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VG München, Urteil v. 14.11.2024 – M 1 K 22.2581
Titel:

Nachbarklage, Erteilung von Befreiungen, Baugrenzen, Drittschutz, Rücksichtslosigkeit, Erdrückende Wirkung, Einblickmöglichkeiten

Normenketten:
BauGB § 30
BauNVO § 15 Abs. 1
Schlagworte:
Nachbarklage, Erteilung von Befreiungen, Baugrenzen, Drittschutz, Rücksichtslosigkeit, Erdrückende Wirkung, Einblickmöglichkeiten
Fundstelle:
BeckRS 2024, 39891

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kläger tragen gesamtschuldnerisch die Kosten des Verfahrens. Der Beigeladene trägt seine außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

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Die Kläger wenden sich gegen eine Baugenehmigung zur Errichtung eines Zweifamilienhauses, die der Beklagte dem Beigeladenen erteilt hat.
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Die Kläger sind Eigentümer des Grundstücks FlNr. 812/63 Gem. M..., das östlich an das im Eigentum des Beigeladenen stehende Vorhabengrundstück FlNr. 812/61 Gem. M... anschließt. Beide Grundstücke liegen im Geltungsbereich des qualifizierten Bebauungsplans Nr. 52.
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Mit streitgegenständlichem Bescheid vom … April 2022 erteilte der Beklagte dem Beigeladenen die unter dem … Januar 2022 beantragte Baugenehmigung zur Errichtung eines Zweifamilienhauses unter Befreiungen vom Bebauungsplan. Dies betrifft die Überschreitung der festgesetzten Baugrenzen durch den östlichen Erker samt Dachterrasse (Festsetzung A 3.1 des Bebauungsplans), die Überschreitung der maximal zulässigen Grundfläche (Festsetzung B 2.1 des Bebauungsplans) sowie die Errichtung des Zwerchgiebels (Festsetzung B 5.4 des Bebauungsplanes). Zugleich erteilte der Beklagte eine Abweichung von der Einhaltung der Abstandsflächen nach Süden.
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Gegen diesen ihnen ausweislich der Postzustellungsurkunde am … April 2022 zugestellten Bescheid haben die Kläger am … Mai 2022 Klage erhoben und beantragt,
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den Bescheid des Landratsamts F. vom … April 2022 aufzuheben.
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Zur Begründung ließen sie im Wesentlichen vortragen, die erteilten Befreiungen, insbesondere hinsichtlich des östlichen Erkers samt Dachterrasse, seien rechtswidrig und verletzten sie ihn ihren Rechten. Den im einschlägigen Bebauungsplan festgesetzten Baugrenzen, die eine Freihaltung von Ruhebereichen bezwecke, komme drittschützende Wirkung zu, besonders im Hinblick auf die im Bauquartier vorgesehene verdichtete Bebauung. Dabei sei diese Befreiung mit ihren nachbarlichen Interessen nicht vereinbar, weil die auf dem Erker situierte Dachterrasse in unzumutbarer, rücksichtsloser Weise Einblickmöglichkeiten in die Schlafzimmerbereiche eröffne. Insgesamt liege hinsichtlich der erteilten Befreiungen ein Ermessensausfall vor, denn ausweislich der Begründung habe sich das Landratsamt mit den konkret betroffenen nachbarlichen Interessen überhaupt nicht auseinandergesetzt, indem es sich einzig und allein darauf zurückgezogen habe, dass die Befreiung mit einem ausgewogenen und harmonischen Straßenbild vereinbar sei.
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Der Beklagte beantragt
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Klageabweisung
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und ist der Rechtsauffassung, dass hinsichtlich der im einschlägigen Bebauungsplan festgesetzten Baugrenzen über städtebaulichen Gründen hinausgehend keinerlei drittschützende Wirkung erkennbar sei. Dies müsse sich mit hinreichender Deutlichkeit aus dem Inhalt oder den Umständen des Bebauungsplan ergeben, wofür vorliegend nichts erkennbar sei. Damit seien die Kläger hinsichtlich des monierten Erkers samt Dachterrasse auf das Gebot der Rücksichtnahme verwiesen, welches angesichts dessen Größe und Entfernung von ca. 13 m erkennbar nicht verletzt sei.
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Der Beigeladene hat keinen Antrag gestellt, in der Sache aber ausgeführt, dass seiner Ansicht nach sein Haus samt Nebengebäuden sämtlich innerhalb der gemäß Bebauungsplan überbaubaren Grundstücksflächen gelegen sei.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird ergänzend auf die Gerichtsakte sowie die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage, über die trotz Ausbleiben des Beklagten am 12. November 2024 verhandelt und entschieden werden konnte, weil der Beklagte mit Schreiben vom 18. Oktober 2024, ausweislich des Empfangsbekenntnisses zugestellt am 21. Oktober 2024, fristgerecht geladen und in dem Ladungsschreiben gemäß § 102 Abs. 2 VwGO hierauf hingewiesen worden war, ist unbegründet. Die von den Klägern angefochtene Baugenehmigung ist rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 VwGO.
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Dritte können sich gegen eine Baugenehmigung nur dann mit Aussicht auf Erfolg zur Wehr setzen, wenn die angefochtene Baugenehmigung rechtswidrig ist und diese Rechtswidrigkeit zumindest auch auf der Verletzung von Normen beruht, die gerade auch dem Schutz des betreffenden Nachbarn zu dienen bestimmt sind (BayVGH, B.v. 21.7.2020 – 2 ZB 17.1309 – juris Rn. 4; B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris Rn. 20). Es genügt daher nicht, wenn die Baugenehmigung gegen Rechtsvorschriften des öffentlichen Rechts verstößt, die nicht – auch nicht teilweise – dem Schutz der Eigentümer benachbarter Grundstücke zu dienen bestimmt sind. Dementsprechend findet im gerichtlichen Verfahren keine umfassende Rechtskontrolle statt, vielmehr hat sich die gerichtliche Prüfung darauf zu beschränken, ob durch die angefochtene Baugenehmigung drittschützende Vorschriften, die dem Nachbarn einen Abwehranspruch vermitteln und im Baugenehmigungsverfahren zu prüfen waren, verletzt werden (BayVGH, B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris Rn. 20).
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2. Vorliegend käme eine Rechtsverletzung der Kläger allenfalls im Zusammenhangmit den erteilten Befreiungen in Betracht. Bei Befreiungen von den Festsetzungen eines Bebauungsplans hängt der Umfang des Rechtsschutzes des Nachbarn davon ab, ob die Festsetzungen, von deren Einhaltung im Einzelfall dispensiert wird, dem Nachbarschutz dienen oder nicht. Im Falle einer Befreiung von einer nachbarschützenden Festsetzung ist der Nachbar schon dann in seinen Rechten verletzt, wenn die Befreiung rechtswidrig ist, weil eine der Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB nicht erfüllt ist (BVerwG, B.v. 27.8.2013 – 4 B 39/13 – juris Rn. 3). Bei einer Befreiung von einer Festsetzung, die nicht (auch) den Zweck hat, die Rechte der Nachbarn zu schützen, sondern nur dem Interesse der Allgemeinheit an einer nachhaltigen städtebaulichen Entwicklung dient, richtet sich der Nachbarschutz nach den Grundsätzen des im Tatbestandsmerkmal „unter Würdigung nachbarlicher Interessen“ enthaltenen Rücksichtnahmegebots. Nachbarrechte werden in diesem Fall nicht schon dann verletzt, wenn die Befreiung aus irgendeinem Grund rechtswidrig ist, sondern nur, wenn der Nachbar durch das Vorhaben infolge der zu Unrecht erteilten Befreiung unzumutbar beeinträchtigt wird (zum Ganzen: BVerwG, B.v. 8.7.1998 – 4 B 64.98 – juris Rn. 5 f.; BayVGH, B.v. 5.9.2016 – 15 CS 16.1536 – juris Rn. 25 m.w.N.).
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2.1 Hier ist den Festsetzungen kein Drittschutz zugunsten des Klägers zu entnehmen, sodass es auf die weiteren Voraussetzungen für die Erteilung der Befreiungen nach § 31 Abs. 2 BauGB nicht ankommt. Durch die Befreiungen werden die Kläger auch nicht unzumutbar beeinträchtigt.
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Eine auf das Plangebiet bezogene nachbarschützende Wirkung von Festsetzungen des Bebauungsplans ist regelmäßig nur bei Festsetzungen über die Art der baulichen Nutzung anzunehmen. Denn nur durch diese Festsetzungen wird ein auf jeweils wechselseitigen Berechtigungen und Verpflichtungen beruhendes Gegenseitigkeits- oder Austauschverhältnis zwischen den Eigentümern der Grundstücke im Plangebiet begründet (BayVGH, B.v. 03.2017 – 15 ZB 16.1306 – juris Rn. 7). Festsetzungen im Bebauungsplan über das Maß der baulichen Nutzung haben damit grundsätzlich keine automatische nachbarschützende Funktion.
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Die von den Klägern thematisierte Festsetzung über die Grundflächenzahl betrifft hingegen nicht die Art, sondern das Maß der baulichen Nutzung (vgl. § 16 Abs. 2 Nr. 1 BauNVO). Dasselbe gilt hinsichtlich der Festsetzung über die überbaubare Grundstücksfläche nach § 23 Abs. 3 BauNVO, zu der die Baugrenzen zählen (vgl. BVerwG, B.v. 23.6.1995 – 4 B 52.95 – juris Rn. 4; BayVGH, B.v. 4.2.2020 – 9 ZB 18.1092 – juris Rn. 4). Soweit eine Befreiung von den Festsetzungen zu Zulässigkeit von Gauben und Zwerchgiebeln erteilt worden ist, handelt es sich um eine örtliche Bauvorschrift, die grundsätzlich ebensowenig drittschützend ist (VGH München, B. v. 10.1.2000 – 27 ZB 97.1931 – BeckRS 2000, 24619 – Rn. 3).
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Solche Festsetzungen vermitteln Drittschutz ausnahmsweise nur dann, wenn sie nach dem Willen der Gemeinde als Planungsträgerin diese Funktion haben sollen (zum Drittschutz bei Festsetzungen i.S.v. Art. 81 Abs. 1 Nr. 1 BayBO: VGH München, B. v. 10.1.2000 – 27 ZB 97.1931 – BeckRS 2000, 24619 – Rn. 3; zum Drittschutz bei Festestzungen über das Maß der baulichen Nutzung: BayVGH, B.v. 1.8.2016 – 15 CS 16.1106 – juris Rn. 17). Dieser muss sich aus dem Plan selbst, seiner Begründung oder den Akten über die Aufstellung des Bebauungsplans ergeben oder als „objektivierter“ planerischer Wille z.B. anhand des im Bebauungsplans zum Ausdruck gekommenen Planungskonzepts zu ermitteln sein (BVerwG, B.v. 11.6.2019 – 4 B 5.19 – juris Rn. 4)
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Den vorliegenden Planunterlagen, insbes. auch der Begründung mit Umweltbericht (insbesondere dort Nrn. 3 und 7), sind keinerlei Anhaltspunkte dafür zu entnehmen, dass der Wille der Plangeberin darauf gerichtet war, den in Rede stehenden Festsetzungen drittschützende Wirkung beizulegen. Derartige Anhaltspunkte ergeben sich nach Auffassung der Einzelrichterin auch nicht aus dem im Bebauungsplan zum Ausdruck gekommenen Planungskonzept. Insofern haben die Kläger vortragen lassen, dass angesichts der vorgesehenen verdichteten Bebauung im Plangebiet den Baugrenzen eine nachbarschützende Funktion im Hinblick auf die Schaffung von Ruhezonen zukomme. Indes fehlt es bereits an einem erkennbaren Konzept zur Schaffung von Ruhezonen wie beispielsweise durchgängige unbebaubare rückwärtige Gartenbereiche. Vielmehr weisen die Baufenster für die Hauptbaukörper sowie die für Garagen und Nebengebäude im vorliegenden Baugebiet keine erkennbare derartige Regelmäßigkeit auf, aus der sich ein entsprechendes Planungskonzept ableiten ließe.
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2.2 Eine unzumutbare, rücksichtslose Beeinträchtigung der Kläger durch die erteilten Befreiungen liegt nicht vor. Dem Gebot der Rücksichtnahme kommt drittschützende Wirkung zu, soweit in qualifizierter und zugleich individualisierter Weise auf schutzwürdige Interessen eines erkennbar abgegrenzten Kreises Dritter Rücksicht zu nehmen ist. Die Anforderungen, die das Gebot der Rücksichtnahme im Einzelnen begründet, hängen wesentlich von den jeweiligen Umständen ab. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung desjenigen ist, dem die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zu Gute kommt, desto mehr kann er an Rücksichtnahme verlangen. Je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, umso weniger braucht derjenige, der das Vorhaben verwirklichen will, Rücksicht zu nehmen. Abzustellen ist darauf, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmeverpflichteten nach Lage der Dinge zuzumuten ist (vgl. BayVGH, B.v. 5.9.2016 – 15 CS 16.1536 – juris Rn. 27 m.w.N.). Es umfasst auch Fallkonstellationen, in denen von einem Bauvorhaben eine optisch bedrängende Wirkung auf bewohnte Nachbargrundstücke ausgeht (vgl. BVerwG, B.v. 11.12.2006 – 4 B 72.06 – juris Rn. 4). Eine solche erdrückende Wirkung zulasten des Klägers kommt dem streitgegenständlichen Vorhaben jedoch nicht zu.
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Eine erdrückende oder unzumutbar einengende Wirkung ist nur anzunehmen, wenn eine bauliche Anlage wegen ihrer Ausmaße, ihrer Baumasse oder ihrer massiven Gestaltung ein benachbartes Grundstück unangemessen benachteiligt, in dem es diesem förmlich „die Luft nimmt“, wenn für den Nachbarn das Gefühl des „Eingemauertseins“ entsteht, oder wenn die Größe des „erdrückenden“ Gebäudes aufgrund der Besonderheiten des Einzelfalls derart übermächtig ist, dass das „erdrückte“ Gebäude oder Grundstück nur noch oder überwiegend wie eine von einem „herrschenden Gebäude“ dominierte Fläche ohne eigene Charakteristik wahrgenommen wird (vgl. BayVGH, B.v. 2.10.2018 – 2 ZB 16.2168 – juris; B.v. 5.9.2016 – 15 CS 16.1536 – juris). Hauptkriterien bei der Beurteilung einer erdrückenden oder abriegelnden Wirkung sind die Höhe des Bauvorhabens und seine Länge sowie die Distanz der baulichen Anlage in Relation zur Nachbarbebauung. Als Beispiele für eine erdrückende oder abriegelnde Wirkung sind zu nennen ein zwölfgeschossiges Gebäude in Entfernung von 15 m zum zweigeschossigen Nachbarwohnhaus oder eine grenznahe 11,5 m hohe und 13,31 m lange, wie eine „riesenhafte metallische Mauer“ wirkende Siloanlage bei einem sieben Meter breiten Nachbargrundstück. Eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots scheidet im Sinne einer Indizwirkung in aller Regel aus, wenn die gesetzlich vorgeschriebenen landesrechtlichen Abstandsflächen eingehalten werden. Denn in diesem Fall ist grundsätzlich davon auszugehen, dass der Landesgesetzgeber die diesbezüglichen nachbarlichen Belange und damit das diesbezügliche Konfliktpotenzial in einen vernünftigen und verträglichen Ausgleich gebracht hat (BayVGH, B.v. 5.9.2016 – 15 CS 16.1536 – juris Rn. 27ff.).
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2.2.1 An diesen Maßstäben gemessen ergibt sich weder durch den östlichen Erker noch die dort situierte Dachterrasse eine Rücksichtslosigkeit zulasten der Kläger. Die Dachterrasse ist 4,22 m breit und 2,00 m tief und befindet sich ca. 6,5 m vom Grundstück der Kläger entfernt. Die Entfernung zum Wohnhaus der Kläger beträgt ca. 13 m. Sie hält die nach der Satzung über abweichende Maße der Abstandsflächen der Stadt M. vom 20. Januar 2021 erforderliche Abstandsfläche ein, womit nach der Rechtsprechung ein Indiz für das Nichtvorliegen einer erdrückenden Wirkung gegeben ist. Es ist auch nicht erkennbar, weshalb abweichend vom Regelfall eine unzumutbare Beeinträchtigung der Wohn- und Freiraumqualität der Kläger vorliegen sollte.
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2.2.2 Hinsichtlich der weiteren erteilten Befreiungen ist darauf hinzuweisen, dass diese sämtlich den nördlichen Vorbau betreffen. Eine Verletzung der gebotenen Rücksicht ist hier fernliegend.
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3. Die Klage war mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Es entsprach der Billigkeit, den Beigeladenen, der keinen Antrag gestellt hat, seine außergerichtlich Kosten selbst tragen zu lassen (§§ 162 Abs. 3, 154 Abs. 3 VwGO).
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4. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt § 167 VwGO, § 708 ff. ZPO.