Rn. 27 ff.; VG Köln, B.v. 7.6.2023 – 6 L 858/23.A – juris Rn. 29 ff.; VGH BW, U.v. 11.5.2023 – A 4 S 2666/22 – juris; Schweizerisches Bundesverwaltungsgericht [BVGer], U.v. 22.3.2023 – E-1488/2020; NdsOVG, B.v. 22.2.2023 – 10 LA 12/23 – juris; VG Ansbach, B.v. 21.12.2022 – AN 14 S 22.50376 – juris; VG Leipzig, B.v. 6.12.2022 – 6 L 678/22.A – juris; VG Hannover, B.v. 21.11.2022 – 4 B 4791/22 – juris; VG Stuttgart, U.v. 30.9.2022 – A 13 K 4446/22 – juris; VG Aachen, B.v. 12.9.2022 – 6 L 551/22.A – juris; VG Göttingen, B.v. 8.7.2022 – 4 B 110/22 – juris; VG Düsseldorf, B.v. 4.2.2022 – 12 L 59/22.A – juris; VG Chemnitz, B.v. 10.12.2021 – 4 L 519/21.A – juris; a.A. VG Sigmaringen, B.v. 13.11.2023 – A 5 K 2470/23 – juris; VG Ansbach, B.v. 8.11.2023 – AN 14 S 23.50439 – juris [hinsichtlich anerkannt Schutzberechtigten]; VG Chemnitz, B.v. 25.10.2023 – 4 L 235.23.A – juris; VG Freiburg, B.v. 26.7.2022 – A 1 K 1805/22 – juris; VG Hannover, B.v. 7.9.2022 – 15 B 3250/22 – juris; VG Stuttgart, B.v. 2.9.2022 – A 16 K 3603/22 – juris; offenlassend als grundsätzlich bedeutsame Tatsachenfrage i.S.d. § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG: VG Karlsruhe, B.v. 21.2.2023 – A 19 K 304/23 – juris Rn. 38 ff.; kritisch auch VG Saarlouis, B.v. 29.10.2020 – 5 L 762/20 – juris Rn. 31 ff., 53). Aus der ausländischen europäischen Rechtsprechung haben der Niederländische Staatsrat (Raad van State) sowie das Schweizerische Bundesverwaltungsgericht die ernstzunehmende Gefahr von Ketten-Pushbacks auch für Dublin-Rückkehrende betont (vgl. Raad van State, U.v. 13.4.2022 – Az. 202104072/1/V3 = ECLI:NL:RVS:2022:1042 – abrufbar unter: https://uitspraken.rechtspraak.nl/ – !/details?id=ECLI:NL:RVS:2022:1042 [aufgerufen 24.1.2024]; Schweizerisches Bundesverwaltungsgericht [BVGer], U.v. 7.1.2022 – F-5675/2021). Insbesondere die zitierte Entscheidung des Raad van State begründet – unter Bezugnahme auf die einschlägige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte – eingehend, dass Pushbacks bzw. Ketten-Pushbacks in Kroatien routinemäßig stattfänden und im Dublin-Verfahren als aufklärungsbedürftiger Umstand berücksichtigt werden müssten. Das Gericht geht in diesem Zusammenhang unter Würdigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte eingehend auf die praktische Handhabung des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens ein und ordnet die oben beschriebene überstellungsrelevante Lage insbesondere auch unter dem Gesichtspunkt des Zugangs zum Asylverfahren (Art. 6 RL 2013/32/EU) ein. In verfahrensrechtlicher Hinsicht ist die zitierte Entscheidung des Raad van State im Ansatz vergleichbar mit einem Urteilsausspruch gemäß § 113 Abs. 3 Satz 1 VwGO (vgl. auch dessen grundsätzliche Anwendbarkeit auf asylrechtliche Klagen: BayVGH, B.v. 8.10.2012 – 21 ZB 12.30312 – juris Rn. 7 f.).
54
Ausgehend von den obigen Ausführungen schließt sich die Kammer der von der Beklagten zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (U.v. 11.5.2023 – A 4 S 2666/22 – juris), der des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 11. Oktober 2023 (U.v. 11.10.2023 – 10 LB 18/23 – juris) sowie der diesen Urteilen folgenden untergerichtlichen Rechtsprechung nicht an. Beide obergerichtliche Entscheidungen erfassen bereits in tatsächlicher Hinsicht die Relevanz völkerrechtlicher bilateraler Rückübernahmeabkommen unzureichend und damit letztendlich nichtzutreffend. Beide Obergerichte übersehen, dass es hinsichtlich der tatsächlichen Gefahrenprognosegrundlage für Kettenabschiebungen von Kroatien nach Bosnien-Herzegowina nicht auf das bilaterale Rückübernahmeabkommen zwischen Kroatien und Slowenien ankommt, sondern eben auf dasjenige zwischen Kroatien und Bosnien-Herzegowina. Mit den oben genannten obergerichtlichen Entscheidungen zum Mitgliedstaat Ungarn, die insofern auf allgemeiner Ebene den sachgedanklichen Anknüpfungspunkt für eine solche Prüfung geben, setzen sich die Urteile des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 11. Mai 2023 bzw. des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 11. Oktober 2023 nicht auseinander, obwohl sich dies hinsichtlich (auch) stattgefundener (Ketten) Abschiebungen von Kroatien nach Serbien aufgedrängt hat. Letztendlich übergehen die Beklagte und die von ihnen angeführten gerichtlichen Entscheidungen den entscheidenden Umstand, dass im Weg der Dublin III-VO nach Kroatien rückgeführte Personen dort uneingeschränkt den nationalen sicheren Drittstaatenreglungen und insbesondere den oben aufgeführten Regelungen des völkerrechtlichen bilateralen Rückübernahmeabkommens mit Bosnien-Herzegowina unterworfen sind. Insoweit übersieht die gegensätzliche Auffassung in der vom Bundesamt zitierten Rechtsprechung, für Kettenabschiebungen nach Bosnien-Herzegowina gebe es im Kontext des Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO „keine Anhaltspunkte“ (was das Bundesamt im Übrigen ausweislich der zitierten obergerichtlichen Entscheidungen zu Dublin-Überstellungen nach Ungarn in genau gleicher Weise in Abrede gestellt hat), dass die genannten ausländischen Rechtsmechanismen (vgl. § 173 VwGO i.V.m. § 293 Satz 1 ZPO) und vor allem deren Vollzugspraxis auf Tatsachenebene zu berücksichtigen sind, und damit auch zur Grundlage einer Gefahrenprognose unter Berücksichtigung der relevanten Erkenntnismittel gemacht werden dürfen und müssen (so im Ergebnis auch VG Sigmaringen, B.v. 13.11.2023 – A 5 K 2470/23 – juris Rn. 41 a.E.).
55
Abgesehen davon lassen die Ausführungen beider Obergerichte zum unionsrechtlichen Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens eine argumentative Grundtendenz erkennen (vgl. VGH BW, U.v. 11.5.2023 – A 4 2666/22 – juris Rn. 78, 81; NdsOVG, U.v. 11.10.2023 – 10 LB 18/23 – juris Rn. 89), welche mit einem wohl möglicherweise überdehnenden Verständnis des Begriffs des „Vertrauens“ als solchem einhergeht und jedenfalls die nach Art. 6 Abs. 3 EUV, Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh zu berücksichtigenden rechtlichen Maßgaben des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht umsetzt (vgl. EGMR, U.v. 21.9.2019 (GK) – I. und A./Ungarn, Nr. 47287/15 – HUDOC Rn. 134, 141 m.w.N. = NVwZ 2020, 937/940; U.v. 23.5.2016 – Avotiņš/Litauen, Nr. 17502/07 = HUDOC Rn. 114-116 = NJOZ 2018, 1515/1519; U.v. 3.7.2014 – Mohammadi/Österreich, Nr. 71932/12 – HUDOC Rn. 60 = BeckRS 2014, 127908; U.v. 21.1.2011 (GK) – M.S.S./Belgien u. Griechenland, Nr. 30696/09 – HUDOC Rn. 342 ff. = NVwZ 2011, 413 ff.). Aus den Maßstäben des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte lässt sich wie ausgeführt deutlich entnehmen, dass es bei der Abschiebung in einen Drittstaat kein „blindes Vertrauen“ geben darf, dass die abzuschiebende Person im Drittstaat menschenrechtskonform behandelt wird. Vielmehr muss sich der abschiebende Staat anhand der Berücksichtigung des Vorbringens der betroffenen Person sowie anhand (möglichst) aktueller Erkenntnismittel selbst vergewissern, dass dort keine unmittelbare oder mittelbare Verletzung des Rechts aus Art. 3 EMRK droht. Dies setzt denklogisch eine nähere Befassung und rechtliche Würdigung der allgemeinen Verhältnisse im Abschiebungszielstaat voraus. Eine vermutungsweise Normkonformitätserwartung dergestalt, dass der Überstellungszielstaat dorthin rückgeführte Person menschenrechtskonform behandele, selbst wenn vielfach gegenteilige Informationen vorliegen, liefe letztendlich auf ein faktenresistentes Vertrauen hinaus (vgl. dazu Lübbe, NVwZ 2017, 674/676). Ein derartiges faktenresistentes Vertrauen stünde zwangsläufig im Konflikt mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte wie auch der Entscheidungspraxis des UN-Ausschusses gegen Folter im Kontext des Art. 3 Abs. 1, Abs. 2 CAT.
56
Mit der praktischen Handhabung des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens bzw. dessen Widerlegung in Bezug auf Kroatien dürften beide obergerichtliche Entscheidungen zugleich die Gefahrenmaßstäbe hinsichtlich Art. 4 GRCh überspannen. Weder aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union noch aus der des Bundesverwaltungsgerichts ergibt sich, dass bereits auf abstrakter Ebene zu prüfen ist, ob Dublin-Rückkehrende davon allgemein betroffen sind. Ob die zu überstellende Person (in ihrer Eigenschaft als Dublin-Rückkehrer) von einem auf abstrakter Ebene geprüften Mangel bzw. einer Schwachstelle im Asylsystem oder in den Aufnahmebedingungen konkret betroffen ist, ist eine in jedem Einzelfall gesondert zu prüfende Voraussetzung (vgl. auch ausdrücklich BayVGH, U.v. 4.3.2024 – 24 B 22.30376 – BeckRS 2024, 3997 Rn. 21 m.w.N.; B.v. 27.2.2023 – 24 ZB 22.50056 – juris Rn. 13 a.E.: „[s]ystemischen Mangel ausgesetzt sein werden, welcher zu einer Verletzung von Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK führen kann“ [Hervorhebung durch Gericht]). Ob die mit dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens einhergehende Vermutungsregel des menschenrechtskonformen Verhaltens des Dublin-Zielstaats zum Tragen kommt, oder nicht, ist entgegen der Rechtsansicht des Verwaltungsgerichts Baden-Württemberg sowie des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts daher nicht von der (Beweis-)Frage abhängig zu machen, ob auf abstrakter Ebene das Vorliegen regelhaft vorkommender Defizite Dublin-Rückkehrende betrifft, oder nicht. Ein derartiges Auslegungsverständnis lässt sich bereits dem grammatischen Wortsinn von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO nicht entnehmen. Erst Recht kann bezüglich des Eintritts eines Vertrauensverlusts auf allgemeiner Ebene nicht verlangt werden, dass erst eine menschenrechtsrechtswidrige Behandlung gegenüber Dublin-Rückkehrenden als solchen am Maßstab eines schlagenden Beweises nachgewiesen sein müsse (vgl. BayVGH, U.v. 4.3.2024 – 24 B 22.30376 – BeckRS 2024, 3997 Rn. 21 m.w.N.; vgl. auch die Schlussanträge der Generalanwältin vom 25.1.2024 – C-753/22 – BeckRS 2024, 688, Rn. 43). Die gegenteilige Annahme ließe sich auch weder mit den genannten konventionsrechtlichen Prüfungsvorgaben des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bei Abschiebungen in einen Drittstaat (vgl. EGMR, U.v. 21.9.2019 (GK) – I. und A./Ungarn, Nr. 47287/15 – HUDOC Rn. 134, 141 m.w.N. = NVwZ 2020, 937/940; U.v. 23.5.2016 – Avotiņš/Litauen, Nr. 17502/07 = HUDOC Rn. 114-116 = NJOZ 2018, 1515/1519; U.v. 3.7.2014 – Mohammadi/Österreich, Nr. 71932/12 – HUDOC Rn. 60 = BeckRS 2014, 127908; U.v. 21.1.2011 (GK) – M.S.S./Belgien u. Griechenland, Nr. 30696/09 – HUDOC Rn. 342 ff. = NVwZ 2011, 413 ff.), Art. 3 Abs. 2 CAT noch Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh vereinbaren.
57
Aus dem Prüfungsmaßstab des „real risk“ des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte geht schließlich eindeutig hervor, dass die Frage einer Verletzung des Art. 3 EMRK stets individualisiert (und nicht allgemein bezogen auf Dublin-Rückkehrende) zu prüfen ist, wobei nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts der Gefahrenmaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit gilt (vgl. dazu BVerwG, U.v. 21.4.2022 – 1 C 10.21 – juris Rn. 13 ff.). Da Art. 4 GRCh und Art. 3 EMRK vom Schutzbereich inhaltlich identisch sind (Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh), gilt im Hinblick auf die Frage, ob sich aus dem Vorliegen eines systemischen Mangels im Sinn von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO die konkrete Gefahr einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung ergibt, bezüglich des anzulegenden Wahrscheinlichkeitsmaßstabs nichts Anderes (vgl. BayVGH, U.v. 4.3.2024 – 24 B 22.30376 – BeckRS 2024, 3997 Rn. 21 m.w.N.). Im Übrigen kann es, anders als dies in den Urteilen des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg bzw. des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts anklingt, im Rahmen des „real risk“-Maßstabs gerade nicht prüfungsgegenständlich sein, ob die mit dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens einhergehende Vermutungsregel widerlegt ist, oder nicht. Eine entsprechende Vermutungsregel im Sinn eines gegenseitigen Vertrauens kennt das Konventionsrecht unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (und anders als in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu Art. 67 AEUV) gerade nicht (vgl. EGMR, U.v. 21.1.2011 (GK) – M.S.S./Belgien u. Griechenland, Nr. 30696/09 – HUDOC Rn. 338 – 340 = NVwZ 2011, 413/417).
58
Weiter legen sowohl den Urteilen des Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg als auch des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts Grundannahmen zugrunde, welche die Kammer unter Berücksichtigung der allgemeinen überstellungsrelevanten Lage in Kroatien als fehlerhaft betrachtet. Die Argumentation des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (U.v. 11.5.2023 – A 4 2666/22 – juris Rn. 79) und des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts (U.v. 11.10.2023 – 10 LB 18/23 – juris Rn. 89), dass Dublin-Rückkehrende in Deutschland vor einer Rückkehr nach Kroatien vorher regelmäßig anwaltlich vertreten seien und daher im Fall eines (Ketten-)Pushbacks nach Bosnien-Herzegowina oder Serbien Kontaktpersonen hätten, die sie hätten benachrichtigen können, überzeugt nicht. Dabei wird zum einen in letztlich nicht belastbarer Weise unterstellt, dass Betroffene einer Überstellungsentscheidung nach Kroatien stets anwaltlichen Beistand hätten (die aktuellen Dublin-Verfahren vor der Kammer belegen mehrheitlich das Gegenteil). Letztendlich wird mit dieser Argumentation aber in entscheidender Weise der sich aus der Erkenntnismittellage ergebende Umstand übersehen, dass beteiligte Polizeibeamte in (Ketten-)Pushbackmaßnahmen von Kroatien nach Bosnien-Herzegowina oder Serbien regelmäßig Mobiltelefone der Betroffenen zerstört haben, um Beweise zu vernichten und die Kontaktaufnahme zu anwaltlichen Beistand oder NGOs unmöglich zu machen bzw. wenigstens (zeitnah) zu erschweren.
59
Aus dem gleichen Grund überzeugt auch der Verweis des Bundesamts auf die Äußerung der Schweizerischen Botschaft in Kroatien, es sei nicht vorstellbar, dass Dublin-Rückkehrende unmittelbar nach ihrer Ankunft in Z. nach Bosnien-Herzegowina oder Serbien weitergeschoben würden, nicht. Das Bundesamt übersieht dabei, dass die besagte Äußerung der Schweizerischen Botschaft bereits keine eigenen Wahrnehmungen oder Erkenntnisse wiedergibt, sondern lediglich eine Vermutung äußert, die aus einer Situation des Nichtwissens herrührt. Bereits aus diesem Grund kann der diesbezüglichen Äußerung der Schweizerischen Botschaft kein gesteigerter Beweiswert zukommen. Im Übrigen ist es, wie oben ausführlich dargelegt, nach dem anzulegenden Wahrscheinlichkeitsmaßstab zu Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK auch nicht erforderlich, dass eine rechtlich relevante konkrete Gefahr am Maßstab eines schlagenden Beweises nachgewiesen sein müsste. Die von Bundesamt und anderen gerichtlichen Entscheidungen in der Sache erachtete Notwendigkeit eines schlagenden Beweises verstellt den Blick auf die Tatsache, dass Kettenabschiebungen gerade möglichst diskret ablaufen (sollen) und Betroffene dieser Praxis durch die Beseitigung von Beweismitteln die Möglichkeit genommen wird, sich hiergegen mit anwaltlichen Beistand oder mithilfe von NGOs (zeitnah) zur Wehr zu setzen. Insofern liegen der Vorstellung des Bundesamts und anderen gerichtlichen Entscheidungen, die Frage des Vorliegens von Kettenabschiebungen gegenüber nach Kroatien rückgeführten Personen nach dem Dublin-System müsse ausschließlich anhand des Verhaltens der kroatischen Beamten am Flughafen in Z. bzw. etwaig dort vorliegenden Strengbeweismitteln (etwa Videoaufnahmen oder Zeugenaussagen) bewertet werden, fehlerhafte und verengende Grundannahmen zugrunde. Aus den in das Verfahren eingeführten neueren Erkenntnismitteln aus dem Jahr 2023 lässt sich, wie oben ausgeführt, entnehmen, dass auf das bilaterale Rückübernahmeabkommen rückzuführende kollektive Ausweisungen und Massenabschiebungen nach Bosnien-Herzegowina in verdeckter Weise erfolgt sind, um möglichst wenig Aufmerksamkeit zu erregen und den Betroffenen Rechtsschutzmöglichkeiten zu nehmen. Dieser Tatsache bzw. den Erkenntnissen zur Vollzugspraxis des bilateralen Rückübernahmeabkommens zwischen Kroatien und Bosnien-Herzegowina seit April/Mai 2023 ist im Rahmen des anzulegenden Wahrscheinlichkeitsmaßstabs ein wesentlich höheres Gewicht beizumessen als der Verweis des Bundesamts auf die besagte Äußerung der Schweizerischen Botschaft in Kroatien. Im Übrigen ist generell anzumerken, dass sich das Bundesamt für seine Auffassung im Wesentlichen auf Erkenntnismittel bezieht, die älter als diejenigen sind, welche die Kammer in das Verfahren eingeführt hat. Mit letzteren hat sich die Beklagte bislang nicht substantiiert auseinandergesetzt.
60
Das in der mündlichen Verhandlung vom Bundesamt vorgelegte und als „Garantieerklärung“ bezeichnete Schreiben des kroatischen Innenministeriums vom 11. April 2022 stützt nicht die Rechtsauffassung der Beklagten, sondern wirft in mehrfacher Hinsicht weitere Zweifel und Fragen auf. Sinn und Zweck der Einholung einer Zusicherung ist, trotz einer bestehenden kritischen Situation durch detaillierte und zuverlässige Informationen sicherzustellen, dass betroffene Asylsuchende dennoch keinem systemischen Mangel ausgesetzt sein werden, welcher zu einer Verletzung von Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK führen kann (vgl. BayVGH, B.v. 27.2.2023 – 24 ZB 22.50056 – juris Rn. 13). Ausgehend davon und angesichts des konkreten Wortlauts des Schreibens des kroatischen Innenministeriums („Referring to your categorization of Croatia as a country of systemic weaknesses in the asylum system and a country of violent „push-backs“ […]“) stellt sich bereits die Frage, warum das Bundesamt es in einem anderen Verfahren offenbar selbst als erforderlich erachtet hat, eine individuelle Zusicherung gerade mit Blick auf die Problematik des Zugangs zum Verfahren und Pushbacks einzuholen, wenn es nach offizieller Außendarstellung der Ansicht ist, die allgemeine überstellungsrelevante Lage in Kroatien sei unbedenklich. Die Formulierung „your categorization of Croatia as a country of systemic weaknesses“ des kroatischen Innenministeriums (die ersichtlich auf das Bundesamt als anfragende Behörde bezogen ist), zieht die offizielle eigene Außendarstellung des Bundesamts, in Kroatien gebe es keine systemischen Mängel im Asylsystem, in Zweifel. Die weiteren Ausführungen der Beklagten in der mündlichen Verhandlung, sie sei zur Einholung dieser „Zusicherung“ gerichtlich „verpflichtet“ worden, sind unbelegt und auch nicht nachvollziehbar. Soweit in den veröffentlichten verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen ersichtlich, hat lediglich der Beschluss des Verwaltungsgerichts Saarlouis vom 29. Oktober 2020 (5 L 762/20 – juris), der zeitlich deutlich vor dem Schreiben des kroatischen Innenministeriums vom 11. April 2022 liegt, ausdrücklich eine individuelle Zusicherung vom Bundesamt vor einer Überstellung nach Kroatien verlangt. Im Beschluss des Verwaltungsgerichts Braunschweig vom 25. Februar 2022 wird die Relevanz individueller Zusicherungen dagegen nur in den Gründen (2 B 27/22 – juris Rn. 29) erörtert, aber keine ausdrückliche Verpflichtung des Bundesamts ausgesprochen. Unabhängig davon stellt das vom Bundesamt vorgelegte Schreiben des kroatischen Innenministeriums aus dem Frühjahr 2022 aber auch keine individuelle Zusicherung im Rechtsinn dar, da die in der höchstrichterlichen Rechtsprechung genannten erforderlichen Kriterien nicht erfüllt sind (vgl. zu den Maßstäben: BayVGH, B.v. 27.2.2023 – 24 ZB 22.50056 – juris Rn. 13 m.w.N.). Denn die in dem Schreiben zunächst erklärten Zusicherungen stellen sich insgesamt als nicht belastbar dar, da an anderer Stelle Ausführungen vorkommen, die nach den vorliegenden Erkenntnismitteln nachweislich nicht den Tatsachen entsprechen. Inhalt, Stil und Tonalität der weiteren Ausführungen dieses Schreibens ähneln der oben zitierten konfrontativen Gegendarstellung des kroatischen Innenministeriums gegenüber dem Bericht des CPT vom Dezember 2021, der sämtliche Feststellungen und Kritikpunkte des CPT per se leugnet. Dies gilt auch für die Bemerkung, dass Kroatien als einziger EU-Staat eine unabhängige Stelle zur Überwachung der Handlungen von Polizeibeamten im Kontext der Fluchtmigration eingerichtet habe, was nicht stimmt, da auch andere EU-Staaten derartige Stellen im Grenzschutz eingerichtet haben (vgl. beispielhaft EGMR, U.v. 23.7.2020 – M.K. u.a./Polen, Nr. 40503/17, 42902/17, 43643/17 – HUDOC Rn. 174 = NVwZ-RR 2021, 1029/1033). Im Übrigen blendet Kroatien mit dem Verweis auf seine Ombudsstelle gezielt den Umstand aus, dass diese Stelle gegenüber dem kroatischen Innenministerium mehrfach auf Missstände in der Behandlung von Asylsuchenden durch kroatische Polizisten hingewiesen hat, ohne dass hierauf eine Reaktion erfolgt wäre (vgl. CPT, a.a.O., Rn. 6, 30). Diese Reaktionsmuster, jegliche Verantwortlichkeit für Menschenrechtsverletzungen von sich zu weisen bzw. leugnen und stattdessen Organisationen wie dem CPT ein konspiratives Vorgehen mit Geflüchteten zu unterstellen, deuten insgesamt auf fehlendes Problembewusstsein und Kritikfähigkeit der zuständigen staatlichen Stellen Kroatiens hin, wenn Menschenrechtsverstöße in diesem Land von internationalen Organisationen oder aber auch anderen Staaten benannt bzw. auch nur angesprochen werden. Insoweit kommt dem vom Bundesamt in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Schreiben des kroatischen Innenministeriums kein gesteigerter Beweiswert für seine Rechtsauffassung zu.
61
Soweit schließlich das Bundesamt sowie das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht (U.v. 11.10.2023 – 10 LB 18/23 – juris Rn. 92) und der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg (U.v. 11.5.2023 – A 4 S 2666/22 – juris Rn. 81) zentral darauf abheben, dass sich die Situation von Rücküberstellten im Rahmen des Dublin-Systems maßgeblich von derjenigen anderer Asylbewerber unterscheide, welche unmittelbar aus Drittstaaten oder im Wege informeller Rücküberstellungen nach Kroatien gelangen, vermag auch dies in zweifacher Hinsicht rechtlich nicht zu überzeugen. Das in diesem Zusammenhang angeführte Argument, dass Dublin-Rückkehrende bereits im kroatischen Asylsystem registriert seien und sich die dortigen Behörden regelmäßig zur Wiederaufnahme bereit erklärt hätten, ist nicht durchgreifend. Dabei wird zum einen übersehen, dass auch bei Wiederaufnahmen gemäß bilateralen völkerrechtlichen Vereinbarungen der ersuchte Staat gegenüber dem ersuchenden Staat der Rücküberstellung regelmäßig zustimmen muss. Unabhängig davon schließt die positive Beantwortung eines Wiederaufnahmegesuchs gemäß Art. 25 Abs. 1 Dublin III-VO nicht die Möglichkeit aus, dass die rücküberstellte Person durch den zuständigen Dublin-Staat anschließend unter Anwendung nationaler Drittstaatenregelungen sowie bilateraler völkerrechtlicher Rückübernahmeabkommen in einen Drittstaat weitergeschoben wird (vgl. nochmals ausdrücklich BayVGH, U.v. 23.3.2017 – 13a B 17.50003 – juris Rn. 32-34; HessVGH, U.v. 1.9.2017 – 4 A 2987/16.A – juris Rn. 48-51; OVG Saarl, U.v. 9.3.2017 – 2 A 364/16 – juris Rn. 28; NdsOVG, U.v. 20.12.2016 – 8 LB 184/15 – juris Rn. 48-52). In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof der Europäischen Union geurteilt, dass der zuständige Dublin-Staat gerade nicht verpflichtet sei, den ersuchenden Mitgliedstaat über die beabsichtigte Ablehnung des Asylantrags unter Verweis auf nationale Drittstaatenregelungen zu informieren (vgl. EuGH, U.v. 17.3.2016 – C-695/15 PPU, Rs. „Mirza“ – juris Rn. 61 = NVwZ 2016, 753/755 m. Anm. Gutmann). Ausgehend von dieser Entscheidung lässt sich damit entgegen der geäußerten Rechtsansicht des Bundesamts in der mündlichen Verhandlung aus der Zustimmung Kroatiens gemäß Art. 25 Dublin III-VO weder entnehmen, in welchem Verfahrensstadium die Asylverfahren der Kläger wiederaufgenommen würden, noch in welchem Umfang eine Prüfung der Asylanträge überhaupt erfolgen würde. Das Bundesamt unterliegt dabei der fehlerhaften Annahme, dass mit der angekündigten Fortführung der Zuständigkeitsprüfung durch Kroatien gemäß Art. 20 Abs. 5 Dublin III-VO zugleich eine Aussage über den Umfang der Prüfung der Asylanträge getroffen würde (vgl. auch EuGH, U.v. 2.4.2019 – C-582/17, C-583/17 – juris Rn. 60). Das Bundesamt geht in fehlerhafter Weise davon aus, dass die Erklärung Kroatiens gemäß Art. 20 Abs. 5 Dublin III-VO mit der Ankündigung einer sachlich-inhaltlich Prüfung der Asylanträge der Kläger gleichzusetzen sei und übersieht, dass entsprechend der nationalen Rechtsvorschriften und aufgrund des Transits der Kläger durch Bosnien-Herzegowina auch eine Unzulässigkeitsentscheidung durch Kroatien möglich bzw. überwiegend wahrscheinlich ist (vgl. Art. 33 Abs. 2 Buchst. c RL 2013/32/EU, vgl. auch EUAA, a.a.O., Rn. 2.3). Dies bedeutet, dass eine Kettenabschiebung ausgehend vom zuständigen Dublin-Staat in einen Drittstaat wie Serbien oder Bosnien-Herzegowina gemäß den entsprechenden nationalen Vorschriften sowie gemäß völkerrechtlicher bilateraler Vereinbarungen mit diesen Staaten in tatsächlicher Hinsicht überwiegend wahrscheinlich sein kann, selbst wenn Kroatien der Wiederaufnahme im Verhältnis zur Beklagten zugestimmt hat. Entgegen der geäußerten Rechtsansicht der Vertreter der Beklagten in der mündlichen Verhandlung wäre die Erklärung Kroatiens gemäß Art. 20 Abs. 5 Dublin III-VO in diesem Fall auch nicht „wahrheitswidrig“, wenn Kroatien nach Überstellung der Kläger eine Unzulässigkeitsentscheidung gemäß Art. 33 Abs. 2 Buchst. c RL 2013/32/EU treffen würde. Denn wie ausgeführt geht mit der Erklärung nach Art. 20 Abs. 5 Dublin III-VO nicht einher, dass Kroatien damit eine (vollumfängliche) Sachprüfung der Asylanträge ankündigt, abgesehen davon, dass Kroatien nach der zitierten Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union in der Sache „M.“ ohnehin nicht verpflichtet ist, die Beklagte über eine beabsichtigte Unzulässigkeitsentscheidung ausdrücklich in Kenntnis zu setzen.
62
In diesem Zusammenhang geht auch der in der mündlichen Verhandlung geäußerte Einwand des Bundesamts, Art. 20 Abs. 5 Dublin III-VO sei als europarechtliche Spezialvorschrift vorrangig vor dem bilateralen Rückübernahmeabkommen anzuwenden, ins Leere bzw. liegt neben der Sache. Diesem Einwand legt die fehlerhafte Vorstellung eines normativen Spannungsverhältnisses zwischen Art. 20 Abs. 5 Dublin III-VO und dem bilateralen Rückübernahmeabkommen zwischen Kroatien und Bosnien-Herzegowina zugrunde, was nicht der Fall ist. Die Kammer hat in der mündlichen Verhandlung wiederholt ausgeführt, dass das bilaterale Rückübernahmeabkommen, wie auch die nationalen Drittstaatenregelungen Kroatiens, gemäß § 173 VwGO i.V.m. § 293 Satz 1 ZPO auf Tatsachen- und nicht auf Rechtsebene zu berücksichtigen sind. Die Tatsache, dass die Kläger nach dem Ende des Abschiebungsvorgangs in Kroatien diesen ausländischen Rechtsvorschriften bzw. dem zwischenstaatlichen Recht mit Bosnien-Herzegowina unterworfen wären, hat insofern nichts mit einem normativen Spannungsverhältnis zwischen Europarecht und Völkerrecht zu tun. Im Übrigen schließt, wie ausgeführt, eine Fortsetzung der Zuständigkeitsprüfung gemäß Art. 20 Abs. 5 Dublin III-VO eine nachgehende Unzulässigkeitsentscheidung gemäß Art. 33 Abs. 2 Buchst. c RL 2013/32/EU nicht aus.
63
Zuletzt sind ebenso die Ausführungen des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts sowie des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg, die unionsrechtswidrige Behandlung eines Folgeantrags stelle keinen beachtlichen systemischen Mangel im Sinn von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO dar (vgl. NdsOVG, U.v. 11.10.2023 – 10 LB 18/23 – juris Rn. 94 ff.; VGH BW, U.v. 11.5.2023 – A 4 S 2666/22 – juris Rn. 85 ff.), nicht überzeugend. Soweit ausgeführt wird, es sei nicht Aufgabe deutscher Verwaltungsgerichte, im Rahmen des Dublin-Systems Verwaltungsakte kroatischer Behörden auf ihre Rechtswidrigkeit hin zu überprüfen, ist das in dieser allgemeinen Formulierung nicht richtig. Ist der Erlass rechtswidriger Verwaltungsakte des zuständigen Mitgliedstaats Ausprägung einer systemischen Praxis, die zentralen Vorgaben des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems zuwiderläuft und mit der die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung entgegen Art. 4 GRCh einhergehen kann, darf dies sowohl nach der oben zitierten Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union als auch des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht unberücksichtigt bleiben. Richtig ist zwar, dass Asylentscheidungen des zuständigen Mitgliedstaats grundsätzlich nicht auf ihre materiell-rechtliche Richtigkeit vom überstellenden Mitgliedstaat nachgeprüft werden dürfen (vgl. zuletzt EuGH, U.v. 30.11.2023, C-228/21, C-254/21, C-297/21, C-315/21 u. C-328/21 – juris Rn. 140 = ZAR 2023, 423/428). Insofern übersehen aber beide Obergerichte mit ihrer Rechtsansicht, dass es im Kontext des Art. 18 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO nicht um die inhaltliche Nachprüfung von Verwaltungsakten geht, sondern um die Beachtung zentraler unionsrechtlicher Verfahrensgarantien, die mit dem Zugang zu einem Asylverfahren mit uneingeschränkter Prüfung über den Antrag verknüpft sind (vgl. auch SächsOVG, U.v. 6.6.2017 – 4 A 584/16.A – juris Rn. 36). Mit der zitierten gegensätzlichen Entscheidung des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts setzen sich weder das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht noch der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg auseinander. Soweit beide Obergerichte schließlich noch auf die Zumutbarkeit der Inanspruchnahme gerichtlichen Eilrechtsschutzes gegen die unionsrechtswidrige Behandlung als Folgeantrag abstellen, übersehen sie, dass Kroatien von der Möglichkeit nach Art. 9 Abs. 2 RL 2013/32/EU Gebrauch macht und insofern bereits vor Abschluss eines solchen Verfahrens der Eintritt irreversibler Zustände möglich ist.
64
II. Die Nebenentscheidungen des streitbefangenen Bescheids in den Nummern 2, 3 und 4 können demnach keinen rechtlichen Bestand haben. Die Feststellung des Nichtbestehens zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote in Nummer 2 des Bescheids ist vorliegend jedenfalls verfrüht erfolgt (vgl. BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4.16 – juris Rn. 21). Die nach § 38 Abs. 1 Satz 1 AsylG ergangene Ausreiseaufforderung bzw. die nach § 34a Abs. 1 Satz 4 AsylG erlassene Abschiebungsandrohung sind infolge der Aufhebung von Nummer 1 des Bescheids ebenfalls rechtswidrig. Dem angeordneten Einreise- und Aufenthaltsverbot von 19 Monaten ab dem Tag der Abschiebung ist infolge der Aufhebung der Abschiebungsanordnung die rechtliche Grundlage entzogen (vgl. § 75 Nr. 12 AufenthG). Es ist ebenfalls aufzuheben.
65
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO; Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.