Titel:
Asylrecht Nigeria, erfolgreicher Eilantrag, Asylverfahren in Italien erfolglos abgeschlossen, Zweitantrag in der Bundesrepublik, ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung wegen Unionsrechtswidrigkeit aufgrund Aufenthaltsgestattung der Tochter der Antragstellerin (bejaht), ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung wegen voraussichtlicher Unionswidrigkeit der Ablehnung als unzulässig (offengelassen)
Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5
AsylG § 71a
RL 2008/115/EG (Rückführungs-RL) Art. 5 Buchst. a) und b) der
RL 2013/32/EU (Asylverfahrens-RL) Art. 33 Abs. 2 Buchst. d) der
Art. 2 Buchst. q) der RL 2013/32/EU (Asylverfahrens-RL)
Schlagworte:
Asylrecht Nigeria, erfolgreicher Eilantrag, Asylverfahren in Italien erfolglos abgeschlossen, Zweitantrag in der Bundesrepublik, ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung wegen Unionsrechtswidrigkeit aufgrund Aufenthaltsgestattung der Tochter der Antragstellerin (bejaht), ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung wegen voraussichtlicher Unionswidrigkeit der Ablehnung als unzulässig (offengelassen)
Fundstelle:
BeckRS 2024, 2599
Tenor
I. Die aufschiebende Wirkung der Klage M 26a K 23.30069 gegen die Abschiebungsandrohung in Nr. 3 des Bescheids des Bundesamts vom 4. Januar 2023, Gesch.-Z.: …, wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
1
Die Antragstellerin begehrt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegen die Abschiebungsandrohung im Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 4. Januar 2023, Gesch.-Z.: …, mit dem ihr Asylantrag im Bundesgebiet als unzulässiger Zweitantrag abgelehnt wurde.
2
Die Antragstellerin, ihren eigenen Angaben in den Asylverfahren zufolge nigerianische Staatsangehörige, stellte am … Mai 2018 ihren ersten Asylantrag in der Bundesrepublik Deutschland und gab dabei u.a. an, 2016 ihr Heimatland verlassen und bereits in Italien einen Asylantrag gestellt zu haben. Mit Bescheid des Bundesamtes vom 23. Mai 2018, Gesch.-Z.: …, wurde der Antrag daraufhin als unzulässig nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Asylgesetz (AsylG) abgelehnt. Zugleich wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) nicht vorliegen und die Abschiebung nach Italien angeordnet. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 6 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet.
3
Am 16. November 2018 wurde die Antragstellerin nach Italien abgeschoben.
4
Am 30. Januar 2019 reiste die Antragstellerin erneut ins Bundesgebiet ein und stellte am selben Tag einen weiteren Asylantrag. Da die gegen den ersten Bescheid des Bundesamtes vom 23. Mai 2018, Gesch.-Z.: …, erhobene Klage noch beim Verwaltungsgericht Regensburg anhängig war, ordnete das Bundesamt mit Bescheid vom 25. Februar 2019, Gesch.-Z.: …, (erneut) die Abschiebung nach Italien an und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 24 Monate ab dem Tag der Abschiebung.
5
Aufgrund des Bescheides vom 25. Februar 2019 wurde die gegen den Bescheid vom 23. Mai 2018 beim Verwaltungsgericht Regensburg (RO 5 K 18.50369) erhobene Klage seitens des Verwaltungsgerichts Regensburg mittels eines einfachen Schreibens an die Antragstellerin vom 28. Februar 2019 als erledigt betrachtet und beendet. Sollte gegen den neuen Bescheid ein Rechtsbehelf eingelegt werden, würde bei Gericht ein neues Verfahren eröffnet werden. Der daraufhin gestellte Antrag der Antragstellerin auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der zugleich erhobenen Klage wurde mit Beschluss des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 11. März 2019 (RO 5 S 19.50223) und nochmals als als Doppelantrag erfasster Antrag mit Beschluss vom 12. März 2019 (RO 5 S 19.50243) abgelehnt.
6
Der Versuch einer erneuten Abschiebung nach Italien scheiterte, da die Antragstellerin seit 9. Juli 2019 untergetaucht war.
7
Mit Beschluss vom 16. Oktober 2019 wurden die Klageverfahren gegen den Bescheid des Bundesamtes vom 25. Februar 2019, RO 5 K 19.50224 und RO K 19.50244, verbunden und künftig unter dem Aktenzeichen RO 5 K 19.50224 wegen versehentlicher Doppelerfassung geführt. Mit Beschluss vom 16. Januar 2020 (RO 5 K 19.50224) wurde das Klageverfahren wegen Nichtbetreibens nach § 81 AsylG eingestellt.
8
Am … April 2022 wurde die Antragstellerin von der Polizei von Frankreich kommend zusammen mit ihrem Lebensgefährten O. … F. …, geboren am … … 1993, und ihren Kindern C. … F. …, geboren am … … 2020, und M. … F. …, geboren am … … 2021, im Bundesgebiet aufgegriffen. Da zu diesem Zeitpunkt dem Bundesamt die Betrachtung des Klageverfahrens RO 5 K 18.50369 als erledigt durch das Verwaltungsgericht Regensburg nicht bekannt war, da eine entsprechende Benachrichtigung unterblieben war, wurde für das erneute Asylgesuch der Antragstellerin unter dem Gesch.-Z.: … ein weiteres Verfahren angelegt, das im Folgenden als erneutes Asylverfahren weitergeführt wurde. Im Rahmen der Anhörung zur Zulässigkeit des Asylantrags gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 – 4 AsylG am … Juni 2022 gab die Antragstellerin u.a. an, von 2020 bis 2022 in Frankreich gewesen zu sein. Zuvor sei sie in Holland gewesen. Da ihr Asylantrag dort nicht akzeptiert worden sei, habe sie Holland freiwillig verlassen und sei – schwanger – mit ihrem Mann nach Frankreich gegangen. In Frankreich sei ihr Asylantrag abgelehnt worden. Den Bescheid habe sie nicht dabei, eventuell habe sie ihn verloren.
9
Da sowohl Holland als auch Frankreich das Übernahmeersuchen des Bundesamtes abgelehnt hat, wurde seitens des Bundesamtes am 11. Juli 2022 entschieden, eine Entscheidung über den Asylantrag der Antragstellerin im nationalen Verfahren zu treffen. Im Rahmen der Anhörung zum Folgeantragsverfahren am … August 2022 gab die Antragstellerin an, dass die neuen Gründe für eine Gefahr in ihrem Herkunftsstaat darin liegen würden, dass die Madame, die sie nach Europa gebracht habe, sie und ihre Familie wieder bedrohen würde. Sie sei hier in Deutschland mit ihrem Mann und zwei Töchtern.
10
Auf Nachfrage des Bundesamtes teilte das Ministerio Dell´Interno, Dipartimento per le Libertà e l´Immigrazione mit Schreiben vom 30. Dezember 2022 mit, dass der Asylantrag der Antragstellerin am 23. Februar 2017 von Italien endgültig abgelehnt worden sei. Aus humanitären Gründen sei ihr eine Aufenthaltserlaubnis erteilt worden, die am 11. Mai 2019 abgelaufen sei.
11
Daraufhin wurde mit streitgegenständlichem Bescheid vom 4. Januar 2023, Gesch.-Z.: …, der Antragstellerin zugestellt am 11. Januar 2023, der erneute Asylantrag als unzulässig nach § 71a AsylG abgelehnt (Nr. 1). Zugleich wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2). Die Antragstellerin wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen, andernfalls sie nach Nigeria oder in einen anderen zu ihrer Aufnahme bereiten oder verpflichteten Staat abgeschoben würde, wobei die Vollziehung der Abschiebungsandrohung und der Lauf der Ausreisefrist bis zum Ablauf der einwöchigen Klagefrist und, im Falle einer fristgerechten Stellung eines Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage, bis zur Bekanntgabe der Ablehnung des Eilantrags durch das Verwaltungsgericht ausgesetzt wurden (Nr. 3). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 36 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 4).
12
Gegen diesen Bescheid erhob die Antragstellerin am 12. Januar 2023 zur Niederschrift in der Rechtsantragstelle des Bayerischen Verwaltungsgerichts München Klage, mit dem Antrag, den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 4. Januar 2023, Az.: …, zugestellt am 11. Januar 2023, aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, das Asylverfahren durchzuführen (fortzuführen) und festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG vorliegen. Über die Klage, die unter dem Aktenzeichen M 26a K 23.30069 bei Gericht geführt wird, wurde bislang noch nicht entschieden. Zugleich beantragte die Antragstellerin,
13
hinsichtlich der Abschiebungsandrohung die aufschiebende Wirkung der Klage gemäß § 80 Abs. 5 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) anzuordnen.
14
Zur Begründung wurde auf die Angaben gegenüber dem Bundesamt Bezug genommen.
15
Mit Schreiben vom 18. Januar 2023 legte die Antragsgegnerin die Asylakten der Antragstellerin vor und beantragte unter Bezugnahme auf die Begründung des streitgegenständlichen Bescheides, die Klage abzuweisen und
16
den Antrag abzulehnen.
17
Mit Schreiben vom 6. September 2023 teilte das Bundesamt auf gerichtliche Nachfrage vom 4. September 2023 mit, dass die Asylanträge der Töchter der Antragstellerin C. … F. … und M. … F. … mit Bescheiden vom 28. Juni 2023 vollumfänglich abgelehnt und seit dem 9. bzw. 11. August 2023 bestandskräftig seien. Für eine weitere Tochter, Z. … F. …, geboren am … … 2023, sei am 27. Juli 2023 ein Asylantrag gestellt worden. Die Verfahrensakten würden dem Gericht zeitnah übermittelt werden.
18
Auf erneute gerichtliche Nachfrage vom 26. Januar 2024 teilte das Bundesamt mit Schreiben vom 29. Januar 2024 mit, dass sich die Tochter Z. … F. … im laufenden Asylverfahren befinde und über eine Aufenthaltsgestattung verfüge. Es werde jedoch auf die Entscheidungspraxis der 10. Kammer und der Kammern 21a, 21b des Bayerischen Verwaltungsgerichts München verwiesen, wonach im Hinblick auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 15. Februar 2023 – C 484/22 – nachträgliche Umstände nicht durch das Bundesamt zu berücksichtigen seien.
19
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte in diesem und im Klageverfahren sowie auf die vorgelegten Asylakten verwiesen.
20
Der zulässige Antrag ist begründet.
21
1. Der Antrag ist zulässig.
22
Gegenstand des Antrags ist die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der gegen die Abschiebungsandrohung gerichteten Anfechtungsklage. Der Antrag ist gemäß § 80 Abs. 5, Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO statthaft, da die Klage gegen die Abschiebungsandrohung kraft Gesetzes keine aufschiebende Wirkung entfaltet (§§ 75, 71a Abs. 4 i.V.m. §§ 34, 36 Abs. 1 Asylgesetz – AsylG). Die Antragsfrist von einer Woche (§ 71a Abs. 4 i.V.m. § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG) wurde eingehalten.
23
2. Der Antrag ist auch begründet.
24
2.1. Nach den §§ 71a Abs. 4, 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG darf die aufschiebende Wirkung der Klage im Falle eines Zweitantrages, in dem ein weiteres Asylverfahren nicht durchgeführt wird, nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen. Ernstliche Zweifel in diesem Sinne liegen dann vor, wenn erhebliche Gründe dafürsprechen, dass die Maßnahme einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (vgl. BVerfG, Urt. v. 14.05.1996 – 2 BvR 1615/93 – juris, Rn. 99). Gegenstand der Prüfung im Eilverfahren ist allein die Frage, ob die erlassene Abschiebungsandrohung mit einer Ausreisefrist von einer Woche rechtmäßig ist. Dies setzt voraus, dass der Asylantrag zu Recht als unzulässig abgelehnt worden ist, dass der Abschiebung keine Abschiebungsverbote entgegenstehen und die Abschiebungsandrohung auch nicht aus anderen Gründen rechtswidrig ist.
25
2.2. In Anwendung dieser rechtlichen Maßstäbe bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung, da die am … … 2023 geborene Tochter Z. … F. … der Antragstellerin noch im Besitz einer Aufenthaltsgestattung ist, da über deren Asylantrag noch nicht entschieden wurde, und sich die Abschiebungsandrohung unter Berücksichtigung des Beschlusses des Europäischen Gerichtshofs vom 15. Februar 2023 – C-484/22 – im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Halbs. 2 AsylG) insoweit als rechtswidrig erweist.
26
2.2.1. Der Europäische Gerichtshof hat in diesem Beschluss auf Vorlage des Bundesverwaltungsgerichts (B.v. 08.06.2022 – 1 C 24/21 – juris) festgestellt, dass Art. 5 Buchst. a) und b) der RL 2008/115/EG (Rückführungsrichtlinie) dahin auszulegen ist, dass er verlangt, das Wohl des Kindes und seine familiären Bindungen (bereits) im Rahmen eines zum Erlass einer gegen einen Minderjährigen ausgesprochenen Rückkehrentscheidung führenden Verfahrens zu schützen, und dass es nicht genügt, wenn der Minderjährige diese beiden geschützten Interessen im Rahmen eines nachfolgenden Verfahrens betreffend den Vollzug dieser Rückkehrentscheidung geltend machen kann, um gegebenenfalls eine Aussetzung deren Vollzugs zu erwirken (EuGH, B.v. 15.02.2023 – C-484/22 – juris Rn. 28).
27
Bereits mit Urteil vom 11. März 2021 hatte der Europäische Gerichtshof festgestellt, dass Art. 5 der RL 2008/115/EG in Verbindung mit Art. 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen ist, dass die Mitgliedstaaten vor Erlass einer mit einem Einreiseverbot verbundenen Rückkehrentscheidung das Wohl des Kindes gebührend zu berücksichtigen haben, selbst wenn es sich beim Adressaten der Entscheidung nicht um einen Minderjährigen, sondern um dessen Vater handelt (EuGH, U.v. 11.03.2021 – C-112/20 – juris).
28
2.2.2. Daran gemessen genügt die streitgegenständliche Abschiebungsandrohung den unionsrechtlichen Anforderungen nicht, da sie die familiären Bindungen der Antragstellerin und das Kindeswohl ihrer Tochter unter Beachtung der grundrechtlichen und konventionsrechtlichen Maßstäbe nach Art. 5 Buchst. a) und b) der Rückführungsrichtlinie nicht in gebührender Weise berücksichtigt.
29
Die vorliegend streitgegenständliche Abschiebungsandrohung stellt eine Rückkehrentscheidung im Sinne von Art. 3 Nr. 4, Art. 6 und Art. 7 Abs. 1 UAbs. 1 der Rückführungsrichtlinie dar (vgl. BVerwG, EuGH-Vorlage-B.v. 8.6.2022 – 1 C 24/21 – juris Rn. 18 unter Verweis auf U.v. 16.2.2022 – 1 C 6.21 – juris Rn. 41, 45 und 56 m.w.N.) und hat somit unionsrechtlichen Anforderungen zu genügen (vgl. Pietzsch in: BeckOK Ausländerrecht, Stand 1.1.2023, § 34 AsylG Rn. 5a).
30
Unerheblich ist dabei, dass die streitgegenständliche Abschiebungsandrohung – anders als in der Konstellation, die der bereits zitierten Entscheidung des EuGH vom 15. Februar 2023 zugrunde lag – gegenüber der erwachsenen Mutter und nicht gegenüber dem minderjährigen Kind erlassen wurde, da Art. 5 Buchst. b) der RL 2008/115/EG familiäre Belange allgemein schützt und nicht zwischen solchen von Kindern und Erwachsenen unterscheidet (BayVGH, B.v. 05.06.2023 – 11 ZB 23.30200 – juris, Rn. 7).
31
Die am … … 2023 geborene Tochter der Antragstellerin, Z. … F. …, ist den Angaben der Antragsgegnerin zufolge im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (vgl. hierzu noch unter Nr. 2.2.3.) im Besitz einer Aufenthaltsgestattung (§ 55 Abs. 1 Satz 1, § 67 AsylG) und verfügt somit über ein – zwar auf die Dauer des Statusfeststellungsverfahrens beschränktes und vorläufiges, aber dennoch zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt vor jedweder Überstellung in einen möglichen Verfolgerstaat schützendes – Aufenthaltsrecht (vgl. Röder in: BeckOK MigR, Stand 15.1.2023, § 55 AsylG Rn. 1; Bergmann in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Auflage 2022, § 55 AsylG Rn. 2 unter Verweis auf BVerwG, U.v. 7.10.1975 – I C 46.69 – juris Rn. 28). Vor diesem Hintergrund kann von der Antragstellerin nicht erwartet werden, dass sie – solange ihre Tochter noch ein Aufenthaltsrecht für die Bundesrepublik Deutschland besitzt – zusammen mit und erst recht nicht ohne dieser aus der Bundesrepublik Deutschland ausreist. Aus denselben Gründen kommt eine Abschiebung der Antragstellerin (mit oder ohne Tochter) nicht in Betracht.
32
2.2.3. Soweit von der Antragsgegnerin mit Schreiben vom 29. Januar 2024 auf zwei Entscheidungen des Verwaltungsgerichts München (VG München, U.v. 15.06.2023 – M 10 K 18.31956 – juris Rn. 38 und U.v. 22.01.2024 – M 21a K 19.31776 – Rn. 24) hingewiesen wurde, wonach im Hinblick auf die Entscheidung des EuGH vom 15. Februar 2023 – C-484/22 – nachträgliche Umstände nicht durch das Bundesamt zu berücksichtigen seien, folgt die erkennende Einzelrichterin dieser Auffassung nicht.
33
Die Frage des maßgeblichen Entscheidungszeitpunkts ergibt sich ohne weiteres aus dem Gesetz. Es kommt auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Tatsachengericht bzw. auf den Zeitpunkt, in dem die Entscheidung gefällt wird, an, § 77 Abs. 1 AsylG (vgl. BayVGH, B.v. 01.08.2023 – 2 ZB 23.30551 – juris Rn. 8).
34
2.3. Darauf, ob ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung, die mit der Ablehnung des Asylantrags nach § 71a AsylG verbunden und auf § 71a i.V.m. § 34 Abs. 1 AsylG gestützt wurde, auch aufgrund der in der Rechtsprechung umstrittenen Frage der Vereinbarkeit von § 71a AsylG mit Art. 33 Abs. 2 Buchst. d) und Art. 2 Buchst. q) der RL 2013/32/EU (Verfahrensrichtlinie) bestehen, kommt es zumindest derzeit im vorliegenden Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nicht entscheidungserheblich an (ernstliche Zweifel bejahend bspw. BayVGH, B.v. 26.01.2023 – 6 AS 22.31155 – juris, ernstliche Zweifel verneinend bspw. VG Bayreuth, B.v. 15.09.2023 – B 6 S 23.30679 – juris unter Bezugnahme auf OVG Lüneburg, B.v. 28.12.2022 – 11 LA 280/21 – juris, beide jeweils umfangreich mit weiteren Nachweisen).
35
In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4.16 – juris Rn. 26) und des Europäischen Gerichtshofs ist die Frage der Vereinbarkeit des § 71a AsylG mit Unionsrecht bislang offengelassen worden. Der EuGH hat zwar mit Urteil vom 22. September 2022 – C-497/21 – die Frage für den Fall (verneinend) beantwortet, dass der frühere Antrag in dem Mitgliedstaat Dänemark gestellt und abgelehnt wurde; das hat er allerdings damit begründet, dass nach dem Abkommen zwischen der Union und Dänemark (ABl. 2006, L 66, S. 38) die RL 2011/95/EU auf Dänemark keine Anwendung findet und dort deshalb kein „Antrag“ im Sinn von Art. 2 Buchst. b) RL 2013/32/EU gestellt und keine „bestandskräftige Entscheidung“ im Sinn von Art. 2 Buchst. e) RL 2013/32/EU getroffen werden kann (juris Rn. 43 ff.). Die Frage, ob der Begriff „Folgeantrag“ auf einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz anwendbar ist, der in einem Mitgliedstaat gestellt wird, nachdem ein anderer Mitgliedstaat als Dänemark einen früheren Antrag eine bestandskräftige Entscheidung abgelehnt hat, hat der EuGH jedoch erneut ausdrücklich offengelassen (EuGH, U.v. 22.09.2022 – C-497/21 – juris Rn. 46, zuvor bereits EuGH, U.v. 20.5.2021 – C-8/20 – juris Rn. 40 im Hinblick auf Norwegen).
36
Auf einen Vorlagebeschluss des VG Minden (B.v. 28.10.2022 – 1 K 1829/21.A – juris) ist diese Fragestellung derzeit beim EuGH anhängig (Rechtssache C-123/23). Das Bundesverwaltungsgericht hat daraufhin ein bei ihm anhängiges Verfahren mit Beschluss vom 1. August 2023 entsprechend § 94 VwGO bis zur Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs ausgesetzt (BVerwG, B.v. 01.08.2023 – 1 C 1/23 – juris).
37
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
38
4. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).