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VG Regensburg, Urteil v. 05.02.2024 – RO 13 K 22.30883
Titel:

kein Anspruch auf Zuerkennung des internationalen bzw. nationalen Schutzes (Irak)

Normenketten:
AsylG § 3
AufenthG § 60 Abs. 1 S. 2, S. 3, Abs. 5, Abs. 7 S. 1
Leitsätze:
1. Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in einem Mitgliedstaat (hier: Griechenland) hindert einen anderen Mitgliedstaat (hier: Deutschland) nicht daran, den bei ihm gestellten weiteren Antrag auf internationalen Schutz ergebnisoffen zu prüfen. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
2. Für einem jungen, gesunden und damit arbeitsfähigen Mann ist nicht beachtlich wahrscheinlich, dass er im Falle seiner Rückkehr in den Irak nicht in der Lage sein würde, das Existenzminimum zu sichern bzw. dass es ihm dort nicht gewährleistet wird. (Rn. 49) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Irak, internationaler Schutz in Griechenland, Bindungswirkung, Sunnit, Existenzminimum
Fundstelle:
BeckRS 2024, 3357

Tenor

I.    Die Klage wird abgewiesen.
II.    Die Kosten dieses Verfahrens trägt der Kläger.  Gerichtskosten werden nicht erhoben. 
III.    Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

1
Der Kläger begehrt die Zuerkennung des internationalen bzw. nationalen Schutzes nachdem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) den Asylantrag abgelehnt hat.
2
Der am … geborene Kläger ist irakischer Staatsangehöriger mit arabischer Volks- und sunnitischer Religionszugehörigkeit. Er reiste nach eigenen Angaben am 30.10.2020 zusammen mit seinen Eltern und Geschwistern in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 11.12.2020 einen formalen Asylantrag.
3
Nach der Recherche im Eurodac-System am 30.10.2020 erlangte das Bundesamt Kenntnis darüber, dass dem Kläger in Griechenland der internationale Schutzstatus zuerkannt wurde. Mit Schreiben vom 27.01.2021 teilten die griechischen Behörden mit, dass dem Kläger am 13.01.2020 die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde und ihm eine Aufenthaltserlaubnis mit einer Gültigkeit vom 17.01.2020 bis 16.01.2023 ausgestellt worden ist.
4
Bei der Anhörung beim Bundesamt am 02.02.2021 gab der Kläger an, dass er bis zu seiner Ausreise 2016 zusammen mit seinen Eltern und Geschwistern zur Miete in B., Stadtteil … gelebt habe. Dort würde aktuell keiner aus seiner Familie mehr leben. Er habe die Schule für sieben Jahre besucht und abgeschlossen. Er habe keinen Beruf erlernt. Sein Vater habe in B. einen Lebensmittelladen betrieben und so seinen Lebensunterhalt erwirtschaftet. Die Kosten der Ausreise habe sein Vater finanziert.
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Nach seiner Ausreise habe sich der Kläger zusammen mit seiner Familie zunächst 18 Monate in der Türkei aufgehalten und danach ca. zwei Jahre in Griechenland. Im Reisepass des Klägers findet sich ein Stempel über die Ausreise am 16.09.2016 sowie eine Einreise mit einem türkischen Visum vom gleichen Tag in die Türkei.
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Zu den Gründen seiner Ausreise befragt, gab der Kläger an, dass er ausgereist sei, weil seine Familie bedroht worden sei. Sein Vater sei in seinem Lebensmittelladen von Milizen überfallen und entführt worden. Nach einem Tag habe seine Mutter ihn im Krankenhaus gefunden. Er sei auf den Kopf geschlagen worden und die Milizen hätten ihn mit einer Propangasflasche am Knie verletzt. Sein Vater könne bis heute nicht richtig gehen. Die Milizen hätten zu seinem Vater gesagt, dass er als Sunnit B. verlassen solle. Wenn er dies nicht tue, werden sie seine Frau vergewaltigen und die ganze Familie töten. Sein Vater habe den Laden geschlossen und mit seiner gesamten Familie den Irak verlassen.
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Auf Nachfrage gab der Kläger an, dass er selbst nicht bedroht worden sei. Er wisse auch nicht, welche Milizen seinen Vater bedroht haben. Es könnten iranische Milizen sein, diese seien mächtiger als die Polizei.
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Es habe nur diesen einen Vorfall im Jahr 2016 gegeben. Sein Vater habe sich zehn Tage im Krankenhaus behandeln lassen und nach weiteren zehn Tagen seien sie ausgereist.
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Sie haben sich auch nicht an die Polizei wenden oder an einem anderen Ort im Irak niederlassen können, da die Milizen mächtiger seien als die Polizei und sie ihn überall im Irak verfolgt hätten.
10
Bei einer Rückkehr befürchte der Kläger von den Milizen getötet zu werden, da diese immer noch aktiv seien im Irak.
11
Das Bundesamt lehnte mit streitgegenständlichem Bescheid vom 18.05.2022 den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 1), auf Anerkennung als Asylberechtigter (Ziffer 2) sowie auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus (Ziffer 3) ab und stellte das Nichtvorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) fest (Ziffer 4). Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung bzw. bei Klageerhebung nach unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen; andernfalls würde er in den Irak oder in einen anderen Staat, in den er einreisen dürfe oder der zur Rückübernahme verpflichtet sei, abgeschoben. Die Ausreisefrist werde bis zum Ablauf der zweiwöchigen Klagefrist ausgesetzt (Ziffer 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gem. § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 6). Der Bescheid wurde an den Bevollmächtigten adressiert und am 02.06.2022 als Einschreiben zur Post gegeben.
12
Am 08.06.2022 ließ der Kläger Klage gegen den vorgenannten Bescheid erheben und beantragte Prozesskostenhilfe unter Beiordnung des Klägerbevollmächtigten. Der PKH-Antrag wurde sodann mit Schreiben vom 05.12.2023 wieder zurückgenommen.
13
Im Rahmen der Begründung wird auf eine Entscheidung des VGH Baden-Württemberg (U.v. 27.01.2022 – A 4 S 2443/21) verwiesen, dass auch ein gesunder und arbeitsfähiger Mann im Falle einer Rückkehr nach Griechenland nicht in der Lage sein würde, Zugang zu einer legalen und menschenwürdigen Unterkunft zu erhalten.
14
Am 25.01.2024 gingen beim Gericht verschiedene Zeugnisse, Praktikumsbescheinigungen und Zertifikate über erworbene Qualifikation des Klägers zu.
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Der Kläger beantragt,
den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 18.05.2022 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hilfsweise ihm den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen, weiter hilfsweise Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 bzw. 7 AufenthG festzustellen.
16
Die Beklagte beantragt unter Bezugnahme auf die Begründung der angefochtenen Entscheidung,
die Klage abzuweisen.
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Der Rechtsstreit wurde mit Beschluss vom 05.09.2023 auf die Berichterstatterin als Einzelrichterin übertragen. Hinsichtlich weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte, einschließlich der beigezogenen Behördenakten (...) sowie auf das Protokoll über die mündliche Verhandlung vom 25.01.2024 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

18
Über die Klage konnte entschieden werden, obwohl die Beklagte nicht zur mündlichen Verhandlung erschienen ist. Die Beteiligten waren ordnungsgemäß geladen und im Ladungsschreiben darauf hingewiesen worden, dass bei ihrem Ausbleiben auch ohne sie verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO)).
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Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung, § 77 Abs. 1 Satz 1 Asylgesetz (AsylG), weder einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG), § 3 AsylG (vgl. unter 1.), noch liegen die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzes nach § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. § 4 Abs. 1 AsylG vor (vgl. unter 2.). Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG können ebenfalls nicht festgestellt werden (vgl. unter 3.). Nicht zu beanstanden sind schließlich Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung sowie die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots (vgl. unter 4.). Der streitgegenständliche Bescheid ist jedenfalls im Ergebnis rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 VwGO.
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1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG, § 3 Abs. 1 und 4 AsylG.
21
Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf in Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskommission – GFK) ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sind. Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft setzt gemäß § 3 Abs. 1 und 4 AsylG insbesondere voraus, dass der Ausländer aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Die Verfolgung kann gemäß § 3c AsylG vom Staat bzw. von Parteien oder Organisationen ausgehen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen oder aber von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten und dies unabhängig davon, ob im Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht. Die Flüchtlingseigenschaft wird zudem nicht zuerkannt, wenn im Herkunftsland eine interne Schutzmöglichkeit besteht, § 3e AsylG.
22
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. NVwZ 2018, 1408 Rn. 14, 15, beck-online) ist die Furcht vor Verfolgung i.S.d. § 3 Abs. 1 AsylG begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit („real risk“) drohen. Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab bedingt, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Diese Würdigung ist auf der Grundlage einer „qualifizierenden“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung vorzunehmen. Hierbei sind gem. Art. 4 III RL 2011/95/EU neben sämtlichen mit dem Herkunftsland verbundenen relevanten Tatsachen unter anderem das maßgebliche Vorbringen des Klägers und dessen individuelle Lage zu berücksichtigen. Entscheidend ist, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwGE 146, 67 = NVwZ 2013, 936 Rn. 32 m.w.N.). Damit kommt dem qualitativen Kriterium der Zumutbarkeit maßgebliche Bedeutung zu. Eine Verfolgung ist danach beachtlich wahrscheinlich, wenn einem besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheint (ständige Rspr, vgl. BVerwG, Buchholz 451902 Europ. Ausl.- und Asylrecht Nr. 19 = BeckRS 2008, 33994 Rn. 37). Die Tatsache, dass ein Asylantragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat beziehungsweise von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ist gem. Art. 4 IV RL 2011/95/EU ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Kläger erneut von solcher Verfolgung bedroht wird.
23
Es ist Sache der Schutzsuchenden, die Umstände, aus denen sich eine Verfolgung ergibt, in schlüssiger Form bei den Anhörungen beim Bundesamt und vor Gericht von sich aus vorzutragen, vgl. § 15 Abs. 1, § 25 Abs. 1 und 2 AsylG. Bezüglich der vom Ausländer im Asylverfahren geltend gemachten Umstände, die zu seiner Ausreise aus dem Heimatland geführt haben, genügt aufgrund der regelmäßig bestehenden Beweisschwierigkeiten des Ausländers die Glaubhaftmachung. Die üblichen Beweismittel stehen ihm häufig nicht zur Verfügung. In der Regel können unmittelbare Beweise im Verfolgerland nicht erhoben werden. Mit Rücksicht darauf kommt dem persönlichen Vorbringen des Ausländers und dessen Würdigung eine gesteigerte Bedeutung zu. Dies bedeutet anderseits jedoch nicht, dass der Tatrichter einer Überzeugungsbildung im Sinne des § 108 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) enthoben ist (vgl. z.B. BVerwG, Urteil vom 16. April 1985 – 9 C 109/84). Eine Glaubhaftmachung in diesem Sinne setzt voraus, dass die Geschehnisse im Heimatland schlüssig, substantiiert und widerspruchsfrei geschildert werden. Erforderlich ist somit eine anschauliche, konkrete und detailreiche Schilderung des Erlebten. Bei erheblichen Widersprüchen oder Steigerungen im Sachvortrag kann dem Ausländer nur geglaubt werden, wenn die Widersprüche und Ungereimtheiten überzeugend aufgelöst werden (vgl. z.B. BVerwG, Urteil vom 23. Februar 1988 – 9 C 273/86). Das Gericht muss dabei die volle Überzeugung von der Wahrheit des behaupteten individuellen Schicksals und von der Richtigkeit der Prognose drohender politischer Verfolgung bzw. der Annahme der Gefahr eines ernsthaften Schadens gewinnen. Den Schutzsuchenden selbst obliegt es, die Gründe folgerichtig, substantiiert und mit genauen Einzelheiten vorzutragen (vgl. BVerwG vom 21.7.1989 Az. 9 B 239/89).
24
a) Die Flüchtlingseigenschaft des Klägers resultiert nicht bereits daraus, dass diesem in Griechenland die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist, denn weder das Bundesamt noch das erkennende Gericht sind an die entsprechende Entscheidung der griechischen Behörden gebunden (so auch VG Regensburg, U.v. 07.03.2023, RN 13 K 22.31787 – juris; VG Aachen, U. v. 03.06.2022 – 10 K 2844/20.A sowie U. v. 19.08.2021 – 1 K 1444/20.A; VG Minden, U. v. 02.03.2022 – 1 K 194/21.A; VG Osnabrück, U. v. 14.02.2022 – 5 A 512/20; VG Göttingen, U. v. 18.08.2021 – 2 A 74/21; VG München, U. v. 09.07.2021 – M 11 K 18.31931).
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Dies gilt auch in Ansehung des Vorlagebeschlusses des Bundesverwaltungsgerichts vom 07.09.2022 (1 C 26.21), der die Frage dem Gerichtshof der Europäischen Union vorgelegt hat, ob in diesem Fall der Asylantrag noch ergebnisoffen geprüft werden kann oder ob ohne weitere materielle Prüfung eine Pflicht zur Übernahme der Schutzentscheidung des anderen Mitgliedsstaates besteht. Eine Aussetzung des hiesigen Verfahrens nach § 94 VwGO wird nicht für erforderlich gehalten. Zu einer eigenen Vorlage nach Art. 267 Abs. 3 AEUV ist das Gericht jedenfalls nicht verpflichtet (so auch VG Karlsruhe, U. v. 18.10.2022 – A 8 K 2210/22).
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aa) Eine Bindungswirkung lässt sich zunächst nicht aus dem Völkerrecht herleiten.
27
Die Genfer Flüchtlingskonvention legt einheitliche Kriterien für die Qualifizierung als Flüchtling fest, macht jedoch Statusentscheidungen nicht für andere Staaten bindend (vgl. VG Regensburg, U.v. 07.03.2023, RN 13 K 22.31787 – juris; VG Minden, U. v. 02.03.2022 – 1 K 194/21.A; VG Stuttgart, U. v. 21.02.2022 – A 7 K 3174/21; BVerwG, U. v. 30.03.2021 – 1 C 41/20 et al.).
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Eine Bindung resultiert vorliegend auch nicht aus dem Europäischen Übereinkommen über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge, denn dieses ist in Griechenland bislang nicht ratifiziert worden.
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bb) Eine Bindung an die in Griechenland getroffene Statusentscheidung folgt weiterhin nicht aus dem Unionsrecht. Sie kann weder dem Primär- noch dem Sekundärrecht entnommen werden. Das Primärrecht ermächtigt zwar nach Art. 78 Abs. 2 lit. a) und b) AEUV zu Gesetzgebungsmaßnahmen, die einen in der ganzen Union gültigen einheitlichen Asylstatus und einen einheitlichen subsidiären Schutzstatus für Drittstaatsangehörige vorsehen. Das maßgebliche Sekundärrecht enthält jedoch derzeit (noch) keine Regelungen, die einen solchen einheitlichen Status umsetzen (vgl. VG Regensburg, U.v. 07.03.2023, RN 13 K 22.31787 – juris; VG Aachen, U. v. 03.06.2022 – 10 K 2844/20; VGH Baden-Württemberg, U. v. 29.03.2022 – 11 S 1142/21). Diese bewusste Entscheidung des Unionsgesetzgebers lässt sich auch nicht unter Berufung auf den Grundsatz gegenseitigen Vertrauens umgehen (vgl. VG Minden, U. v. 02.03.2022 – 1 K 194/21.A; zum Gedanken der Erschütterung des gegenseitigen Vertrauens bei systemischen Mängeln im Asylverfahren vgl. VG Osnabrück, U. v. 14.02.2022 – 5 A 512/20). Eine solche Bindungswirkung lässt sich auch der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union nicht entnehmen (vgl. in diesem Zusammenhang insbesondere B. v. 13.11.2019 – C-540/17 und C-541/17 sowie U. v. 19.12.2019 – C364/11).
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cc) Das nationale Recht ordnet in § 60 Abs. 1 Satz 2 und Satz 3 AufenthG nur eine auf den Abschiebungsschutz begrenzte Bindungswirkung der ausländischen Flüchtlingsanerkennung an und sieht gerade keinen Anspruch auf neuerliche Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vor (vgl. VG Aachen, U. v. 03.06.2022 – 10 K 2844/20.A; VG Osnabrück, U. v. 14.02.2022 – 5 A 512/20; vgl. ähnlich VGH Baden-Württemberg, U. v. 29.03.2022 – 11 S 1142/21).
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b) Auch aus der Wertung des Vortrags des Klägers bei der persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung konnte das Gericht letztlich nicht zu der Überzeugung gelangen, dass der Kläger verfolgt ausgereist ist, noch, dass ihm im Falle der Rückkehr eine ihm gegenüber individualisierte Verfolgungshandlung, die unter Anknüpfung an ein flüchtlingsrelevantes Merkmal i.S.d. §§ 3 Abs. 1, 3b AsylG erfolgen würde, droht.
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Nach den Ausführungen des Klägers ist die Ausreise im Jahr 2016 erfolgt, weil der Vater des Klägers entführt und bedroht worden sei. Man hab diesem gesagt, dass man ihm und seiner Familie etwas antuen werde, wenn sie den Ort nicht verlassen würden. Unabhängig davon, ob man darin überhaupt eine zielgerichtete Verfolgung des damals noch minderjährigen Klägers sehen will, bestehen keinerlei Anhaltspunkte, dass gerade der Kläger auch im Falle einer Rückkehr nach mehr als acht Jahren erneut von den Personen, die den Vater des Klägers entführt haben, verfolgt werden würde. Insoweit kann weder der Kläger, noch sein Bruder im Parallelverfahren RO 13 K 22.30836 angeben, warum man gerade seinen Vater bzw. seine Familie ins Visier genommen hat. Sie vermuten, dass es eine Miliz gewesen sei, die etwas gegen sie als Sunniten habe unternehmen wollen. Sie wissen aber weder welche Miliz es getan habe, noch was die Hintergründe gewesen sind. In Ermangelung einer zielgerichteten Verfolgung gerade des Klägers ist nicht davon auszugehen, dass man den Kläger auch im Falle einer Rückkehr nach mehr als acht Jahren mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit verfolgen würde.
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b) Dem Kläger droht auch allein wegen seiner Zugehörigkeit zur sunnitischen Glaubensgemeinschaft derzeit offensichtlich keine Gruppenverfolgung. Für die Annahme einer Gruppenverfolgung (vgl. § 3 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 5 AsylG) ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht (vgl. BVerwG, U.v. 1.2.2007 – 1 C 24.06 – juris). Der Umfang der Eingriffshandlungen in asylrechtlich geschützte Rechtsgüter, die an die sunnitische Religionszugehörigkeit anknüpfen, rechtfertigt in Relation zur Größe dieser Gruppe nicht die Annahme einer alle Mitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung. Das gilt auch, wenn man nur die Zahl der arabischen Sunniten betrachtet. Die irakische Bevölkerung setzt sich zu 60 bis 65% aus (arabischen) Schiiten, zu 17 bis 22% aus (arabischen) Sunniten und zu 15 bis 20% aus überwiegend sunnitischen Kurden zusammen (Lagebericht Irak des Auswärtigen Amts vom 28.10.2022, S. 6). Bei einer Gesamtbevölkerung von ca. 44,5 Millionen Einwohnern (https://www.laenderdaten.info/Asien/Irak/bevoelkerungswachstum.php; Stand: 2022, zuletzt aufgerufen am 01.02.2024) würde das bedeuten, dass 7,57 bis 9,79 Millionen arabische Sunniten im Irak im oben geschilderten Sinn als Gruppe verfolgt würden. Für eine solche Annahme gibt es unter Zugrundelegung der vorliegenden aktuellen Erkenntnismittel (so zum Beispiel Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 28.10.2022, S. 16; Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Stand 09.10.2023, S. 152 ff) nicht annähernd ausreichende Hinweise. Auch wenn es teils erhebliche ethnisch-konfessionelle Spannungen gibt und insbesondere Sunniten oft unter dem Generalverdacht einer Zusammenarbeit mit dem IS stehen (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich (BFA), Länderinformation der Staatendokumentation Irak, 02.03.2022, S. 152), ergeben sich keine ausreichenden Hinweise darauf, dass flächendeckend gegen Sunniten vorgegangen wird (vgl. VGH München, B. v. 29.4.2020 – 5 ZB 20.30994 – juris, Rz. 3; VG Augsburg, U.v. 09.12.2023 – Au 9 K 23.30955 – juris).
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c) Ohne dass es darauf ankäme, kann selbst bei der Annahme einer bestehenden Gefahr in B. für den sunnitischen Kläger durch schiitische Milizen davon ausgegangen werden, dass sich der Kläger an einem anderen Ort mit mehrheitlich sunnitischer Bevölkerung niederlassen könnte. Gerade die Gebiete im Zentral und Westirak sind mehrheitlich sunnitisch (vgl. Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Stand 22.08.2022, S. 168 f). Auch die sechs umliegenden Gebiete um die Hauptstadt B. sind mehrheitlich sunnitisch (Latifiyah, Taji, al-Mushahada, at-Tarmiyah, Arab Jibor und al-Mada’in), die die Hauptstadt von Norden, Westen und Südwesten umgeben und den sogenannten „B.er Gürtel“ (Baghdad Belts) bilden. Der B.er Gürtel besteht aus Wohn-, Agrar- und Industriegebieten sowie einem Netz aus Straßen, Wasserwegen und anderen Verbindungslinien, die in einem Umkreis von etwa 30 bis 50 Kilometern um die Stadt B. liegen und die Hauptstadt mit dem Rest des Irak verbinden. Der B.er Gürtel umfasst, beginnend im Norden und im Uhrzeigersinn die Städte: Taji, al-Tarmiyah, Ba’qubah, Buhriz, Besmaja und Nahrwan, Salman Pak, Mahmudiyah, Sadr al-Yusufiyah, Fallujah und Karmah und wird in die Quadranten Nordosten, Südosten, Südwesten und Nordwesten unterteilt (vgl. Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Stand 22.08.2022, S. 29). Eine Rückkehr des Klägers beispielsweise zusammen mit seinem Bruder (RO 13 K 22.30836) an einen anderen sunnitisch geprägten Ort im Zentralirak ist daher möglich und zumutbar.
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d) Im Ergebnis gelingt es dem Kläger daher nicht, das Gericht von einer tatsächlichen bzw. im Falle einer Rückkehr in den Irak drohenden Verfolgung in Anknüpfung an ein flüchtlingsrelevantes Merkmal gem. § 3 Abs. 1 AsylG zu überzeugen. Zudem steht dem Kläger eine innerstaatliche Fluchtalternative gem. § 3e AsylG zur Verfügung, sodass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht vorliegen.
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2. Dem Kläger steht auch kein Anspruch auf die hilfsweise begehrte Zuerkennung des subsidiären Schutzes nach § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 1, 2 Nr. 1 AsylG zu.
37
a) Bereits nach den Ausführungen unter 1., auf welche vollumfänglich verwiesen wird, droht dem Kläger weder die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, noch Folter im Hinblick auf eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung.
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Auch aufgrund der humanitären Lage im Irak ergibt sich keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung. Schlechte humanitäre Bedingungen, die nicht auf direkte oder indirekte Handlungen oder Unterlassungen staatlicher oder nichtstaatlicher Akteure zurückzuführen sind, können nicht zur Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG, sondern allenfalls zu einem Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK führen (vgl. BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 11.19 juris). Es fehlt bereits an einem Akteur i.S.d. § 4 Abs. 3 i.V.m. § 3c AsylG, von dem zielgerichtet eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung ausgehen würde. Den Erkenntnismitteln ist nicht zu entnehmen, dass der irakische Staat ein Interesse an einer Verschärfung oder Aufrechterhaltung der schlechten humanitären Lage zeigt und dies auf seine Handlungen oder Unterlassungen zurückzuführen ist (vgl. auch OVG Lüneburg, B. v. 11.3.2021 – 9 LB 129/19, BeckRS 2021, 4631 Rn. 95, beck-online; VGH Mannheim, U. v. 7.12.2021 – A 10 S 2189/21, BeckRS 2021, 41890, beck-online).
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b) Des Weiteren ist nicht davon auszugehen, dass der Kläger bei einer Rückkehr in die für die Betrachtung maßgebliche Herkunftsregion einer ernsthaften individuellen Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts (§ 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG) ausgesetzt wäre.
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Als ernsthafter Schaden gem. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG gilt eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts. Die Voraussetzungen können auch erfüllt sein, wenn sich der innerstaatliche bewaffnete Konflikt auf einen Teil des Staatsgebiets beschränkt und dem Ausländer die gesetzlich definierte Gefahr in diesem Landesteil droht. In diesem Fall ist Bezugspunkt für die Gefahrenprognose der tatsächliche Zielort des Ausländers bei einer Rückkehr. Das ist in der Regel seine Herkunftsregion, in die er typischerweise zurückkehren wird (vgl. OVG Lüneburg, U. v. 24.9.2019 – 9 LB 136/19, BeckRS 2019, 26594 Rn. 69, beck-online).
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Subsidiärer Schutz kommt nur in Betracht, wenn der den bestehenden Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht hätte, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestünden, dass eine Zivilperson bei ihrer Rückkehr in den Irak oder in die von dem bewaffneten Konflikt betroffene Region allein durch ihre dortige Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften individuellen Bedrohung ihres Lebens oder ihrer Unversehrtheit ausgesetzt zu sein (vgl. BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 11.19 – juris, v. 17.11.2011 – 10 C 13.10 – juris; ferner EuGH, U.v. 17.2.2009, C-465/07, InfAuslR 2009, 138). Zur Bestimmung der erforderlichen Gefahrendichte für die Zivilbevölkerung bedarf es zunächst einer annäherungsweise quantitativen Ermittlung des Tötungs- und Verletzungsrisikos, auf deren Grundlage eine wertende Gesamtbetrachtung zur individuellen Betroffenheit des schutzsuchenden Ausländers zu erfolgen hat. Der „quantitative“ Ansatz für die Ermittlung des Tötungs- und Verletzungsrisikos zielt dabei nicht auf einen auf alle Konfliktlagen anzuwendenden „Gefahrenwert“ im Sinne einer zwingend zu beachtenden mathematisch-statistischen Mindestschwelle, sondern lässt durch das Erfordernis einer abschließenden Gesamtbetrachtung ausreichend Raum für qualitative Wertungen (BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 11.19 – juris; ferner EuGH, U.v. 10.6.2021, C-901/19 – juris, wonach die Feststellung einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts nicht voraussetze, dass das Verhältnis der Zahl der Opfer in dem betreffenden Gebiet zur Gesamtzahl der Bevölkerung dieses Gebiets eine bestimmte Schwelle erreiche, vielmehr eine umfassende Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere derjenigen, die die Situation des Herkunftslands des Schutzsuchenden kennzeichnen, erforderlich sei).
42
Dies zugrunde gelegt, ergibt sich für B. bzw. die umliegenden sunnitischen Gebiete kein erhöhtes Risiko für Zivilisten. Zwar ist die Sicherheitslage im Irak weiterhin volatil und es besteht die anhaltend erhöhte Gefahr von Terroranschlägen (vgl. AA, Reise- und Sicherheitshinweise Irak, 09.02.2022, S. 5). Die Sicherheitslage hat sich seit dem Ende der groß angelegten Kämpfe gegen den IS aber erheblich verbessert (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Irak, 09.10.2023, S. 17). Die Zahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle mit zivilen Opfern ist seit 2016 gesunken. Während es 2016 noch 16.393 zivile Opfer gegeben hat, waren es im Jahr 2021 insgesamt 1.187 Opfer und von Januar bis Juni 2022 waren es 712 derartige Vorfälle (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Irak, 22.08.2022, S. 28.). Die ACLED-Datenbank registrierte von Juli 2022 bis Dezember 2022 291 Zwischenfälle, bei denen Zivilisten gezielt angegriffen wurden. Zwischen Jänner 2023 und August 2023 waren es 292 Fälle von Gewalt gegen Zivilisten (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Irak, 09.10.2023, S. 33.)
43
Das Gouvernement B. ist das kleinste und am dichtesten bevölkerte Gouvernement des Irak mit einer Bevölkerung von mehr als sieben Millionen Menschen. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich berichtet für das Jahr 2021 im Gouvernement B., unterteilt in die Stadtdistrikte Rusafah, Adhamiyah, Sha’ab, Sadr City (früher Thawra), 9 Nissan (Neu B.), Karrada, az-Za’ franiyah, Karkh, Kadhimiyah, Mansour und ar-Rashid, sowie die Vorstadtdistrikte Abu Ghraib, al-Istiqlal, al-Mada’in, Mahmudiyah, Taji und at-Tarmiyah von insgesamt 87 Zwischenfällen, bei welchen gezielt Zivilisten angegriffen wurden, sowie 88 Vorfällen, bei denen Zivilisten ebenfalls zu den Betroffenen gehörten, z.B. durch IEDs, Luft-/Drohnenangriffe. Für das Jahr 2022 waren es bis Juni 40 Vorfälle, sowie 27 bei denen Zivilisten ebenfalls betroffen waren (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Irak, 22.08.2022, S. 37). Von Juli bis Dezember 2022 wurden 122 Zwischenfälle registriert, bei denen Zivilisten gezielt angegriffen wurden. In 90 dieser Fälle kamen Zivilisten zu Tode. Zu den Tätern solcher Handlungen gehören staatliche Streitkräfte und ihnen nahestehende Organisationen, Rebellen, Milizen und externe/andere Kräfte. Zwischen Jänner und August 2023 waren es 89 Fälle von Gewalt gegen Zivilisten, wobei in 65 Fällen Zivilpersonen zu Tode kamen (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Irak, 09.10.2023, S. 38). Das Verletzungs- und Tötungsrisiko erreicht damit trotz der in B. immer wieder verübten Anschläge, gerade auch vor dem Hintergrund der dichten Besiedelung mit bis zu sieben Millionen Einwohnern nicht die erforderliche Gefahrendichte für die Zivilbevölkerung. Es sind auch keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass bei dem Kläger spezifische gefahrerhöhende Umstände vorliegen würden, sodass dem Kläger eine Rückkehr dorthin möglich und zumutbar ist.
44
3. Auch die Voraussetzungen für die weiter hilfsweise begehrte Zuerkennung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 (menschenrechtswidrige Behandlung) bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG (verfolgungsunabhängige konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit) sind nicht erfüllt.
45
a) Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 14. November 1950 zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung nicht zulässig ist. Dem Kläger droht im Fall der Abschiebung in den Irak keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK, der er nicht entgehen könnte. Soweit § 60 Abs. 5 AufenthG die Unzulässigkeit der Abschiebung wegen unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung begründet, geht dieser sachliche Regelungsbereich nicht über den von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG hinaus (vgl. BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 – 10 C 15/12).
46
Unter Bezugnahme auf ein Urteil des EGMR vom 28. Juni 2011 im Verfahren Sufi und Elmi hat der Bayer. Verwaltungsgerichtshof im Beschluss vom 8. Januar 2018 – 20 ZB 17.30839 – u.a. dargelegt, dass zwar in ganz außergewöhnlichen Fällen auch schlechte humanitäre Verhältnisse Art. 3 EMRK verletzen könnten, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung „zwingend“ seien. Hierbei sind indes auch die individuellen Umstände miteinzubeziehen. Maßgeblich für das Beweismaß zu Art. 3 EMRK ist der Begriff des „real risk“, der dem Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entspricht (vgl. OVG Lüneburg, U.v. 24.9.2019 – 9 LB 136.19 – juris Rn. 106; VGH Mannheim, U.v. 24.1.2018 – A 11 S 1265.17 – juris Rn. 149). Solche humanitären Gründe können auch in einer völlig unzureichenden Versorgungslage begründet sein (so auch BayVGH, U. v. 19.7.2018 – 20 B 18.30800- juris, Rn. 54). Das für Art. 3 EMRK erforderliche Mindestmaß an Schwere kann erreicht sein, wenn Rückkehrer ihren existenziellen Lebensunterhalt nicht sichern können, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten (vgl. etwa BVerwG, U. v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 –, BVerwGE 166, 113 = juris Rn. 12, und B. v. 8.8.2018 – 1 B 25.18 –, NVwZ 2019, 61 = juris Rn. 11).
47
Maßstab für die im Rahmen der Prüfung nationalen Abschiebungsschutzes nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK anzustellende Gefahrenprognose ist grundsätzlich, ob der vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer nach seiner Rückkehr, gegebenenfalls durch ihm gewährte Rückkehrhilfen, in der Lage ist, seine elementarsten Bedürfnisse über einen absehbaren Zeitraum zu befriedigen. Nicht entscheidend ist, ob das Existenzminimum eines Ausländers in dessen Herkunftsland nachhaltig oder gar auf Dauer sichergestellt ist. Kann der Rückkehrer Hilfeleistungen in Anspruch nehmen, die eine Verelendung innerhalb eines absehbaren Zeitraums ausschließen, so kann Abschiebungsschutz ausnahmsweise nur dann gewährt werden, wenn bereits zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt der letzten behördlichen oder gerichtlichen Tatsachenentscheidung davon auszugehen ist, dass dem Ausländer nach dem Verbrauch der Rückkehrhilfen in einem engen zeitlichen Zusammenhang eine Verelendung mit hoher Wahrscheinlichkeit droht. Je länger der Zeitraum der durch Rückkehrhilfen abgedeckten Existenzsicherung ist, desto höher muss die Wahrscheinlichkeit einer Verelendung nach diesem Zeitraum sein (vgl. BVerwG, U. v. 21.4.2022 – 1 C 10.21, BeckRS 2022, 16531 Rn. 25, beck-online). Für die Beurteilung, ob außerordentliche Umstände vorliegen, die nicht in die unmittelbare Verantwortung des Abschiebungszielstaates fallen und die dem abschiebenden Staat nach Art. 3 EMRK eine Abschiebung des Ausländers verbieten, ist grundsätzlich auf den gesamten Abschiebungszielstaat abzustellen und zunächst zu prüfen, ob solche Umstände an dem Ort vorliegen, an dem die Abschiebung endet (vgl. OVG Lüneburg, B. v. 11.3.2021 – 9 LB 129/19, BeckRS 2021, 4631 Rn. 129, beck-online).
48
Der Staat kann die Grundversorgung der Bürger nicht durchgehend und auch nicht in allen Landesteilen gewährleisten. Im gesamten Land ist die durch Jahrzehnte internationaler Isolation und Krieg vernachlässigte Infrastruktur stark sanierungsbedürftig. Die Versorgungslage ist für ärmere Bevölkerungsschichten schwierig. Die Stromversorgung ist im Vergleich zu der Zeit vor 2003 schlecht. Selbst in B. ist die öffentliche Stromversorgung vor allem in den Sommermonaten häufig unterbrochen. Hinzu kommen Anschläge des „IS“ auf Strommasten. Die Wasserversorgung leidet unter völlig maroden und teilweise im Krieg zerstörten Leitungen. Sie führen zu hohen Transportverlusten und Seuchengefahr. Im gesamten Land verfügt heute nur etwa die Hälfte der Bevölkerung über Zugang zu sauberem Wasser (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 28.10.2022, S. 22 f). Mietwohnungen stehen grundsätzlich zur Verfügung. Die lange Zeit sehr angespannte Lage auf dem Wohnungsmarkt wird zusehends besser, jedoch gibt es sehr viel mehr Kauf- als Mietangebote (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Irak, 22.08.2022, S. 274). Die Mieten für Wohnraum sind, gerade in der KRI und dort vor allem im städtischen Raum, allerdings hoch und in den vergangenen Jahren gestiegen. In der KRI beträgt die Miete für eine städtische Zweizimmerwohnung ca. 185,- bis 554,- EUR (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Irak, 14.05.2020, S. 123).
49
Das Gericht ist unter Berücksichtigung der nach den vorstehenden Ausführungen durchaus angespannten Versorgungslage im Irak und aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere aufgrund der Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung dennoch nicht zu der Überzeugung gelangt, dass es ihm im Falle der Rückkehr nicht möglich sein würde, seine elementaren Bedürfnisse wie Unterkunft, Nahrung und Hygiene zumindest so weit zu sichern, dass ihm keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht. Es ist nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Kläger nicht in der Lage sein würde, das Existenzminimum zu sichern bzw. dass es ihm dort nicht gewährleistet wird. Der Kläger ist jung, gesund und damit arbeitsfähig. Es mag zwar sein, dass er aufgrund der langen Abwesenheit keine besonders guten Kontakte mehr in den Irak hat. Es kann aber gleichwohl davon ausgegangen werden, dass es dem Kläger im Falle einer Rückkehr bei umfassender Bemühung und Engagement gelingen kann, eine Tätigkeit, wenn auch im Niedriglohnsektor aufzunehmen und so seinen Lebensunterhalt sicherzustellen. Zudem hat der Kläger wohl auch noch einige entfernte Verwandte vor Ort, sodass aufgrund der im Irak üblichen familiären Unterstützung zumindest für einen vorübergehenden Zeitraum, beispielsweise für eine vorrübergehende Unterkunft auf diese zurückgreifen können wird. So gab die Mutter des Klägers in ihrem Asylverfahren beispielsweise an, dass sie vor der Ausreise sich noch bei ihrer Schwester, also einer Tante des Klägers aufgehalten haben. Außerdem kann der Kläger für die Übergangszeit im Falle einer freiwilligen Rückkehr in den Irak bei Vorliegen der Voraussetzungen die Rückkehrhilfen des REAG/GARP-Programms sowie des Starthilfe-Plus-Programms in Anspruch nehmen, die ihm eine Rückkehr erheblich vereinfachen dürfte (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, Oktober 2021, S. 25).
50
b) Gleichermaßen kommt ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG nicht in Betracht. Nach dieser Vorschrift soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht, wobei vor allem existenzielle Gefahren durch Tötung, Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung sowie Krankheit erfasst werden, die dem Ausländer aufgrund seiner persönlichen Situation drohen.
51
Die allgemeine Versorgungs- und Sicherheitslage führt grundsätzlich nicht zu einem Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG, denn bei Gefahren i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, kann ein Abschiebungsverbot nur ausnahmsweise in Betracht kommen, wenn eine Abschiebung in den Heimatstaat aufgrund der hohen Wahrscheinlichkeit des Eintritts einer allgemeinen Gefahr verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Dieser hohe Wahrscheinlichkeitsgrad kann allerdings nur dann angenommen werden, wenn der Ausländer im Falle der Abschiebung „gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde“ (vgl. BVerwG, B.v. 14.11.2017 – 10 B 47/07 – juris). Von einer extremen Gefahrenlage in diesem Sinne wäre auch dann auszugehen, wenn dem Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage in seiner Heimat landesweit der alsbaldige sichere Hungertod drohen würde (vgl. BVerwG, U.v. 29.6.2010 – 10 C 10/09 – juris). Wie oben ausgeführt, ergibt sich aber nicht, dass dem Kläger mangels jeglicher Lebensgrundlage in der Heimat der alsbaldige sichere Hungertod drohen würde.
52
Eine erhebliche Gefahr aus gesundheitlichen Gründen ist nach § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden, anzunehmen und nicht, wenn es im Heimatland lediglich an einer gleichwertigen Versorgung mangelt, § 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG. Solche Erkrankungen werden vom Kläger weder dezidiert vorgetragen, noch mit ausreichenden Attesten belegt.
53
Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die Ausführungen des streitgegenständlichen Bescheids verwiesen und von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe abgesehen, vgl. § 77 Abs. 3 AsylG.
54
4. Die Abschiebungsandrohung ist ebenso wenig zu beanstanden, wie die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots.
55
a) Die auf § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG gestützte Abschiebungsandrohung ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.
56
aa) Der Abschiebungsandrohung steht insbesondere nicht entgegen, dass dem Kläger in Griechenland die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde, da weder das Bundesamt, noch das Gericht, wie oben unter 1.a) bereits ausgeführt, an die Entscheidung der griechischen Behörde gebunden ist (vgl. ausführlich: VG Regensburg, U.v. 07.03.2023, RN 13 K 22.31787 – juris).
57
bb) Das Bundesamt war auch nicht verpflichtet, in der Abschiebungsandrohung gemäß § 34 AsylG, § 60 Abs. 10 Satz 2 AufenthG festzustellen, dass der Kläger nicht in den Irak abgeschoben werden darf.
58
§ 60 Abs. 1 Satz 2 Variante 3 AufenthG sieht vor, dass Ausländer, die außerhalb des Bundesgebietes als ausländische Flüchtlinge anerkannt sind, einem Abschiebungsverbot unterliegen. In Anwendung der genannten Norm wird in Fällen, in denen es trotz einer Anerkennung des Ausländers in einem anderen Mitgliedsstaat nicht zu einer Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG kommt, eine Abschiebungsandrohung in den Herkunftsstaat ungeachtet eines für den Ausländer negativen Ausgangs des hiesigen Asylverfahrens in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung für rechtswidrig gehalten (vgl. VG Göttingen, U. v. 02.11.2022 – 3 A 115/20; VG Düsseldorf, U. v. 09.08.2021 – 29 K 1915/19.A). Dementsprechend wird auch in der Literatur angenommen, dass eine abschlägige Entscheidung im Asylverfahren in der Bundesrepublik Deutschland die Schutzzuerkennung im Erststaat nicht „verdrängt“ (vgl. Huber/Mantel, AufenthG/AsylG, 3. Aufl. 2021, AsylG § 29 Rn. 57). Eine Abschiebung in das Herkunftsland komme gemäß § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG nicht in Betracht (vgl. Bülow/Schiebel, ZAR 2020, 72 (75)).
59
Das Bundesverwaltungsgericht (vgl. B. v. 07.09.2022 – 1 C 26.21) hat ausdrücklich offengelassen, ob eine ausländische Flüchtlingsanerkennung auch dann ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG begründet, wenn eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG – wie vorliegend – nicht ergehen darf. Diese Frage wird von einigen Verwaltungsgerichten verneint (vgl. VG Düsseldorf, U. v. 04.08.2021 – 16 K 1148/21.A; VG Stuttgart, U. v. 18.02.2022 – A 7 K 3174/21; VG Aachen, U. v. 03.06.2022 – 10 K 2844/20.A). Argumentiert wird, dass § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG wie § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG auf der Prämisse beruhe, dass der andere Mitgliedstaat (im Fall des Klägers: Griechenland) weiterhin oder erneut der für den Flüchtling verantwortliche Mitgliedstaat sei. Müssten § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG und § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG durchbrochen werden, um die Wahrung der Grundrechte-Charta zu gewährleisten, dürfe auch § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG nicht angewendet werden. Anderenfalls sei die Bundesrepublik Deutschland in den Grenzen des § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG an die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gebunden, obwohl ein weiteres Asylverfahren stattfinde (vgl. VG Düsseldorf, U. v. 04.08.2021 – 16 K 1148/21.A). Nur mit einer teleologischen Reduktion könne der Anforderung des Gerichtshofs der Europäischen Union entsprochen werden, nach der es in diesen Fällen eines neuen Asylverfahrens bedürfe, in dem der jeweilige Antragsteller wiederum internationalen Schutz erlangen könne (vgl. VG Stuttgart, U. v. 18.02.2022 – A 7 K 3174/21).
60
Aus der Gesetzesbegründung zu § 51 Abs. 2 AuslG 1990, der lediglich redaktionell geändert in § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG übernommen wurde, ergibt sich, dass die Norm zwei Zwecken dient: Sie soll zum einen die Ausländerbehörde von der Prüfung der Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft entlasten und zum anderen das Verfahren auf das Asylverfahren mit seinem spezifischen Verfahrensrecht konzentrieren (vgl. ausführlich und unter Wiedergabe der Gesetzesbegründung VG Trier, U. v. 19.08.2022 – 5 K 2104/22.TR). § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG regelt diesem Gesetzeszweck entsprechend drei Varianten, in denen sich der Ausländer auf eine formelle Position berufen kann. Nach § 60 Abs. 1 Satz 2 Variante 3 AufenthG steht es einem außerhalb des Bundesgebiets nach der Genfer Flüchtlingskonvention als Flüchtling anerkannten Ausländer frei, das Bundesamt nicht mit einem Asylantrag zu befassen, sondern sich gegenüber der Ausländerbehörde auf seinen außerhalb des Bundesgebiets erlangten Flüchtlingsstatus zu berufen, die dann nach § 60 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Variante 3 AufenthG festzustellen hätte, dass der Ausländer nicht in seinen Herkunftsstaat abgeschoben werden darf (vgl. VG Trier, U. v. 19.08.2022 – 5 K 2104/22.TR).
61
Ab dem Zeitpunkt, ab dem ein Ausländer einen Asylantrag stellt, wird jedoch nicht mehr „nur“ – wie von § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG vorausgesetzt – eine formelle Position (hier: Zuerkennung des subsidiären Schutzes in Griechenland), sondern werden vielmehr die materiellen Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft durch die Bundesrepublik Deutschland geltend gemacht (vgl. VG Trier, U. v. 19.08.2022 – 5 K 2104/22.TR). Dass der Ausländer in den Fällen einer erneuten Sachprüfung die als vorteilhaft empfundene Aussicht auf die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG verlieren kann, ist Folge der mit dieser Vorschrift ausschließlich bezweckten Verfahrensvereinfachung und -konzentration und bedeutet nicht den Verlust einer schutzwürdigen subjektiven Rechtsposition (vgl. VG Trier, U. v. 19.08.2022 – 5 K 2104/22.TR).
62
b) Das auf 30 Monate befristete Einreise- und Aufenthaltsverbot ist nicht zu beanstanden. Fehler bei der Ermessensentscheidung über die Länge der Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots (vgl. § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG) sind weder geltend gemacht, noch erkennbar.
63
Nach allem war die Klage daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b AsylG; deshalb ist auch die Festsetzung eines Streitwerts nicht veranlasst. Die Entscheidung im Kostenpunkt war gemäß § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO für vorläufig vollstreckbar zu erklären.