Titel:
Nachbarstreit, Heranrückende Wohnbebauung
Normenketten:
BauGB § 34
BauNVO § 15 Abs. 1 S. 2
Schlagworte:
Nachbarstreit, Heranrückende Wohnbebauung
Fundstelle:
BeckRS 2024, 44271
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
1
Der Kläger begehrt die Aufhebung einer Baugenehmigung zur Errichtung zweier Mehrfamilienhäuser, welche der Beklagte der Beigeladenen erteilt hat.
2
Der Kläger ist Eigentümer des Grundstücks FlNr. 278/6 Gem. …, das mit einem Lebensmitteldiscounter („P.-Markt“) bebaut ist. Mit Baugenehmigung vom 22. Januar 2007 wurde für das Grundstück die Neuerrichtung eines Lebensmitteldiscounters baurechtlich genehmigt. Gemäß Nr. 1 a) des Bescheides ist der Inhalt des Schreibens des Landratsamts, SG 41, vom 2. Oktober 2006 Bestandteil der Baugenehmigung. Danach sind hinsichtlich des Lärmschutzes die Bestimmungen der Technischen Anleitung zum Schutz gegen Lärm (TA Lärm) zu beachten. Weiter wird festgelegt, dass die von der Anlage ausgehenden Lärmimmissionen die reduzierten Immissionsrichtwerte eines Mischgebiets von 57 dB(A) tags und 42 dB(A) an der meistbetroffenen umliegenden Wohnbebauung, insbes. auf FlNnr. 278/36, 278, 330 und 330/1, nicht überschreiten dürfen. Kurzzeitige Geräuschspitzen dürfen am Tag nicht mehr als 90 dB(A) und während der Nacht nicht mehr als 65 dB(A) betragen. Weiter dürfen die von der Anlage ausgehenden Lärmimmissionen die reduzierten Immissionsrichtwerte eines allgemeinen Wohngebiets von 52 dB(A) tags und 37 dB(A) nachts an der meistbetroffenen umliegenden Wohnbebauung, insbes. FlNrn. 278/42, 278/47, nicht überschreiten. Geräuschspitzen dürfen am Tag nicht mehr als 85 dB(A) und während der Nacht nicht mehr als 60 dB(A) betragen. Zu- und Abluftgebläse der Kühlaggregate sind nach dem aktuellen Stand der Schallschutztechnik auszuführen und beim Überschreiten der o.g. Immissionswerte mit ausreichend dimensionierten Schalldämpfern zu versehen. Lärmschutztechnisch relevante Betriebseinrichtungen sind regelmäßig zu warten, zu reinigen und zu prüfen, damit ihre schalltechnische Wirkung erhalten bleibt. Unter „Hinweise“ wird ausgeführt: „LKW-Lieferungen während der Nachtzeit sind nur zulässig, wenn die schalltechnische Verträglichkeit mit der umliegenden Wohnnachbarschaft (je nach Gebietstyp nach BauNVO, s.o.) nachgewiesen wurde. Der Nachweis kann in Form einer Berechnung durch ein gem. § 25 BImSchG zugelassenes Messinstitut erfolgen.“ Ein solcher Nachweis findet sich nicht bei den Akten. Mit Bescheid vom 22. August 2007 erteilte der Beklagte eine Tekturgenehmigung betreffend Grundriss- und Fassadenänderungen sowie Änderung der Stellplatzanordnung. Gemäß Nr. 1 der Tekturgenehmigung gelten die in der Baugenehmigung vom 22. Januar 2007 festgelegten Nebenbestimmungen mit Ausnahme des Hinweises c) zur Abstandsflächenübernahme unverändert weiter. Eine Betriebsbeschreibung befindet sich bei den Akten nicht. Während des Baugenehmigungsverfahrens bestellte der Rechtsvorgänger des Klägers zugunsten des Marktes G. eine beschränkt persönliche Dienstbarkeit an o.g. Grundstücks mit dem Inhalt, dass der Begünstigte berechtigt ist, die Kundenparkplätze außerhalb der Öffnungszeiten unentgeltlich zu öffentlichen Zwecken mitzubenutzen und durch Dritte nutzen zu lassen (Urkunde des Notars T.J., …, URNr. . … vom 31. Juli 2006).
3
Das Grundstück des Klägers befindet sich im Geltungsbereich des Bebauungsplanes „… Ortseingang-Süd“, der ein Mischgebiet festsetzt. In seiner dritten Änderung von 2006 führt der Bebauungsplan „…-Ortseingang-Süd“ in IV. Textliche Hinweise, Nr. 1 aus, dass „LKW-Anlieferungen (…) für den südlich davon festgesetzten Einkaufsmarkt nur von 6.00 Uhr bis 22.00 Uhr zulässig“ seien.
4
Für die Vorhabengrundstücke FlNrn. 278 und 278/51 Gem. … besteht kein Bebauungsplan.
5
Für die Vorhabengrundstücke erteilte der Beklagte der Beigeladenen unter dem 19. Juli 2021 die Baugenehmigung zum Neubau von drei Doppelhäusern mit zwei Einzelgaragen und zwei Doppelgaragen (4.40 BV- …1). Hiergegen wandte sich der Kläger mit Klage (M 1 K 21.4387) und Eilantrag (M 1 SN 21.4419) vom 17. August 2021). Im Zuge dessen nahm die Beigeladene eine Umplanung vor und beantragte am 21. April 2022 die Erteilung einer Baugenehmigung für den Neubau von zwei Mehrfamilienhäusern mit zwei Nebengebäuden und sechs Fertigteilgaragen auf den Vorhabengrundstücken samt Erteilung von Abweichungen von der Ortsgestaltungssatzung der Gemeinde. Im Verfahren legte sie ein Schalltechnisches Gutachten der M. … … AG vom 20. Mai 2022 vor.
6
Hierzu nahm das Sachgebiet Immissionsschutz und Abfallrecht des Landratsamts unter dem 17. Juni 2022 Stellung.
7
In der Folge legte die Beigeladene eine überarbeitete Version des Berichts Nr. 710- … der M. … … AG vom 12. Juli 2022 vor. Hierzu nahm der Fachbereich Immissionsschutz unter dem 2. August 2022 Stellung. Die Einhaltung der Immissionsrichtwerte und des Spitzenpegelkriteriums für ein allgemeines Wohngebiet sei nur dadurch möglich, dass die betroffenen Fensteröffnungen auf der Süd- und Westseite des DG zwingend festverglast umgesetzt werden, somit lägen dort keine Immissionsorte vor. Weiter handle es sich bei den im Eingabeplan dargestellten Räumlichkeiten auf der dem Lärm zugewandten Seite fast vollständig um nicht schützenswerte Räumlichkeiten gemäß DIN 4109. Das erforderliche Mindestschalldämmmaß der Schallabschirmung und der Schallschutzohren betrage für beide Häuser jeweils RW=20 dB.
8
Unter dem 3. August 2022 erteilte der Beklagte der Beigeladenen die streitgegenständliche Baugenehmigung nebst Abweichungen von den Vorschriften der Gestaltungssatzung der Markgemeinde (I. Nr. 1 und II.1.2 des Bescheids). Die Bauvorlagen und die weiteren Antragsunterlagen, insbesondere das schalltechnische Gutachten der M. … AG vom 12. Juli 2022, wurden zum Gegenstand der Baugenehmigung gemacht. Unter II. Nebenbestimmungen, dort Nr. 2, wurden folgende immissionsschutzrechtliche Nebenbestimmungen festgelegt:
2.1 Die Schallschutzohren an der Südwestecke der Häuser 1 und 2 sowie die westlichen Seitenwände der beiden Nebengebäude mit der Bezeichnung Geräte 2 H1, Geräte 3 H1, Geräte2 H2und Geräte 3 H2an der westlichen Grundstücksgrenze sind jeweils entsprechend dem Eingabeplan und dem schalltechnischen Gutachten der M. … AG vom Juli 2022 mit einem Schalldämmmaß von Rw = 20 dB auszuführen.
2.2 Im Dachgeschoss des Hauses 1 ist das westliche Fenster des Kinderzimmers zwingend festverglast und als nicht zu öffnen auszuführen.
2.3 Im Dachgeschoss des Hauses 2 sind das westliche Fenster des Kinderzimmers und die südliche Doppeltür des Standgiebels im Bereich des Wohnzimmers zwingend festverglast und als nicht zu öffnen auszuführen.
9
In I.2 des Bescheids hob der Beklagte die Baugenehmigung vom 19. Juli 2021 zum Neubau von drei Doppelhäusern mit zwei Einzelgaragen und zwei Doppelgaragen auf. Mit Beschlüssen jeweils vom 24. Januar 2023 stellte das Bayerische Verwaltungsgericht München die gegen die Baugenehmigung vom 19. Juli 2021 gerichtete Klage (M 1 K 21.4387) und das Eilverfahren (M 1 SN 21.4419) nach übereinstimmender Erledigterklärung ein.
10
Gegen I.1 der Baugenehmigung hat der Kläger am … August 2022 Klage und mit Antrag vom 21. November 2022 (M 1 SN 22.5762) zudem Eilrechtsschutz gesucht. Das Verwaltungsgericht München hat den Antrag mit Beschluss vom 20. Dezember 2023 abgelehnt. Die hiergegen eingelegte Beschwerde zum Bayerischen Verwaltungsgerichtshof (1 CS 24.16) ist erfolglos geblieben.
11
Im vorliegenden Verfahren hat der Kläger beantragt,
Der Baugenehmigungsbescheid des Landratsamts … vom 3. August 2022, Geschäftszeichen: 4.40-BV- …2, dem Kläger zugestellt am 10. August 2022, wird aufgehoben.
12
Die Baugenehmigung verletze ihn unter dem Gesichtspunkt der heranrückenden Wohnbebauung im Rücksichtnahmegebot. Zudem seien für die Errichtung der beiden Nebengebäude in rechtswidriger Weise Befreiungen von der Gestaltungssatzung erteilt worden.
13
Der Beklagte beantragt
14
Die Beigeladene beantragt
15
Wegen der weiteren Einzelheiten wird ergänzend auf die Gerichtsakte sowie die beigezogenen Behördenakten, auch in den Verfahren M 1 SN 22.5762, M 1 K 21.4387 und M 1 SN 21.4419 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
16
Der zulässige Drittrechtsbehelf bleibt erfolglos. Die angefochtene Baugenehmigung ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
17
Dritte können sich gegen eine Baugenehmigung nur dann mit Aussicht auf Erfolg zur Wehr setzen, wenn die angefochtene Baugenehmigung rechtswidrig ist und diese Rechtswidrigkeit zumindest auch auf der Verletzung von Normen beruht, die gerade auch dem Schutz des betreffenden Nachbarn zu dienen bestimmt sind (BayVGH, B.v. 21.7.2020 – 2 ZB 17.1309 – juris Rn. 4; B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris Rn. 20). Es genügt daher nicht, wenn die Baugenehmigung gegen Rechtsvorschriften des öffentlichen Rechts verstößt, die nicht – auch nicht teilweise – dem Schutz der Eigentümer benachbarter Grundstücke zu dienen bestimmt sind. Dementsprechend findet im gerichtlichen Verfahren keine umfassende Rechtskontrolle statt, vielmehr hat sich die gerichtliche Prüfung darauf zu beschränken, ob durch die angefochtene Baugenehmigung drittschützende Vorschriften, die dem Nachbarn einen Abwehranspruch vermitteln und im Baugenehmigungsverfahren zu prüfen waren, verletzt werden (BayVGH, B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris Rn. 20).
18
1. Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt die Kammer zunächst auf die Beschlüsse des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 20. Dezember 2023 im Verfahren M 1 SN 22.5762 sowie des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 11. März 2024 im Beschwerdeverfahren 1 CS 24.16 Bezug und macht sich die Ausführungen auch für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Baugenehmigung im vorliegenden Hauptsacheverfahren zu eigen (zur Möglichkeit, neben dem angefochtenen Verwaltungsakt – § 117 Abs. 5 VwGO – auch auf den Beteiligten bekannte Entscheidungen Bezug zu nehmen siehe Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Auflage 2018, § 117 Rn. 85).
19
2. Ergänzend wird hinsichtlich der klägerseitigen Schriftsätze vom 12. November 2024 und 14. November 2024 – soweit sie neues Vorbringen beinhalteten – ausgeführt wie folgt:
20
2.1 Der Kläger vertritt die Auffassung, bereits seit dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 29. November 2012 (BVerwG, U.v.29.11.2012 – 4 C 8.11 – BVerwGE 145, 145) sei geklärt, dass passiver Schallschutz nicht zulässig sei (s. hierzu die Ausführungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs im Beschluss vom 11. März 2024 – 1 CS 24.16 – juris Rn. 12), und sieht dies durch einen Referentenentwurf zur Änderung der TA Lärm, insbesondere dessen Vorschlag zur Einfügung einer neuen Nr. 7.5, bestätigt. Gerade der Referentenentwurf zeige auf, dass es für den Lärmkonflikt, der durch an Gewerbegebiete heranrückende Wohnbebauung entstehe, an einer gesetzlichen Regelung fehle. Daher könne die angefochtene Baugenehmigung auch nicht anhand der TA Lärm beurteilt werden. Hierbei verkennt der Kläger offenbar, dass die in der TA Lärm geregelten Immissionsrichtwerte nicht nur bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Errichtung von emittierenden Anlagen gelten, sondern nach der etablierten obergerichtlichen Rechtsprechung spiegelbildlich für das Heranrücken von Wohnbebauung unter dem Gesichtspunkt des „sich Aussetzens“ herangezogen werden (s. hierzu z.B. die Ausführungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs im B.v. 11.3.2024 – 1CS 24.16 – juris Rn. 8). Bei der Festverglasung von Fenstern sowie der Ausgestaltung einer Terrasse mit sog. Lärmschutzohren handelt es sich nicht um Maßnahmen des passiven Lärmschutzes. Insoweit darf zur Vermeidung von Wiederholungen auf die ausführlichen Ausführungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs im o.g. Beschluss, dort. Rn. 13 ff., Bezug genommen werden. Bei dem Referentenentwurf handelt es sich nicht um den Schluss einer Regelungslücke, sondern um die Schaffung von weiteren Erleichterungen von Vorhaben in bestimmten Baugebieten unter der Voraussetzung von entsprechenden Regelungen in Bauleitplänen. Die vom Kläger zitierte Entscheidung der 9. Kammer des Verwaltungsgerichts München (M 9 SN 22.167) betrifft einen anderen Sachverhalt (Fenster, die zu Reinigungszwecken doch zu öffnen waren oder einen weiteren Vorbau hatten; die Nichtbeachtung von zu öffnenden Terrassentüren und die Fraglichkeit der Nutzbarkeit ohne Lüftung). Auf die mangelnde Vergleichbarkeit hat bereits der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in seinem Eilbeschluss hingewiesen.
21
2.2 Auch aus dem klägerischen Vortrag, der Beklagte habe mangels Auflagen zur Anordnung der Wohn- und Aufenthaltsräume nicht sichergestellt, dass der erforderliche Lärmschutz eingehalten werden kann, weil so eine nachträgliche Änderung der Situierung der Räume möglich sei, folgt keine Verletzung des Rücksichtnahmegebots. Der Inhalt einer Baugenehmigung ergibt sich stets (u.a.) aus dem Baugenehmigungsbescheid sowie den gestempelten Eingabeplänen. Sollte es zu einer Änderung der Anordnung der Wohn- und Aufenthaltsräume kommen, handelte es sich um eine Planabweichung, die dem jeweiligen Bauherrn naturgemäß nicht das Recht vermittelt, vom Lärm benachbarter Anlagen verschont zu bleiben.
22
2.3 Die Ausführungen des Klägers zur Rechtmäßigkeit der erteilten Befreiungen von der Gestaltungssatzung für die beiden Nebengebäude sind für die vorliegende Nachbarklage nicht von Bedeutung. Es ist nicht ersichtlich, dass die Satzungsgeberin mit den Regelungen neben gestalterischen Gesichtspunkten auch nachbarschützende Aspekte verfolgt hat.
23
3. Die Klage war daher mit der sich aus § 154 Abs. 1 VwGO ergebenden Kostenfolge abzuweisen. Es entsprach der Billigkeit, den Kläger auch die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen tragen zu lassen, weil sich diese mit Antragstellung ihrerseits einem Kostenrisiko ausgesetzt hat, vgl. §§ 154 Abs. 3, 162 Abs. 3 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt § 167 VwGO i.V.m. § 709 ZPO.