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VG München, Urteil v. 29.02.2024 – M 27 K 23.4151
Titel:

Ausweisung eines 19-jährigen faktischen Inländers, Überwiegendes Ausweisungsinteresse, Jugendstrafverurteilung zu 2 Jahren und 8 Monaten, Haft, Zahlreiche Gewaltdelikte, Verhängung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots, Ablehnung der Erteilung bzw. Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis, Fehlen von allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen, Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit durch Geburt, Fassung des Staatsangehörigkeitsgesetzes bis Ende 2004, Dreijähriger Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis eines Elternteils, Geänderte Fassung des Staatsangehörigkeitsgesetzes ab 2005

Normenketten:
AufenthG § 11
AufenthG § 53 Abs. 1
AufenthG § 54 Abs. 1 Nr. 1
AufenthG § 54 Abs. 1 Nr. 1a
§ 4 Abs. 3 StAG (i.d.F.v.1999)
§ 4 Abs. 3 StAG (i.d.F.v.2005)
GG Art. 3 Abs. 1
Schlagworte:
Ausweisung eines 19-jährigen faktischen Inländers, Überwiegendes Ausweisungsinteresse, Jugendstrafverurteilung zu 2 Jahren und 8 Monaten, Haft, Zahlreiche Gewaltdelikte, Verhängung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots, Ablehnung der Erteilung bzw. Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis, Fehlen von allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen, Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit durch Geburt, Fassung des Staatsangehörigkeitsgesetzes bis Ende 2004, Dreijähriger Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis eines Elternteils, Geänderte Fassung des Staatsangehörigkeitsgesetzes ab 2005
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 15.11.2024 – 10 ZB 24.706
Fundstelle:
BeckRS 2024, 33408

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Der Kläger begehrt im Wesentlichen die Aufhebung eines Bescheides der Beklagten betreffend seine Ausweisung aus dem Bundesgebiet, die Verhängung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots sowie die darin enthaltene Ablehnung der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis.
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Der am … September 2004 in … geborene Kläger, ein serbischer Staatsangehöriger, war mit Urteil des Amtsgerichts … vom … Juni 2020 rechtskräftig wegen zahlreicher Eigentums- und Gewaltdelikte (u.a. räuberische Erpressung, gemeinschaftliche gefährliche Körperverletzung, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte) zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und acht Monaten verurteilt worden, die zur Bewährung ausgesetzt worden war. Ebenfalls vom Amtsgericht … war er aus ähnlichen Gründen sowie wegen Sachbeschädigung, Beleidigung und Fahrens ohne Fahrerlaubnis erneut am … August 2021 rechtskräftig unter Einbeziehung der genannten früheren Verurteilung zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren und acht Monaten verurteilt worden. Von der … Polizei wird er auf einer Liste für Intensivstraftäter (sog. PROPER-Liste) geführt.
3
Dem Kläger war am 16. November 2004 eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 33 AufenthG erteilt worden, die zuletzt bis 28. März 2022 gültig war und deren Verlängerung er am 24. und 28. Juni 2022 bei der Beklagte beantragt hatte.
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Auf eine Anhörung des Klägers seitens der Beklagten im Juni 2023 zur Absicht, diesen auszuweisen, entgegnete seine Bevollmächtigte mit Schreiben vom … Juni 2023, eine Ausweisung wäre rechtswidrig, da der Kläger im Bundesgebiet geboren und aufgewachsen sei. Während er – abgesehen von seiner Staatsangehörigkeit – keinen tatsächlichen Bezug zu Serbien habe, würden sich alle näheren und weiteren Familienangehörigen ebenfalls in … aufhalten. Im Alter von 10 Jahren sei bei ihm eine Aktivitätsund Aufmerksamkeitsstörung (ADHS) diagnostiziert worden.
5
Nach einem Führungsbericht der Justizvollzugsanstalt L. vom 26. Mai 2023 verhielt sich der Kläger nach Einschätzung der Bediensteten eher positiv. Er habe die Absicht, in Haft die Mittelschule zu besuchen und auch einen entsprechenden Abschluss zu machen. Zudem habe er beantragt, in eine sozialtherapeutische Abteilung für Gewaltsstraftäter aufgenommen zu werden.
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Mit Bescheid vom 26. Juli 2023 wies die Beklagte den Kläger aus (Nr. 1 d. Bescheids), erließ gegen ihn ein Einreise- und Aufenthaltsverbot, dessen Dauer sie unter der Bedingung der Straffreiheit auf fünf Jahre ab Ausreise befristete, andernfalls auf sieben Jahre (Nr. 2), lehnte seine Verlängerungsanträge von 2022 ab (Nr. 3) und drohte ihm u.a. für den Fall der Haftentlassung die Abschiebung nach Serbien an, wenn er das Bundesgebiet nicht spätestens vier Wochen nach Haftentlassung verlasse (Nr. 4). Zur Begründung führte die Beklagte im Wesentlichen aus, die Ausweisung des Klägers sei wegen einer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung aus spezialpräventiven (Wiederholungsgefahr) und generalpräventiven Gründen unter Abwägung des Ausweisungsmit dem Bleibeinteresse sowie unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erfolgt. Es liege aus mehrfachen Gründen ein besonders schweres Ausweisungsinteresse vor. Ein gesetzlich genanntes Bleibeinteresse liege hingegen beim Kläger nicht vor. Die bei ihm diagnostizierte Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung stehe der Ausweisung ebensowenig entgegen wie die Tatsache, dass er im Bundesgebiet geboren und aufgewachsen sei. Es sei ihm zuzumuten, sich in Serbien zurechtzufinden. Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots sei auch unter Beachtung seiner familiären Verhältnisse erfolgt. Der Erteilung der vom Kläger beantragten Aufenthaltserlaubnis stünde vor allem das Ausweisungsinteresse aufgrund seiner massiven Straffälligkeit entgegen. Bei der Fristbemessung zum Einreise- und Aufenthaltsverbot sei ermessensgerecht der Aufenthalt der Eltern und Geschwister des Klägers im Bundesgebiet berücksichtigt worden. Auf die Begründung des Bescheids im Übrigen wird Bezug genommen.
7
Der Kläger ließ am … August 2023 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München erheben und sinngemäß beantragen,
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die Beklagte unter Aufhebung von Ziff. 1, 2 und 4 bis 6 und Abänderung von Ziff. 3 ihres Bescheids vom 26. Juli 2023 zu verpflichten, ihm seinen Aufenthaltstitel zu verlängern, hilfsweise, diesen zu erteilen, hilfsweise, unter Beachtung der Rechtserfassung des Gerichts über seine Anträge auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis neu zu entscheiden.
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Zur Begründung lässt er unter Bezugnahme auf die Stellungnahme seiner Bevollmächtigten vom … Juni 2023 den Befundbericht des Dr. R. (Praxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie) vom 11. Januar 2018 zu seiner Untersuchung am 22. Juli 2015 mit den Diagnosen „einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung“ sowie „auf den familiären Rahmen beschränkte Störung des Sozialverhaltens“ vorlegen, auf welchen Bezug genommen wird. Die damals verschriebenen Medikamente hätten Nebenwirkungen (Appetitminderung, Schwindelgefühle) hervorgerufen, weshalb eine dauerhafte medikamentöse Behandlung der ADHS-Störung nicht möglich gewesen sei. Diese Erkrankung sei nicht heilbar und ohne begleitende fachspezifische Therapie sei das Defizit an Konzentration und Sozialverträglichkeit vom Kläger nicht kompensierbar. Es sei eine Entscheidung in der Familie des Klägers gewesen, seine ADHS-Störung nicht weiter behandeln zu lassen. Im Strafverfahren sei kein medizinisch-psychiatrisches Sachverständigengutachten eingeholt worden. Eventuell könne der Kläger seine Konzentration und sein Verhalten nur so eingeschränkt steuern, dass seine Verfehlungen sein hohes Bleibeinteresse nicht überwiegen würden.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung weist sie auf die zahlreichen bisherigen Straftaten des Klägers hin, die auch einer Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis entgegenstünden.
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Die Kammer hat am 20. Dezember 2023 und am 29. Februar 2024 mündlich zur Sache verhandelt. In der mündlichen Verhandlung am 20. Dezember 2023 beantragte die Bevollmächtigte des Klägers bedingt, ein psychiatrisches Sachverständigengutachten zu dem Sachverhalt einzuholen, dass der Kläger aufgrund der bei ihm diagnostizierten Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung und Störung des Sozialverhaltens ohne adäquate medikamentöse und/oder Verhaltenstherapie nicht in der Lage sei, sein Verhalten so ausreichend zu steuern, um Störungen im Sozialverhalten, Störungen der Impulskontrolle sowie der Aufmerksamkeit in Bezug auf die sozialadäquate Wahrnehmung der Pflichten und Grenzen im Rahmen eines Zusammenwirkens und Aufeinandertreffens in einer Gruppe – sofern es sich um eine Gruppe außerhalb einer geschlossenen und festen Regeln und Zwangssanktionen unterliegenden Einrichtungen, wie zum Beispiel einer Justizvollzugsanstalt, handelt – zu vermeiden. Zuvor war ein Antrag der Bevollmächtigten des Klägers auf Vertagung wegen des Nichterscheinens des Klägers abgelehnt worden mit der Begründung, dieser sei anwaltschaftlich vertreten, seine Vorführung sei nicht angeordnet worden. Nachdem die Beklagte in dieser mündlichen Verhandlung bei Rücknahme von Klage und Eilantrag u.a. eine Verkürzung der im streitgegenständlichen Bescheid festgelegten Fristen zum Einreise- und Aufenthaltsverbot in Aussicht gestellt hatte, bat die Bevollmächtigte um Einräumung einer Frist bis zum 10. Januar 2024, binnen derer sie dem Gericht mitteilen könne, ob der Kläger auf das Angebot der Beklagtenseite eingehe. Im Einverständnis der Beteiligten wurde in das schriftliche Verfahren übergegangen, nachdem die Beteiligten Anträge gestellt hatten.
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Mit Schriftsatz vom 9. Januar 2024 teilte die Bevollmächtigte des Klägers mit, es habe sich nun ergeben, dass alles dafür spreche, dass dieser tatsächlich auch die deutsche Staatsangehörigkeit besitze. Sein Vater habe nunmehr mitgeteilt, dass er sich bereits seit 1992 rechtmäßig in Deutschland aufgehalten und am 19. Februar 2002 ein unbefristetes Aufenthaltsrecht erhalten habe, weshalb der Kläger mit seiner Geburt am … September 2004 in … die deutsche Staatsangehörigkeit erworben habe, ohne hierbei einer Optionspflicht zu unterliegen. Da ein deutscher Staatsangehöriger nicht ausgewiesen werden dürfe, sei die Ausweisung des Klägers, der einer Aufenthaltserlaubnis nicht bedürfe, rechtswidrig. Falls die Beklagte aus diesen Gründen der Klage nicht abhelfe, werde hilfsweise gebeten, die mündliche Verhandlung wiederzueröffnen. Die Beklagte erwiderte mit Schreiben vom 23. Januar 2024 unter Vorlage entsprechender Prüfunterlagen ihres Standesamtes vom 28. Oktober 2004, der Kläger habe die deutsche Staatsangehörigkeit bei Geburt nicht erworben, da sein Vater die unbefristete Aufenthaltserlaubnis zu diesem Zeitpunkt noch nicht seit drei Jahren besessen habe. Hierauf wiederum erwiderte die Klägerbevollmächtigte mit Schriftsatz vom 16. Februar 2024, dass ab dem 1. Januar 2005 ein dreijähriger Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis (ab diesem Zeitpunkt als Niederlassungserlaubnis bezeichnet) eines Elternteils nicht mehr Voraussetzung dafür gewesen sei, um einem Kind bei Geburt die deutsche Staatsangehörigkeit zu vermitteln. Der Gesetzesbeschluss zu dieser Änderung durch Erlass des sogenannten Zuwanderungsgesetzes sei am 30. Juli 2004 und damit vor der Geburt des Klägers im September des gleichen Jahres erfolgt. Es stelle eine sachlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung im Sinne von Art. 3 GG dar, wenn Kinder durch die genannten Regelungen im Zuwanderungsgesetz von der deutschen Staatsangehörigkeit ausgeschlossen blieben, obwohl ein Elternteil zum Zeitpunkt der Geburt bereits eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis besessen hätte und obwohl diese Kinder – wie im Fall des Klägers – im Zeitraum zwischen Beschlussfassung der Gesetzesänderung und Inkrafttreten zur Welt gekommen seien. Nur eine Rückwirkung der bereits vor der Geburt des Klägers beschlossenen Gesetzesänderung zu dessen Gunsten könne eine Grundrechtsverletzung vermeiden.
Jedenfalls aber würde die hier ausgeführte Betrachtung zu einem so verfestigten Bleibeinteresse des Klägers führen, dass dieses gegenüber dem Ausweisungsinteresse im Wege der Abwägung überwiege und aus diesem Grund eine Ausweisung des Klägers nicht in Betracht komme.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakten, die Behördenakten und auf die Niederschrift der mündlichen Verhandlung Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I.
16
Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Bescheid ist rechtmäßig und nicht rechtsverletzend (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
17
1. Die Ausweisung findet ihre Rechtsgrundlage in § 53 Abs. 1 AufenthG. Danach wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt. Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung der Ausweisungsentscheidung ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bzw. im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (stRspr, vgl. etwa BVerwG, U.v. 9.5.2019 – 1 C 21.18 – juris Rn. 11 m.w.N.).
18
§ 53 Abs. 1 AufenthG findet auf den Kläger auch Anwendung, da dieser entgegen der Auffassung seiner Bevollmächtigten nicht durch Geburt am … September 2004 im Bundesgebiet die deutsche Staatsangehörigkeit erworben hat und deshalb Ausländer im Sinne dieser Regelung ist. Zum Zeitpunkt der Geburt des Klägers setzte ein solcher Erwerb eines Kindes ausländischer Eltern gemäß § 4 Abs. 3 Satz 1 StAG in der Fassung vom 15. Juli 1999 (BGBl. I S. 1618, gültig vom 1.1.2000 bis zum 31.12.2004) voraus, dass ein Elternteil nicht nur seit acht Jahren rechtmäßig seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland gehabt hatte (vgl. Nr. 1), sondern gemäß Nr. 2 dieser Regelung seit drei Jahren eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis besessen hatte. Das war beim Vater des Klägers deshalb nicht der Fall, da dieser seine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erst am 19. Februar 2002 erhalten hatte.
19
Dass mit Inkrafttreten des sog. Zuwanderungsgesetzes (v. 30.7.2004, BGBl. I S. 1950) am 1. Januar 2005 ein dreijähriger Besitz des unbefristeten Aufenthaltstitels nicht mehr erforderlich war, um einem Kind ausländischer Eltern gleichwohl die deutsche Staatsangehörigkeit zu vermitteln, ist im vorliegenden Fall ohne Belang. Insbesondere kann der Kläger mit dem Vortrag, auch auf ihn sei diese neue Regelung anzuwenden, da der entsprechende Gesetzesbeschluss noch vor seiner Geburt gefasst worden sei, nicht gehört werden. Die Rückwirkung eines Gesetzes ist eine Ausnahme von der Regel, wonach Gesetze für die Zeit nach ihrer Verkündung gelten und so für gegenwärtige und künftige Rechtsverhältnisse zur Anwendung kommen. Demgemäß muss der Wille des Gesetzgebers, dass der Geltungsbereich des Gesetzes auch auf in der Vergangenheit liegende Vorgänge erstreckt werden soll, im Gesetz zum Ausdruck kommen (vgl. BVerwG, U.v. 29.10.1992 – 2 C 24.90 – BVerwGE 91, 130 – juris Rn. 12). Dies gilt auch im Staatsangehörigkeitsrecht (BVerwG, B.v. 31.1.1997 – 1 B 2.97 – Buchholz 130 § 4 RuStAG Nr. 7 – juris Rn. 4). Das Zuwanderungsgesetz weist nichts aus, das darauf hindeuten könnte, dass der Geltungsbereich des Gesetzes auch auf in der Vergangenheit liegende Vorgänge erstreckt werden sollte. Es stellt deshalb auch keine Grundrechtsverletzung, insbesondere keine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes auf Grund einer sachlich ungerechtfertigten Ungleichbehandlung gemäß Art. 3 Abs. 1 GG dar, zum Zeitpunkt der Geburt des Klägers noch diesen dreijährigen Besitz bei dessen Vater zu fordern, obwohl der Gesetzgeber bereits Ende Juli 2004 beschlossen hatte, durch den Erlass des Zuwanderungsgesetzes mit Wirkung zum 1. Januar 2005 einen solchen dreijährigen Besitz eines unbefristeten Aufenthaltstitels bei einem ausländischen Elternteil nicht mehr zu verlangen.
20
2. Die Rechtmäßigkeit der Ausweisung des Klägers unterliegt keinen rechtlichen Bedenken angesichts der zahlreichen, von diesem begangenen Eigentums- und Gewaltdelikte, wie sie insbesondere im Urteil des Amtsgerichts … vom … August 2021 und hieran anknüpfend auch im streitgegenständlichen Bescheid aufgeführt und beschrieben werden. Diesbezüglich liegt ein besonders schweres Ausweisungsinteresse gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG (rechtskräftige Verurteilung zu einer Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren) sowie § 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG (rechtskräftige Verurteilung zu einer Jugendstrafe von mindestens einem Jahr wegen mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit (Buchst. b) und gegen das Eigentum (vgl. Buchst. d) sowie wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte (Buchst. e) vor.
21
Angesichts des Fehlens einer eigenen Kernfamilie bestehen keine rechtlichen Bedenken hinsichtlich der von der Beklagten vorgenommenen Abwägung des öffentlichen Ausweisungsinteresses gegenüber dem Bleibeinteresse des Klägers. Im Gegenteil wird diese Abwägung gestützt durch die während des gerichtlichen Verfahrens in der zweiten mündlichen Verhandlung bekannt gewordene weitere staatsanwaltschaftliche Anklage des Klägers wegen des Verdachts gemeinschaftlichen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (Anklageschrift v. 12.12.2023 – Az. …), deren Bekanntwerden im Übrigen das Angebot der Beklagten aus der ersten mündlichen Verhandlung zu einer Reduzierung der Fristen zum Einreise- und Aufenthaltsverbot gegen Klage- und Antragsrücknahme nachträglich entfallen ließ.
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Der Rechtmäßigkeit der Ausweisung des Klägers steht nicht entgegen, dass bei ihm im Alter von 10 Jahren durch den Kinder- und Jugendpsychiater Dr. R. eine einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung sowie eine auf den familiären Rahmen beschränkte Störung des Sozialverhaltens diagnostiziert worden war, wie sich dies aus einen Befundbericht des Dr. R. vom 11. Januar 2018 ergibt. Die Beklagte hat auf Seite 23 des streitgegenständlichen Bescheids rein vorsorglich darauf hingewiesen, dass diese ADHS-Diagnose zu keiner anderen Bewertung der Situation führen kann, da es sich um eine der häufigsten psychischen Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen handelt, gleichwohl aber nicht alle hiervon betroffenen Kinder bzw. Jugendliche zu jugendlichen Intensivstraftätern werden. Auf Seite 9 des Strafurteils des Amtsgerichts … vom … August 2021 wird die ADHS-Diagnose beim 10-jährigen Kläger ebenso erwähnt und war dem Strafgericht deshalb bekannt. Offenbar ebenso wie dieses sieht auch das Verwaltungsgericht keine Veranlassung, durch Einholung etwa eines Sachverständigengutachtens klären zu lassen, ob der Kläger angesichts dieser Diagnose ohne adäquate medikamentöse und/oder Verhaltenstherapie in der Lage sei, sein Verhalten so ausreichend zu steuern, um Störungen im Sozialverhalten bzw. Impulskontrolle sowie der Aufmerksamkeit in Bezug auf die sozialadäquate Wahrnehmung der Pflichten und Grenzen im Rahmen eines Zusammenwirkens und Aufeinandertreffens in einer Gruppe außerhalb einer geschlossenen und festen Regeln und Zwangsaktionen unterliegenden Einrichtung zu vermeiden, wie dies von der Bevollmächtigten des Klägers im Rahmen eines bedingt gestellten Beweisantrags in der ersten mündlichen Verhandlung am 20. Dezember 2023 beantragt worden war. Im Gegenteil hatte das Strafgericht beim Kläger das Vorliegen schädlicher Neigungen im Sinne von § 17 Abs. 2 Jugendgerichtsgesetz (JGG) sowie erhebliche Persönlichkeitsmängel, aus denen sich die Neigung zur Begehung von Straftaten ergebe, festgestellt.
23
Der Rechtmäßigkeit der Ausweisung des Klägers steht ferner nicht entgegen, dass der Gesetzesbeschluss zum Zuwanderungsgesetz schon vor der Geburt des Klägers gefasst worden war, dieses Gesetz aber keine Rückwirkung zugunsten des Klägers vorsieht. Aus den oben genannten Gründen zum Nichtvorliegen einer Verletzung des Gleichheitssatzes aus Art. 3 Abs. 1 GG liegt beim Kläger kein hierauf bezogenes „verfestigtes Bleibeinteresse“ vor, welches von der Beklagten im Rahmen ihrer Abwägung zu berücksichtigen gewesen wäre.
24
Der Rechtmäßigkeit der Ausweisung des Klägers steht schließlich auch nicht die Mitteilung des pädagogischen Dienstes der Justizvollzugsanstalt L. über das Prüfungsergebnis der schriftlichen Prüfungen des Klägers im Rahmen der externen Prüfung zum erfolgreichen Abschluss der Mittelschule entgegen, die die Bevollmächtigte des Klägers dem Gericht am 28. Februar 2024 vorgelegt hatte. Es ist nicht erkennbar, inwiefern im vorliegenden Fall gute schulische Leistungen des Klägers das besonders schwerwiegende öffentliche Ausweisungsinteresse relativieren könnten.
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3. Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ist ermessensgerecht und damit ebenfalls rechtmäßig. Art. 8 EMRK gewährt keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt. Gleichwohl ist die Ausländerbehörde verpflichtet, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des den (weiteren) Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, zu berücksichtigen. Im vorliegenden Fall hat die Beklagte die familiären Bindungen des Klägers im Bundesgebiet ausreichend gewürdigt.
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3. Auch hinsichtlich der übrigen von der Beklagte unter Nr. 3 und 4 im streitgegenständlichen Bescheid getroffenen Entscheidungen und verfügten Maßnahmen bestehen keine Rechtmäßigkeitsbedenken. Der Erteilung bzw. Verlängerung der vom Kläger beantragten Aufenthaltserlaubnis stehen – wie im Bescheid näher ausgeführt – vor allem das öffentliche Ausweisungsinteresse aufgrund der massiven Straffälligkeit des Klägers entgegen (§ 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG). Die Abschiebungsandrohung genügt den Bestimmungen nach § 59 Abs. 1 und 2 AufenthG. Das Gericht folgt auch insoweit der Begründung des angefochtenen Bescheids und sieht deshalb insgesamt gemäß § 117 Abs. 5 VwGO von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab.
II.
27
Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.
III.
28
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit sowie zur Abwendungsbefugnis folgt aus § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
IV.
29
Gründe für die von der Klägerseite beantragte Zulassung der Berufung sind nicht erkennbar, insb. nicht wegen besonderer Schwierigkeit, auch nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache oder wegen Divergenz (vgl. zur grundsätzlichen Bedeutung HambOVG B.v. 5.10.2009 – 3 Bf 48/08.Z – juris Rn. 18 ff.).