Titel:
Merkzeichen RF, Merkzeichen G, UN-Behindertenrechtskonvention, Prozeßbevollmächtigter, Öffentliche Verkehrsmittel, Widerspruchsbescheid, Schwerbehinderte Menschen, Widerspruchsverfahren, Änderungsbescheid, Begleitperson, Grad der Behinderung, Behinderte Menschen, Diskriminierungsverbot, Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, Beweisanordnungen, Klageverfahren, Festgestellte, Nachteilsausgleich, Erhebliche Beeinträchtigung, Streitgegenstand
Schlagworte:
Grad der Behinderung, Merkzeichen, Schwerbehinderung, Cochlea-Implantat, Bewegungsfähigkeit, Begleitperson, Diskriminierungsverbot
Rechtsmittelinstanzen:
LSG München, Beschluss vom 13.02.2025 – L 2 SB 102/24
BSG Kassel, Beschluss vom 30.06.2025 – B 9 SB 9/25 B
Fundstelle:
BeckRS 2024, 48645
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
1
Streitig ist zwischen den Beteiligten dieses sozialgerichtlichen Verfahrens die Höhe des Grades der Behinderung (GdB) des Klägers bzw. die Zuerkennung von Merkzeichen im Sinne des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX).
2
Für den 2003 geborenen Kläger stellten seine Eltern erstmals im Jahr 2005 einen Antrag zur Feststellung des GdB. Nach Prüfung der eingereichten ärztlichen Unterlagen sowie Einholen einer versorgungsärztlichen Stellungnahme stellte das Zentrum ... (...) mit Bescheid vom 27. Dezember 2005 zunächst einen GdB von 60 fest, zusätzlich wurde das Merkzeichen „RF“ zuerkannt. Nach den vorliegenden ärztlichen Berichten würde folgende Gesundheitsstörung vorliegen: Schwerhörigkeit beidseits mit Sprachstörung. Nach Widerspruch erging am 27. Januar 2006 ein Abhilfebescheid, mit dem der GdB auf 80 erhöht wurde. Ein Antrag auf Neufeststellung wurde mit Bescheid vom 18. Oktober 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. März 2008 zunächst abgelehnt. Im Rahmen des sich hieran anschließenden Klageverfahrens vor dem Sozialgericht München Az. S 6 SB 439/08 wurde ein Vergleich geschlossen. Der Beklagte erklärte sich darin bereit, ab 1. März 2009 einen GdB von 100 festzustellen sowie die Merkzeichen „G“, „B“, „H“, „RF“ und „Gl“ zuzuerkennen (vgl. Umsetzungsbescheid vom 4. August 2009).
3
Im Jahr 2019 leitete der Beklagte von Amts wegen eine Nachprüfung ein und forderte aktuelle ärztliche Unterlagen an. Mit Schreiben vom 8. Oktober 2020 wurde die Mutter des Klägers angehört, dass beabsichtigt sei, die Merkzeichen „G“ und „B“ zu entziehen. Mit Änderungsbescheid vom 26. Januar 2021 wurde festgestellt, dass der GdB ab dem Tag nach Bekanntgabe weiterhin 100 betrage, aber nur noch die Merkzeichen „H“, „RF“ und „Gl“ zuerkannt würden. Nunmehr wurden folgende Gesundheitsstörungen festgestellt:
4
Taubheit links, an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit rechts, Spracherwerbsstörung: Einzel-GdB von 30
5
Hiergegen ließ der Kläger am 22. Februar 2021 Widerspruch einlegen. 2019 sei eine völlige Ertaubung festgestellt worden. Der Kläger sei mittlerweile beidseits mit Cochlea Implantaten versorgt, es würde ein stark verzögertes Aufnahmeverständnis neuer Sprachinhalte bestehen. Das Merkzeichen „B“ würde weiterhin beansprucht. Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 24. Juni 2021 als unbegründet zurückgewiesen.
6
Die vorliegenden Behinderungen seien in Übereinstimmung mit den „versorgungsmedizinischen Grundsätzen“ mit einem Gesamt-GdB von 100 und den Merkzeichen „H“, „RF“ „Gl“ richtig bewertet. Es habe sich eine wesentliche Änderung insoweit ergeben, als aufgrund der Vollendung des 16. Lebensjahres des Klägers eine Orientierungsfähigkeit vorliege, die die Beibehaltung der Merkzeichen „G“ und „B“ ausschließe, obwohl die Gehörlosigkeit weiterbestehe. Bei Hörbehinderungen sei eine Störung der Orientierungsfähigkeit nur bei Taubheit oder an Taubheit grenzender Schwerhörigkeit im Kindes- oder Erwachsenenalter bei solchen Hörstörungen in Kombination mit erheblichen Störungen der Ausgleichsfunktion (z.B. Sehbehinderung, geistige Behinderung) anzunehmen. Dies sei beim Kläger nicht gegeben. Es sei nicht feststellbar, dass der Kläger bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel infolge der Behinderung regelmäßig Hilfe benötige.
7
Der Kläger hat am 22. Juli 2021 durch seine Mutter, die als Rechtsanwältin von ihm bevollmächtigt worden war, Klage zum Sozialgericht München erhoben. Der Kläger sei im 3. Lebensjahr nach einer Virusinfektion ertaubt. Es würden trotz beidseitiger Versorgung mit Implantaten Defizite bestehen. Das Merkzeichen „B“ werde weiter begehrt. Wenn eines der Implantate ausfalle, könne der Kläger Durchsagen im öffentlichen Nahverkehr nicht mehr verstehen.
8
Nach Prüfung der eingereichten Arztberichte hat das Gericht mit Beweisanordnung vom 14. Oktober 2021 Frau Prof. Dr. G. zur ärztlichen Sachverständigen bestellt, die am 14. November 2021 ein Hals-Nasen-Ohrenfachärztliches Gutachten erstellte. Diese bestätigte nach ambulanter Untersuchung am 11. November 2021, dass das Merkzeichen „B“ nicht zuzuerkennen sei. Nach Einsetzen des zweiten Implantats im Jahr 2017 verstehe der Kläger gut, er müsse zusätzlich von den Lippen ablesen. Er benötige Hilfe im öffentlichen Nahverkehr nur in ungewohnter Umgebung, nicht in M-Stadt. Er habe dann Angst, sich nicht auszukennen und würde in Menschenmengen nicht gut verstehen. Er habe nach dem Besuch einer Grundschule für Schwerhörige ein privates Regelgymnasium besucht und dieses im Jahr 2021 mit dem Abitur abgeschlossen. Nun studiere er Politikwissenschaften. Das Merkzeichen „B“ sei nur zuzuerkennen, wenn auch das Merkzeichen „G“ vorliege. Letzteres werde aber vom Kläger und seiner Mutter nicht mehr benötigt und sei auch nicht mehr anerkannt worden. Der Kläger sei nicht regelmäßig auf fremde Hilfe angewiesen bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel. Mit den Implantaten höre er so gut wie ein nicht versorgter Schwerhöriger mit knapp geringgradiger Schwerhörigkeit. Die Abklärung von Ängsten und Unsicherheiten im Zusammenhang mit Fahrten außerhalb M-Stadt falle nicht in das Fachgebiet HNO, sondern in das eines Psychiaters.
9
Zum Gutachten führte die Prozessbevollmächtigte des Klägers aus, dass es in diesem Klageverfahren nicht nur um das Merkzeichen „B“ gehe. Allerdings liege das Augenmerk nicht auf dem Merkzeichen „G“. Der Kläger sei nicht gehbehindert. Dieser entscheide, ob er vom Merkzeichen „G“ Gebrauch mache; bislang habe er daraus keine Rechte abgeleitet. Es sei nicht richtig, dass das Merkzeichen „B“ nur beim Vorliegen des Merkzeichens „G“ zuerkannt werden könne. Das Gutachten im Bereich HNO sei nicht erforderlich gewesen, Hörtestergebnisse hätten bereits vorgelegen. Zu klären sei gewesen die Übertragbarkeit auf den Straßenverkehr. Die Unsicherheiten und Ängste des Klägers seien nachvollziehbar, der Besuch eines Psychiaters nicht erforderlich. Es sei nicht verständlich, warum das Merkzeichen „H“ zuerkannt worden sei, nicht aber das Merkzeichen „B“. Die Änderung der Merkzeichen sei erst nach Abschluss der Ausbildung des Klägers angezeigt.
10
Auf Anforderung des Gerichts hat die Gutachterin am 25. September 2023 zu den Einwänden der Klägerseite eine ergänzende Stellungnahme abgegeben. Eine Beurteilung zum Merkzeichen „G“ sei im Rahmen der Beweisanordnung nicht verlangt worden, obwohl Gleichgewichtsstörungen mit Gehbehinderung in das HNO-Fachgebiet gehörten. Es sei nicht nachvollziehbar, weshalb der Kläger nicht bereits 2009 mit Implantaten versorgt worden sei. Zur Beurteilung einer Hilflosigkeit von Kindern sei nur der Teil zu berücksichtigen, der wegen der Behinderung dem Umfang der Hilfebedürftigkeit eines gesunden gleichaltrigen Kindes überschreitet. Bei Taubheit sei Hilfslosigkeit bis etwa zum 16. Lebensjahr (Abschluss der Gehörlosenschule) anzunehmen. Bei blinden und hirngeschädigten Personen würden die Merkzeichen „G“, „B“ und „H“ nicht mit Erreichen des 16. Lebensjahres entfallen; anders sei dies bei Taubheit.
11
Die Klägerseite hat hierzu erwidert, dass das Merkzeichen „B“ zur Mitnahme einer Hilfsperson berechtige, aber nicht verpflichte. Auf die Aufforderung, ein Gutachten von einem in versorgungsmedizinischen Fragen besonders qualifizierten Sachverständigen einzuholen, hat das Gericht erläutert, dass dies auf S. zutreffe. Es werde von Amts wegen kein weiteres Sachverständigengutachten in Auftrag gegeben. Der Beklagte hat einen Vergleichsvorschlag der Klägerseite vom 6. Februar 2024 dahingehend, die Merkzeichen „B“ und „G“ erst nach Auslaufen des aktuellen Schwerbehindertenausweises zum 31. Dezember 2024 nicht mehr zu erteilen, abgelehnt.
12
Zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung hat das Gericht am 14. März 2024 noch einen aktuellen Befundbericht des behandelnden Arztes H2 eingeholt. Dieser hat ausgeführt, dass sich die Befunde nicht verschlechtert hätten. Es gebe mit den Implantaten keine Beschwerden. Nur werde die erneute Teilnahme am Hörtraining empfohlen. Vor Einsetzen des ersten Implantats habe es starke innerfamiliäre Konflikte gegeben; der Vater habe die Implantatversorgung wohl zunächst abgelehnt. Die erste Zeit nach der Operation sei für den Kläger traumatisch gewesen, er habe deshalb damals eine Gesprächstherapie empfohlen.
13
In der mündlichen Verhandlung am 6. Juni 2024 ist der Kläger nicht erschienen. Seine Prozessbevollmächtigte hat klargestellt, dass die Verhandlung für ihn zu belastend sei; auch könne sie als Mutter alle Fragen beantworten. Sie hat ausgeführt, dass der Kläger nach der ersten Operation im Jahr 2012 Hörtraining absolviert und auch jahrelang an Logopädie teilgenommen habe. Nach der zweiten Operation seien dann Apps zum Üben zum Einsatz gekommen. Er besuche aktuell die Universität. Hier sei der Dozent über Funk mit den Implantaten des Klägers verbunden. Der Kläger könne aber aufgrund der hohen Belastung nicht zwei Vorlesungen hintereinander besuchen, auch erhalte er bei Prüfungen einen Nachteilsausgleich. Im öffentlichen Nahverkehr benötige er nicht ständig eine Begleitperson, sofern er in ihm bekannten Gebieten unterwegs sei. Es sei aber wichtig, dass eine Begleitperson da ist, wenn er es wolle. Beispielsweise bei einer Untersuchung am Flughafen vor einem Flug habe die Mutter den Kläger nur aufgrund des Merkzeichens „B“ begleiten und unterstützen dürfen. Der Kläger würde nie allein fliegen. Aus der UN-Behindertenrechtskonvention im Hinblick auf die Menschenwürde ergebe sich, dass die VMG dergestalt ausgelegt werden müssten, dass das Merkzeichen „B“ nicht nur jemand erhalte, der dauernd Hilfe benötigt. Sondern es müsse auch einem behinderten Menschen zustehen, wenn er nicht dauernd eine Begleitperson braucht, er müsse selbst entscheiden dürfen, wann er von dem Merkzeichen Gebrauch macht.
den Bescheid vom 26. Januar 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. Juni 2021 dahingehend abzuändern, dass zusätzlich das Merkzeichen „B“ ab 27. Januar 2021 weiter zuerkannt wird.
15
Der Beklagte beantragt,
16
Nach den versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VMG) könne das Merkzeichen „B“ zusätzlich zuerkannt werden, wenn die Merkzeichen „G“ oder „H“ vorliegen würden. Bei Taubheit sei das Merkzeichen „H“ bis zum Ende der ersten Ausbildung festzustellen. Denn es handele sich mit dem Beginn der Ausbildung um eine besonders schwierige Lebensphase mit erhöhtem Kommunikationsbedarf. Das Merkzeichen „H“ werde dann aus diesem Grund zuerkannt; man könne dadurch nicht automatisch darauf schließen, dass auch regelmäßige Hilfe im öffentlichen Nahverkehr notwendig sei. Die Ablehnung der Merkzeichen „B“ und „G“ sei korrekt.
17
Im Übrigen wird zur Ergänzung des Sachverhalts auf die Gerichtsakte und die beigezogene Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
18
Die Klage ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben. Sie ist aber unbegründet.
19
Gemäß § 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden auf Antrag das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung zum Zeitpunkt der Antragstellung fest. Menschen sind nach § 2 Abs. 1 SGB IX behindert, wenn sie körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine solche Beeinträchtigung liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. Menschen sind schwerbehindert, wenn bei ihnen ein Grad der Behinderung von wenigstens 50 vorliegt und sie ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des § 156 SGB IX rechtmäßig im Geltungsbereich dieses Gesetzbuches haben, vgl. § 2 Abs. 2 SGB IX.
20
Die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als Grad der Behinderung nach Zehnergraden abgestuft festgestellt. Eine Feststellung ist gemäß § 152 Abs. 1 Satz 3, Satz 4 SGB IX nur zu treffen, wenn ein Grad der Behinderung von wenigstens 20 vorliegt. Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird nach § 152 Abs. 3 Satz 1 SGB IX der Grad der Behinderung nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt. Diese darf nicht durch Anwendung von mathematischen Formeln, sondern muss aufgrund einer nachvollziehbaren ärztlichen Einschätzung festgesetzt werden. Wichtigstes Hilfsmittel für die ärztliche Bewertung sind dabei die „Versorgungsmedizinischen Grundsätze“ (VMG) in der Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008. Diese regelt gemäß § 153 SGB IX die Grundsätze für die medizinische Bewertung einer Behinderung, des Grades der Behinderung (GdB) sowie von Merkzeichen.
21
Die Feststellung eines Gesamt-GdB von 100 sowie die Zuerkennung der Merkzeichen „H“ (Hilflosigkeit), „RF“ (Befreiung von den Rundfunkgebühren) und „Gl“ (Gehörlosigkeit) durch den Beklagten ist hier unstrittig und nicht zu beanstanden. Bei angeborener oder bis zum 7. Lebensjahr erworbener Taubheit oder an Taubheit grenzender Schwerhörigkeit mit Sprachstörungen ist in der Regel ein GdB von 100 lebenslang festzustellen, vgl. VMG Nr. 5.1. Im Streit steht in diesem Klageverfahren ausschließlich die Zuerkennung des Merkzeichens „B“ (Berechtigung für eine ständige Begleitung). Soweit wie hier eine Versorgung mit Cochlea-Implantaten erfolgt ist, soll nicht stets unterschiedlos ein GdB von 100 festgestellt werden, sondern es ist je nach Ausmaß des Spracherwerbs im Einzelfall ein GdB von 80 bis 100 gerechtfertigt (vgl. Bundessozialgericht, Beschluss vom 20. Januar 2020, Az. B 9 SG 28/19 B).
22
Im Rahmen des Widerspruchsverfahrens hatte sich die Klägerseite auch noch gegen die Aberkennung des Merkzeichens „G“ (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) gewendet, dies aber ausdrücklich bei Klageerhebung nicht mehr weiterverfolgt. Da der Kläger anwaltlich vertreten ist, blieb auch kein Raum für eine anderweitige Auslegung seines Begehrens im Rahmen des Meistbegünstigungsprinzips (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/ Keller/ Schmidt: SGG-Kommentar, 14. Aufl. 2023, § 123 Rn. 3). Zudem hatte die Prozessbevollmächtigte die Zuerkennung des Merkzeichen „G“ zuletzt in der mündlichen Verhandlung nicht mehr beantragt.
23
Für das Merkzeichen „B“ gilt nach den VMG Teil D Nr. 2 Folgendes: Für die unentgeltliche Beförderung einer Begleitperson ist nach dem SGB IX die Berechtigung für eine ständige Begleitung zu beurteilen. Auch bei Säuglingen und Kleinkindern ist die gutachtliche Beurteilung der Berechtigung für eine ständige Begleitung erforderlich. Für die Beurteilung sind dieselben Kriterien wie bei Erwachsenen mit gleichen Gesundheitsstörungen maßgebend. Es ist nicht zu prüfen, ob tatsächlich diesbezügliche behinderungsbedingte Nachteile vorliegen oder behinderungsbedingte Mehraufwendungen entstehen.
24
Eine Berechtigung für eine ständige Begleitung ist bei schwerbehinderten Menschen (bei denen die Voraussetzungen für die Merkzeichen „G“, „Gl“ oder „H“ vorliegen) gegeben, die bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln infolge ihrer Behinderung regelmäßig auf fremde Hilfe angewiesen sind. Dementsprechend ist zu beachten, ob sie bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel regelmäßig auf fremde Hilfe beim Ein- und Aussteigen oder während der Fahrt des Verkehrsmittels angewiesen sind oder ob Hilfen zum Ausgleich von Orientierungsstörungen (z. B. bei Sehbehinderung, geistiger Behinderung) erforderlich sind. Die Berechtigung für eine ständige Begleitung ist anzunehmen bei Querschnittgelähmten, Ohnhändern, Blinden und Sehbehinderten, Hörbehinderten, geistig behinderten Menschen und Anfallskranken, bei denen die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr gerechtfertigt ist.
25
Streitgegenstand ist hier der Änderungsbescheid vom 26. Januar 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. Juni 2021. Mit diesem wurden die Merkzeichen „B“ und „G“ aberkannt.
26
Statthafte Klageart ist eine reine Anfechtungsklage gemäß § 54 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 SGG, gerichtet auf Aufhebung der o. g. Bescheide. Die Feststellungsbescheide des Beklagten stellen Verwaltungsakte mit Dauerwirkung dar (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 17. April 2014, Az. B 9 SB 6/12 R).
27
Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Im Schwerbehindertenrecht ist von einer Änderung im Gesundheitszustand des behinderten Menschen auszugehen, wenn diese die Erhöhung oder Herabsetzung des Gesamt-GdB um wenigstens 10 bedingt (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 17. April 2013, Az. B 9 SB 3/12 R). Eine wesentliche Änderung liegt auch vor bei Zuerkennung oder Wegfall von Merkzeichen.
28
Die nach § 24 Abs. 1 SGB X erforderliche Anhörung ist am 8. Oktober 2020 erfolgt.
29
Nach Einschätzung der Kammer lag auch eine wesentliche Änderung im Vergleich zum letzten (Umsetzungs-) Bescheid vom 4. August 2009 vor. Die Gesundheitsstörungen des Klägers im Bereich des Hörens führten und führen dazu, dass ein Gesamt-GdB von 100 nach wie vor angemessen ist. Auch die Voraussetzungen für die Merkzeichen „H“, „RF“ und „Gl“ liegen weiterhin vor. Im Hinblick auf das Merkzeichen „H“ ist zu beachten, dass gemäß VMG Teil A Nr. 5 d) ee) und e) bei Taubheit und an Taubheit grenzender Schwerhörigkeit Hilflosigkeit ab Beginn der Frühförderung und dann – insbesondere wegen des in dieser Zeit erhöhten Kommunikationsbedarfs – in der Regel bis zur Beendigung der Ausbildung anzunehmen ist. Zur Ausbildung zählen in diesem Zusammenhang: der Schul-, Fachschul- und Hochschulbesuch, eine berufliche Erstausbildung und Weiterbildung sowie vergleichbare Maßnahmen der beruflichen Bildung. Wenn bei Kindern und Jugendlichen Hilflosigkeit festgestellt worden ist, muss bei der Beurteilung der Frage einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse Folgendes beachtet werden: Die Voraussetzungen für die Annahme von Hilflosigkeit können nicht nur infolge einer Besserung der Gesundheitsstörungen entfallen, sondern auch dadurch, dass behinderte Jugendliche infolge des Reifungsprozesses – etwa nach Abschluss der Pubertät – ausreichend gelernt haben, die wegen der Behinderung erforderlichen Maßnahmen selbstständig und eigenverantwortlich durchzuführen, die vorher von Hilfspersonen geleistet oder überwacht werden mussten.
30
Für die Merkzeichen „G“ und „B“ bei Kindern und Jugendlichen gilt aber, dass hier kein Vergleich mit gleichaltrigen nichtbehinderten Menschen anzustellen ist. Sondern es muss geprüft werden, ob die vorliegenden Gesundheitsstörungen bei Erwachsenen die Zuerkennung dieser Merkzeichen rechtfertigen würden (vgl. Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 28. Juli 2014, Az. L 3 SB 195/13).
31
Unter Beachtung dieser Grundsätze ist nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme davon auszugehen, dass der Beklagte den gesundheitlichen Verhältnissen des Klägers in den angefochtenen Bescheiden mit der Feststellung eines Gesamt-GdB von 100 und der Zuerkennung der Merkzeichen „H“, „RF“ und „Gl“ ausreichend Rechnung getragen hat. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens „B“ liegen beim Kläger nicht vor, das Merkzeichen „G“ war nicht zu prüfen (s.o.).
32
Die Kammer stützt sich insofern auf die Darlegungen der nach § 106 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hinzugezogenen ärztlichen Sachverständigen Prof. Dr. G.. Gemäß § 106 Abs. 3 Nr. 5 SGG kann das Gericht die Begutachtung durch (insbesondere medizinische) Sachverständige zur Aufklärung des Sachverhalts anordnen und ausführen.
33
Das Merkzeichen „B“ erhalten nur schwerbehinderte Menschen, bei denen zusätzlich die Merkzeichen „G“, „Gl“ oder „H“ festgestellt worden sind (vgl. Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 28. Juli 2009, Az. L 15 SB 151/06 R). Erforderlich ist weiter, dass der Betroffene bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel regelmäßig und dauerhaft auf fremde Hilfe angewiesen sein muss, mithin bei der weit überwiegenden Zahl öffentlicher Verkehrsmittel und beim größten Teil der zurückgelegten Fahrten. S. hat festgestellt, dass der Kläger (zumindest nicht mehr) regelmäßig auf fremde Hilfe bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel angewiesen ist. Seine Mutter hat dies in der mündlichen Verhandlung bestätigt. Aufgrund der Implantatversorgung würde der Kläger so gut hören wie ein nicht versorgter Schwerhöriger mit knapp geringgradiger Schwerhörigkeit. Dabei verkennt das Gericht nicht, dass der Kläger, wie auch von der Prozessbevollmächtigten geschildert, anders als eine gesunde Person dennoch erhebliche Schwierigkeiten im Alltag, beim Besuch der Universität und auch im Bereich Mobilität hat, etwa bei Flugreisen oder bei Fahrten im Nah- und Fernverkehr in unbekannter Umgebung. Die festgestellten Gesundheitsstörungen führen nach wie vor zu einer erheblichen Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit, weshalb völlig zu Recht weiterhin ein GdB von 100 und die o. g. Merkzeichen festgestellt worden waren. Lediglich das hier streitgegenständliche Merkzeichen „B“ kann nicht mehr zuerkannt werden. Der Kläger ist hörbehindert, aber die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr ist nicht gerechtfertigt: Gemäß VMG Teil D Nr. 2 c) ist für hörbehinderte Menschen, die das Merkzeichen „G“ besitzen, die Berechtigung für eine ständige Begleitung stets anzunehmen. Wenn das Merkzeichen „G“ in diesem Fall aufgrund von Seh- und Orientierungsstörungen gewährt wurde, liegen grundsätzlich die Voraussetzungen des Merkzeichens „B“ ebenfalls vor, auch wenn der Betroffene in einem engen vertrauten Umfeld keiner Hilfe bedarf. Diese Fallgestaltung trifft auf den Kläger nicht zu. Das Merkzeichen „G“ wurde aberkannt und wird nicht weiterverfolgt. Der Kläger ist nicht nur in einem engen Radius, sondern im gesamten M-Stadt Stadtgebiet in der Lage, ohne Hilfe öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Auch führt die Versorgung mit den Cochlea-Implantaten dazu, dass die Hörbehinderung anders zu beurteilen ist (s.o.). Nach Einschätzung der Gutachterin hört der Kläger damit so gut wie ein nicht versorgter Schwerhöriger mit knapp geringgradiger Schwerhörigkeit.
34
Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Einwand der Klägerbevollmächtigten, die Voraussetzungen für das Merkzeichen „B“ müssten im Hinblick auf die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) abweichend ausgelegt werden: Die UN-BRK dient dazu, die bereits anerkannten allgemeinen Menschenrechte aus anderen Menschenrechtsübereinkommen auf die Situation von Menschen mit Behinderungen zu konkretisieren und Diskriminierung und Ausgrenzung entgegenzuwirken. Das in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 Grundgesetz (GG) enthaltene Diskriminierungsverbot garantiert, dass niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden darf. Der umfassende Behindertenbegriff gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX (s.o.) gebietet im Hinblick auf dieses Diskriminierungsverbot die Einbeziehung aller körperlichen, geistigen und seelischen Beeinträchtigungen (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 11. August 2015, Az. B 9 SB 1/14 R).
35
Vor diesem Hintergrund ist die Klägerseite der Auffassung, dass die VMG Teil D Nr. 2 b) bzw. c) anders auszulegen sind. Die behinderte Person solle zum einen selbst entscheiden können, ob sie von zuerkannten Merkzeichen Gebrauch macht. Zum anderen solle das Merkzeichen „B“ auch denjenigen behinderten Menschen zustehen, die im öffentlichen Nahverkehr nicht regelmäßig auf fremde Hilfe angewiesen sind. Die Kammer sieht hier trotz der o. g. Vorgaben zum Schutz behinderter Menschen vor Diskriminierung keine Möglichkeit und Notwendigkeit, vom insoweit unzweideutigen Wortlaut der VMG abzuweichen. Das Merkzeichen „B“ erhält nur, wer weit überwiegend nicht ohne Begleitperson im öffentlichen Nahverkehr unterwegs sein kann. Nur in diesem Fall ist es gerechtfertigt, das Merkzeichen „B“ zuzuerkennen als Nachteilsausgleich. Da diese Voraussetzungen nach der Überzeugung des Gerichts nicht vorliegen, kann das Merkzeichen „B“ beim Kläger nicht festgestellt werden. Anhaltspunkte, dass VMG Teil D Nr. 2 gegen geltendes Verfassungsrecht oder die UN-BRK verstößt, werden nicht gesehen.
36
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ergebnis in der Sache selbst.