Titel:
Anspruch auf Übernahme der Kosten einer Privatschule im Rahmen der Eingliederungshilfe
Normenketten:
SGB VIII § 35a
SGB IX §§ 28 ff., § 90, §§ 109 ff., § 112 Abs. 1 S. 1 Nr. 1
Leitsatz:
Eingliederungshilfe umfasst auch solche Hilfen, die den Zugang zu einer angemessenen Schulbildung ermöglichen. Dazu gehört ausnahmsweise auch die Übernahme der Aufwendungen für den Besuch einer Privatschule, wenn auch unter Einsatz unterstützender Maßnahmen keine Möglichkeit besteht, den Hilfebedarf eines jungen Menschen im Rahmen des öffentlichen Schulsystems zu decken, diesem also der Besuch einer öffentlichen Schule aus objektiven oder aus schwerwiegenden subjektiven (persönlichen) Gründen unmöglich oder unzumutbar ist oder eine bedarfsdeckende Hilfe im öffentlichen Schulwesen nach den konkreten Umständen des Einzelfalles nicht rechtzeitig realisierbar ist. (Rn. 3) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Kostenübernahme für private Fernschule im Rahmen der Eingliederungshilfe, „Ausfallbürgschaft“ des Jugendhilfeträgers, seelische Behinderung, Fernschule, Einschätzungsspielraum, Eingliederungshilfe
Vorinstanz:
VG Augsburg, Beschluss vom 13.09.2024 – Au 3 E 24.2195
Fundstelle:
BeckRS 2024, 33413
Tenor
I. Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 13. September 2024 – Au 3 E 24.2195 – wird aufgehoben.
II. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache die beantragte Eingliederungshilfe in Form der Kostenübernahme für die F.-Fernschule zu gewähren.
III. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Eilverfahrens in beiden Rechtszügen. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei.
Gründe
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Die zulässige Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 13. September 2024 ist begründet. Die Antragstellerin hat einen Anspruch auf Eingliederungshilfe in Form der Kostenübernahme für die F.-Fernschule hinreichend glaubhaft gemacht.
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1. Die Antragstellerin gehört unstreitig zum grundsätzlich anspruchsberechtigten Personenkreis für Eingliederungshilfe gemäß § 35a SGB VIII. Aufgabe und Ziel der Hilfe, die Bestimmung des Personenkreises sowie Art und Form der Leistungen richten sich gemäß § 35a Abs. 3 SGB VIII nach den §§ 28 ff., 90, 109 ff. SGB IX, soweit diese Bestimmungen auch auf seelisch Behinderte oder von einer solchen Behinderung bedrohte Personen Anwendung finden. Dementsprechend erhalten nach § 35a Abs. 3 SGB VIII i.V.m. § 112 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB IX seelisch behinderte Kinder und Jugendliche Hilfen zu einer Schulbildung, insbesondere im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht und zum Besuch weiterführender Schulen einschließlich der Vorbereitung hierzu.
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Diese Hilfen umfassen nicht nur unterstützende oder flankierende Maßnahmen, sondern auch solche Hilfen, die den Zugang zu einer angemessenen Schulbildung ermöglichen (vgl. BVerwG, U. v. 28.4.2005 – 5 C 20.04 – juris Rn. 10). Auch die Übernahme der Aufwendungen für den Besuch einer Privatschule gehören ausnahmsweise hierzu, wenn auch unter Einsatz unterstützender Maßnahmen keine Möglichkeit besteht, den Hilfebedarf eines jungen Menschen im Rahmen des öffentlichen Schulsystems zu decken, diesem also der Besuch einer öffentlichen Schule aus objektiven oder aus schwerwiegenden subjektiven (persönlichen) Gründen unmöglich oder unzumutbar ist (vgl. BVerwG, B. v. 17.2.2015 – 5 B 61.14 – juris Rn. 4) oder eine bedarfsdeckende Hilfe im öffentlichen Schulwesen nach den konkreten Umständen des Einzelfalles nicht rechtzeitig realisierbar ist (BVerwG, U. v. 18.10.2012 – 5 C 21/11 – juris Rn. 39).
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Diese Voraussetzungen sind bei summarischer Prüfung gegeben. Die Antragstellerin hat aufgrund ihrer seelischen Behinderung seit September 2023 nicht mehr am Unterricht teilgenommen. Die vorliegenden fachlichen Stellungnahmen der behandelnden Psychotherapeuten führen unmissverständlich aus, dass ein regulärer Schulbesuch der Antragstellerin nahezu unmöglich ist und daher die Beschulung über die Fernschule dringend empfohlen wird (Stellungnahmen vom 28.2.2024 und 10.6.2024). Die Schule legt in ihrer Stellungnahme die Entwicklung der schulischen Situation dezidiert dar und kommt nachvollziehbar zu dem Schluss, dass bei der Antragstellerin besondere Schwierigkeiten vorliegen, denen mit den der Schule zur Verfügung stehenden Möglichkeiten nicht ausreichend begegnet werden kann. Die Schule sei an der Grenze ihrer Handlungsmöglichkeiten angekommen (Stellungnahme vom 4.3.2024). Auch der betreuende Mobile Sonderpädagogische Dienst Autismus kommt in seiner Stellungnahme zu dem Ergebnis, dass der Antragstellerin der Schulbesuch nicht möglich ist, und befürwortet daher eine Beschulung über die Fernschule (Stellungnahme vom 29.2.2024).
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Der mittlerweile vorliegende Hilfeplan erkennt zwar den Hilfebedarf der Antragstellerin auch hinsichtlich der schulischen Integration grundsätzlich an, empfiehlt aber, zunächst Unterstützungsmaßnahmen wie Hausbeschulung und den Einsatz eines Avatars auszuschöpfen sowie eine Förderung durch Schulbegleitung und Erziehungsbeistandschaft zu erreichen. Diese Hilfen hat die Antragstellerin inzwischen beantragt und selbige sollen laut Antragsgegner auch gewährt werden. Allerdings ist sie laut ärztlicher Bescheinigung vom 15. Oktober 2024 nunmehr bis zu den Weihnachtsferien für den Präsenz- und Hausunterricht krankgeschrieben. Der Hilfebedarf der Antragstellerin kann derzeit also nicht mehr im Rahmen des öffentlichen Schulsystems gedeckt werden. Selbst wenn man die seitens des Antragsgegners vorgeschlagenen Maßnahmen grundsätzlich für geeignet und ausreichend hielte, ihren Hilfebedarf zu decken, so können diese derzeit jedenfalls nicht umgesetzt werden. Eine Beschulung der Antragstellerin im staatlichen Regelschulsystem ist aktuell unmöglich. Damit entfällt ausnahmsweise die Nachrangigkeit der Jugendhilfe und es greift die „Ausfallbürgschaft“ des Jugendhilfeträgers (vgl. BayVGH, B. v. 5.2.2018 – 12 C 17.2563 – juris Rn. 44).
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Bei der Frage, welche Hilfe im konkreten Fall für geeignet und erforderlich anzusehen ist, besteht zwar ein gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbarer Beurteilungsspielraum des Antragsgegners, denn bei der Entscheidung über die Notwendigkeit und Geeignetheit der Hilfe handelt es sich um das Ergebnis eines kooperativen pädagogischen Entscheidungsprozesses unter Mitwirkung des betroffenen Hilfeempfängers und mehrerer Fachkräfte, welches nicht den Anspruch objektiver Richtigkeit erhebt, jedoch eine angemessene Lösung zur Bewältigung der festgestellten Belastungssituation enthält, die fachlich vertretbar und nachvollziehbar sein muss. Die verwaltungsgerichtliche Überprüfung hat sich daher darauf zu beschränken, ob allgemeingültige fachliche Maßstäbe beachtet worden sind, ob keine sachfremden Erwägungen eingeflossen sind und die Leistungsadressaten in umfassender Weise beteiligt worden sind (BVerwG, U. v. 24.6.1999 – 5 C 24/98 – juris Rn. 39; BVerwG, U. v. 18.10.2012 – 5 C 21/11 – juris Rn. 32; BVerwG, U. v. 9.12.2014 – 5 C 32/13 – juris Rn. 30).
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Allerdings erweist sich bei Zugrundelegung dieses Einschätzungsspielraums die Ablehnungsentscheidung des Antragsgegners zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats bei summarischer Prüfung als nicht tragfähig, denn die Beschulung über eine Fernschule stellt aktuell die einzige geeignete und erforderliche Hilfemaßnahme dar, um der Antragstellerin überhaupt noch einen Zugang zu einer angemessenen Schulbildung zu ermöglichen. Wie dargelegt, ist aufgrund ihrer Krankschreibung für den „Präsenz- und Hausunterricht“ – also nicht für die Fernschule – aktuell keine Alternative ersichtlich, um eine Beschulung sicherzustellen. Die Empfehlungen aus dem Hilfeplan sind aktuell schlicht nicht umsetzbar.
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2. Die Antragstellerin hat auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Die Eilbedürftigkeit entfällt entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts nicht dadurch, dass die Antragstellerin dem Schulunterricht bereits seit (mehr als) einem Jahr fernbleibt. Vielmehr spricht gerade dies dafür, dass ein Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr zugemutet werden kann. Um der Antragstellerin noch die Chance auf eine angemessene Schulbildung einschließlich Schulabschluss zu erhalten, muss sie nunmehr schnellstmöglich eine regelmäßige Unterrichtung erfahren.
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Auch ist es für die Bejahung der Eilbedürftigkeit nicht von Bedeutung, ob die Eltern der Antragstellerin in der Lage wären, die Kosten für den Besuch der Fernschule zu übernehmen. Denn es geht hier um den Anspruch der Antragstellerin auf Gewährung von Eingliederungshilfe und nicht um einen Anspruch ihrer Eltern (vgl. BayVGH, B. v. 27.7.2000 – 12 CE 99.3779 – juris Rn. 26).
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3. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO.
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4. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).