Inhalt

BayObLG, Beschluss v. 21.03.2024 – 205 StRR 101/24
Titel:

Anforderung an die Überprüfung eines Entschuldigungsgrundes vor Verwerfung der Berufung

Normenkette:
StPO § 329, § 344 Abs. 2, § 349 Abs. 4
Leitsätze:
Die Aufklärungspflicht im Rahmen des § 329 StPO gebietet es, dem Vortrag der Verteidigung nachzugehen, der Angeklagte habe einen Unfall gehabt und sich in der Nacht vor dem Hauptverhandlungstermin im Krankenhaus befunden. (Rn. 10)
1. Eine Verletzung von § 329 StPO kann nur mit einer den Vorgaben des § 344 Abs. 2 S. 2 StPO entsprechenden Verfahrensrüge geltend gemacht werden. Begründungs- und Aufklärungsmängel stellen sich dabei unmittelbar als Verletzung der Verfahrensnorm dar, ohne dass eine Rüge von Verstößen gegen § 261 StPO oder § 244 Abs. 2 StPO geboten wäre. Zu einem nicht oder unzureichend aufgeklärten Entschuldigungsgrund ist dabei so konkret und umfassend vorzutragen, dass sich die Verhinderung zum Terminszeitpunkt allein aus dem Revisionsvorbringen ergibt. (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)
2. Der bloße Verdacht, der vorgebrachte Entschuldigungsgrund entspräche nicht den Tatsachen, rechtfertigt keine Verwerfung der Berufung ohne Verhandlung zu Sache. (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Revision, Verfahrensrüge, Aufklärungspflicht, Ausbleiben, Entschuldigungsgrund, Verwerfung der Berufung, Freibeweisverfahren
Vorinstanz:
LG Kempten, Urteil vom 05.12.2023 – 4 Ns 160 Js 15310/21
Fundstelle:
BeckRS 2024, 32049

Tenor

I. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Kempten (Allgäu) vom 5. Dezember 2023 mit den zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben.
II. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Strafkammer des Landgerichts Kempten (Allgäu) zurückverwiesen.

Gründe

I.
1
Das Amtsgericht Kempten (Allgäu) hat den Angeklagten mit Urteil vom 16. August 2022 wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt und die Verwaltungsbehörde angewiesen, dem Angeklagten vor Ablauf eines Jahres keine neue Fahrerlaubnis zu erteilen verurteilt. Die gegen dieses Urteil vom Angeklagten eingelegte Berufung hat das Landgericht Kempten (Allgäu) mit Urteil vom 5. Dezember 2023 ohne Verhandlung zur Sache gemäß § 329 Abs. 1 S. 1 StPO verworfen.
2
Zur Begründung hat das Landgericht ausgeführt, das Ausbleiben des Angeklagten im Hauptverhandlungstermin sei nicht ausreichend entschuldigt. Es seien keine Unterlagen hinsichtlich eines Verkehrsunfalls bzw. einer damit einhergehenden Verhinderung vorgelegt worden.
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Dagegen wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision und rügt die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Zur Verfahrensrüge wird im Wesentlichen ausgeführt, der Angeklagte sei nicht an seinem Wohnort geladen worden, seine beruflich veranlasste Reise sei nicht als genügende Entschuldigung anerkannt worden und das Landgericht sei seiner Aufklärungspflicht nicht nachgekommen, da es trotz Mitteilung, der Angeklagte habe einen Verkehrsunfall erlitten und befinde sich zur Terminsstunde im Krankenhaus, keine weiteren Ermittlungen dazu angestellt habe. Zudem sei wegen einer Nichtanzeige nach § 30 StGB das Gebot des fairen Verfahrens verletzt. Die Sachrüge wird allgemein erhoben und nicht ausgeführt.
II.
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Die Revision hat bereits mit der Verfahrensrüge Erfolg, so dass es auf die Sachrüge nicht mehr ankommt. Das Landgericht hat rechtsfehlerhaft seine Aufklärungspflicht verletzt. Die Berufung hätte daher nicht ohne Verhandlung zur Sache nach 329 Abs. 1 Satz 1 StPO verworfen werden dürfen: 1) Die Frage, ob der Angeklagte ordnungsgemäß geladen wurde, ob die Reise des Angeklagten eine genügende Entschuldigung darstellen würde, ob das Gebot des fairen Verfahrens verletzt worden ist oder ob die Sachrüge zum Erfolg des Rechtsmittels geführt hätte, kann der Senat dahinstehen lassen.
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2) Das Urteil des Landgerichts war bereits deshalb aufzuheben, weil die Verfahrensrüge der Verletzung der Aufklärungspflicht im Rahmen von § 329 StPO zulässig und begründet ist.
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a) § 329 StPO ist eine Vorschrift des formellen Rechts, deren Verletzung nur mit einer den Vorgaben des § 344 Abs. 2 S. 2 StPO entsprechenden Verfahrensrüge geltend gemacht werden kann. Dabei stellen sich Begründungs- und Aufklärungsmängel unmittelbar als Verletzung der Verfahrensnorm des § 329 StPO dar, ohne dass insoweit eine Rüge von Verstößen gegen § 261 StPO oder § 244 Abs. 2 StPO geboten wäre (Quentin in Münchner Kommentar zur StPO, 2. Auflage 2024, § 329 Rn. 100). Welches Vorbringen im Einzelfall nach § 344 Abs. 2 S. 2 StPO erforderlich ist, bestimmt sich nach dem geltend gemachten Rechtsfehler und dem Inhalt des angefochtenen Urteils. Die – nicht immer einheitliche – Rechtsprechung legt dabei einen weit weniger strengen Maßstab an, als dies bei anderen Verfahrensrügen der Fall ist (Quentin, a.a.O. Rn. 102). Will der Revisionsführer geltend machen, das Berufungsgericht habe einen vorhandenen Entschuldigungsgrund nicht hinreichend aufgeklärt, muss er – vergleichbar den allgemeinen Begründungsanforderungen an eine Aufklärungsrüge – darlegen, welcher eine genügende Entschuldigung ergebende Umstand vorgelegen hat, welche Beweismittel zu dessen Aufklärung zur Verfügung standen und aufgrund welcher Umstände das Berufungsgericht zu weiterer Aufklärung verpflichtet war. Zu dem nicht oder unzureichend aufgeklärten Entschuldigungsgrund ist dabei so konkret und umfassend vorzutragen, dass sich die Verhinderung zum Terminszeitpunkt allein aus dem Revisionsvorbringen ergibt (Quentin, a.a.O Rn. 103).
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b) Nach diesen Grundsätzen ist die Verfahrensrüge der Verletzung der Aufklärungspflicht im Rahmen des § 329 StPO formgerecht nach § 344 Abs. 2 S. 2 StPO erhoben worden. Die Revision führt nämlich aus, der Angeklagte habe seinen Verteidiger kurz vor Mitternacht am 4. Dezember 2023 per E-Mail informiert, dass er einen Verkehrsunfall erlitten habe und sich im Krankenhaus befinde. Diese Umstände habe der Verteidiger am 5. Dezember 2023 im Hauptverhandlungstermin vorgetragen.
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Das Landgericht habe ohne weitere freibeweisliche Ermittlungen die Berufung nach § 329 StPO ohne Verhandlung zur Sache verworfen. Als Ermittlungen im Freibeweisverfahren hätten sich beispielsweise angeboten, die Hauptverhandlung zu unterbrechen und über den Verteidiger „gerichtsfeste Tatsachen, zu dem Unfall zu erfragen“ (RevBegr. S.3). Dieser Vortrag reicht im gegebenen Fall, in dem eine Behandlung im Krankenhaus behauptet wird, für eine zulässig erhobene Verfahrensrüge aus.
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c) Die Verfahrensrüge ist begründet, weil das Landgericht die Aufklärungspflicht im Rahmen des § 329 StPO verletzt hat:
10
i) Auf die Verfahrensrüge muss das Revisionsgericht prüfen, ob das Berufungsgericht die Pflicht zu weiterer Sachaufklärung gehabt hätte. Allein hierbei ist ihm die Möglichkeit des Freibeweises eröffnet. Führt er zu dem Ergebnis, dass besondere Umstände vorlagen, die den Tatrichter zu zusätzlichen Ermittlungen drängten, so ist nach den allgemeinen Grundsätzen des Revisionsrechts das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen (BGH, Beschluss vom 11. April 1979 – 2 StR 306/78, BeckRS 1979, 109208). ii) Im vorliegenden Fall wurde dem Landgericht, was sich aus dem Urteil ergibt, im Hauptverhandlungstermin unterbreitet, der Angeklagte habe einen Verkehrsunfall gehabt und könne deshalb zum Termin nicht erscheinen. Nach dem freibeweislich vom Senat zur Kenntnis zu nehmenden Vortrag der Revision, wurde der Kammer im Termin zusätzlich noch mitgeteilt, der Angeklagte habe sich zumindest in der Nacht vor dem Termin kurz vor Mitternacht „im Krankenhaus“ befunden (RevBegr. S.3). Bei dieser Sachlage hätte es sich der Kammer aufdrängen müssen, die vorgetragenen Umstände im Rahmen der Aufklärungspflicht im Freibeweisverfahren zu überprüfen. Der hier im Raum stehende stationäre Krankenhausaufenthalt nach einem Verkehrsunfall hätte die Teilnahme am Hauptverhandlungstermin mit großer Wahrscheinlichkeit als unzumutbar erscheinen lassen.
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Sofern das Landgericht allerdings vermutet haben sollte, der vorgebrachte Entschuldigungssachverhalt würde nicht den Tatsachen entsprechen, rechtfertigt dieser bloße Verdacht keine Verwerfung der Berufung ohne Verhandlung zu Sache. Das Landgericht hätte vielmehr auch in diesem Falle diesbezügliche Ermittlungen anstellen müssen. Auf der Grundlage von auf diese Weise gewonnenen Erkenntnissen hätte es sich dann im Rahmen einer Beweiswürdigung davon überzeugen können, ob der Entschuldigungsgrund der Wahrheit entsprach oder nur vorgeschützt war. Nur in der letztgenannten Alternative wäre die Berufung dann nach § 329 StPO zu verwerfen gewesen.
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3) Der Senat kann nicht ausschließen, dass das Urteil auf dem aufgezeigten Mangel beruht.
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Es besteht nämlich die Möglichkeit, dass das Landgericht von einer Verwerfung der Berufung ohne Verhandlung zur Sache abgesehen hätte, wenn es den vorgetragenen Sachverhalt überprüft hätte und dabei möglicherweise zu dem Ergebnis gekommen wäre, dass sich der Angeklagte zur Terminsstunde am 5. Dezember 2023 ab 9.00 Uhr stationär im Krankenhaus befunden habe. Deswegen hebt der Senat das Urteil gemäß § 349 Abs. 4 StPO mit den getroffenen Feststellungen (§ 353 Abs. 2 StPO) auf und verweist die Sache gemäß § 354 Abs. 2 Satz 1 StPO an eine andere Kammer des Landgerichts Kempten (Allgäu) zurück.