Titel:
Erfolgreicher Eilantrag auf vorläufige Bewilligung einer Schulbegleitung
Normenketten:
VwGO § 123
SGB VIII § 35a Abs. 1 S. 1 Nr. 2, Abs. 3
SGB IX § 90 Abs. 4, § 112 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, Abs. 2
Leitsatz:
Bei der Verpflichtung des Antragsgegners zur vorläufigen Bewilligung einer Schulbegleitung bis zu einer Entscheidung des Antragsgegners über einen rechtzeitig zuvor gestellten entsprechenden Antrag des Antragstellers handelt es sich um die Vorwegnahme der Hauptsache (abweichend von BayVGH, B.v. 7.9.2018 – 12 CE 18.1899 – juris). (Rn. 41 – 43)
Schlagworte:
einstweilige Anordnung, Eingliederungshilfe, Asperger-Autismus, Besuch einer IT-Fachschule, Schulbegleitung, Vorwegnahme der Hauptsache, Teilhabebeeinträchtigung, Unbestimmter Rechtsbegriff, volle verwaltungsgerichtliche Kontrolle, Geeignetheit der Hilfe, Beurteilungsspielraum des Jugendamtes, Verengung des Beurteilungsspielraums auf Null, Anordnungsanspruch, glaubhaft gemacht, Anordnungsgrund, Asperger, Autismus
Fundstelle:
BeckRS 2024, 22190
Tenor
I. Der Antragsgegner wird verpflichtet, der Antragstellerin ab dem 9. September 2024 vorläufig bis zur Entscheidung des Antragsgegners über den am 16. Oktober 2023 bei ihm eingegangenen diesbezüglichen Antrag vom 10. Oktober 2023, längstens jedoch bis zum Ende des Schuljahres 2024/2025, Eingliederungshilfe in Form der Bewilligung einer Schulbegleitung für den Besuch der Berufsschule 2, A* …, Berufsfachschule IT im Umfang sämtlicher Unterrichtsstunden sowie sämtlicher dazwischengelegener Pausen und unterrichtsfreier Zeiten zu gewähren.
II. Die Kosten des Verfahrens hat der Antragsgegner zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
1
Die am 28. Dezember 2007 geborene Antragstellerin wird im Schuljahr 2024/2025 an der Staatlichen Berufsschule 2, A* …, eine einjährige Berufsfachschule IT absolvieren. Die Parteien streiten um die Bewilligung einer Schulbegleitung für den Besuch dieser Schule als Eingliederungshilfemaßnahme.
2
1. Die Antragstellerin befand sich vom 16. Mai 2022 bis zum 19. Mai 2022 im Klinikum A* … – A* …, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters (im Folgenden: Klinikum A* …*) in stationärer Behandlung, aus der sie gegen ärztlichen Rat auf eigenen Wunsch entlassen wurde.
3
Mit Arztbrief vom 6. Juni 2023 stellte das Klinikum A* … für die Antragstellerin folgende Diagnose:
- Autismus-Spektrum-Störung (F84.05)
- mittelgradige depressive Episode (F32.01)
- Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität mit Beginn in der Kindheit und Jugend (F98.80)
- durchschnittliche Intelligenz
- ernsthafte soziale Beeinträchtigung im mindestens ein oder zwei Bereichen.
4
Mit Arztbrief vom 21. Mai 2024 ergänzte das Klinikum A* … diese Diagnose wie folgt:
„- ernsthafte und durchgängige soziale Beeinträchtigung in den meisten Bereichen.“
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Im Arztbrief vom 6. Juni 2023 wurde unter anderem der Befund festgehalten, die Antragstellerin gebe Konzentrationsschwierigkeiten sowie Ängste vor anderen Menschen und Menschenmengen an. Das Klinikum A* … empfahl verschiedene psychotherapeutische Maßnahmen; aus fachärztlicher Sicht seien aufgrund der seelischen Behinderung auch die Voraussetzungen zur Prüfung des Bedarfs einer Hilfe nach § 35a SGB VIII durch das Jugendamt gegeben.
6
In der Folge nahm die Antragstellerin regelmäßig vierzehntägig an Verlaufsterminen in der psychiatrischen Institutsambulanz des Klinikums A* … teil.
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Mit Bescheinigung vom 19. Juli 2023 empfahl das Klinikum A* … in Bezug auf den Besuch der Mittelschule zur psychosozialen Entlastung einen Nachteilsausgleich vor allem in Form der Befreiung von mündlichen Leistungsnachweisen; zugleich wurde Involvierung des Mobilen Sonderpädagogischen Dienstes Autismus empfohlen.
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Mit Bescheinigung vom 4. Oktober 2023 empfahl das Klinikum A* …, die Antragstellerin im Rahmen der Beschulung von bestimmten Anforderungen im Sportunterricht und von mündlichen Leistungsabnahmen zu befreien.
9
Im Arztbrief des Klinikums A* … vom 29. Januar 2024 wird eine Einschränkung der Antragstellerin in der sozialen Interaktion und Kommunikation benannt. Es wird eine Erweiterung der therapeutischen und psychosozialen Unterstützung empfohlen, dies aufgrund zunehmender Krisensituationen, in denen die Antragstellerin auch den Schulbesuch verweigere. Die Beantragung einer Schulbegleitung sei bislang nicht erfolgreich gewesen. Ändere sich dieser Zustand nicht, sei perspektivisch die Etablierung einer intensiveren Maßnahme im Sinn einer stationären Jugendhilfemaßnahme in Erwägung zu ziehen. Die Kriterien einer seelischen Behinderung gemäß § 35a SGB VIII seien gegeben, es werde zu einer zeitnahen Etablierung einer adäquaten Wiedereingliederungshilfe geraten.
10
Im Arztbrief des Klinikums A* … vom 21. Mai 2024 wird angemerkt, eine vor einigen Monaten empfohlene Schulbegleitung zur Verbesserung ihrer Teilnahme am Unterricht habe bislang nicht etabliert werden können.
11
2. Unter dem 28. Juli 2023 schilderte die Klassenlehrerin der …-Schule K* … die täglichen Schulabläufe in Bezug auf die Antragstellerin und insbesondere die Bedeutung ihrer Schulfreundin für den Schulalltag.
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3. Mit Schreiben vom 10. Oktober 2023, beim Antragsgegner eingegangen am 16. Oktober 2023, beantragte die Antragstellerin beim Antragsgegner Eingliederungshilfe gemäß § 35a SGB VIII in Form einer Schulbegleitung. Dies wurde damit begründet, die Antragstellerin sei nicht in der Lage, sich alleine außerhalb des eigenen Zuhauses im öffentlichen Raum zu bewegen oder sich dort aufzuhalten. Sie benötige dringend eine Schulbegleitung. Dies werde auch von fachärztlicher Seite angeraten.
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Am 16. November 2023 fand ein erstes Gespräch zwischen dem Vater der Antragstellerin und Vertretern des Antragsgegners zur Klärung des Eingliederungshilfebedarfes statt. Die schulische Zukunft der Antragstellerin für das Schuljahr 2024/2025 sei noch unklar, die Antragstellerin wäre hinsichtlich einer Schulbegleitung mitwirkungsbereit. Im Rahmen dieses Gesprächs wies der Antragsgegner auf praktische Probleme für die eventuelle Einsetzung einer Schulbegleitung hin, da sich die Antragstellerin in der Abschlussklasse befinde und das Schuljahr bereits vorangeschritten sei. Auch müsste eine Schulbegleitung gefunden werden, „was sich in Summe zeitlich als schwer sinnhaft umsetzbar abzeichne“. Aus dem entsprechenden Aktenvermerk ergibt sich, dem Kindsvater sei empfohlen worden, den Antrag auf Bewilligung einer Schulbegleitung zu überdenken, da die Antragstellerin in der Abschlussklasse sei. Der Kindsvater werde sich melden, wenn die schulische Zukunft abgeklärt sei; erfolge nach Abschluss der Mittelschule ein weiterer Schulbesuch, sei der Antrag auf Bewilligung eines Schulbegleiters weiterhin relevant. Sei dies der Fall, erfordere die weitere Verfolgung dieses Antrags eine Hospitation.
14
Im Rahmen eines Gesprächs am 17. Januar 2023 (gemeint wohl: 2024) stellte der Antragsgegner fest, es erscheine nun keine Hospitation in der Schule mehr als notwendig, weil der Plan entfallen sei, die Fachoberschule zu besuchen.
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Im Rahmen eines Hausbesuches einer Mitarbeiterin des Antragsgegners am 7. März 2024 erläuterte der Kindsvater, Ziel sei nunmehr der Besuch der Berufsschule im Bereich IT. Hierfür sei unbedingt eine Schulbegleitung erforderlich.
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Im Rahmen eines Gesprächs am 7. März 2024 äußerte die Antragstellerin gegenüber einer Mitarbeiterin des Antragsgegners, sei ihre Freundin nicht in der Schule, falle es ihr sehr schwer, allein im Unterricht zu sein.
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Am 14. März 2024 informierte der Kindsvater der Antragstellerin den Antragsgegner, die Antragstellerin habe von der Staatlichen Berufsfachschule, das Bestehen der Mittleren Reife vorausgesetzt, eine Zusage für die Aufnahme im kommenden Schuljahr erhalten.
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Unter dem 22. April 2024 teilte der Kindsvater dem Antragsgegner mit, am 19. April 2024 habe er die definitive Zusage der Staatlichen Berufsschule 2, IT Fachschule für das Schuljahr 2024/2025 erhalten.
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Mit Mail vom 5. Mai 2024 bat der Kindsvater um einen Bescheid.
20
Mit Mail vom 3. Juli 2024 bat der Kindsvater erneut um eine zeitnahe Entscheidung und wies auf die einschlägigen Arztbriefe hin, in welchen die zeitnahe Etablierung einer adäquaten Wiedereingliederungshilfe angeraten werde. Der Schwerbehindertenausweis der Antragstellerin enthalte die Merkzeichen G, B, H. Auch hieraus ergebe sich der Bedarf. Ohne Schulbegleitung werde die Antragstellerin die Fachschule nicht besuchen können. Vor Beginn des Unterrichtes am 9. September 2024 seien auch mit der Schule noch viele Details zu klären.
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Auf Anfrage des Antragsgegners bot der Mobile Sonderpädagogische Dienst Autismus-Spektrum-Störung, Studienrätin im Förderschuldienst W. (im Folgenden: MSD) am 8. Juli 2024 eine Aussage über den Unterstützungsbedarf der Antragstellerin an, dies auf der Grundlage einer am 2. Februar 2024 durchgeführten Hospitation in der Schule.
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Gemäß einem Aktenvermerk des Antragsgegners über ein Telefonat mit dem zukünftigen Klassenleiter der Antragstellerin am 24. Juli 2024 habe die Schule nach der fachlichen Eignung, dem Notenstand und dem Sozialverhalten der Antragstellerin geschaut und sie aufgrund dessen als geeignet für die Schule erachtet. Zwar wisse er, dass sie eine „Autismusstörung“ habe, er habe die Antragstellerin jedoch nicht gesehen, sondern nur kurz mit dem Vater gesprochen. Hinsichtlich einer Schulbegleitung sei ihm nichts bekannt. Allerdings habe er keine Erfahrungen mit Schulbegleitern, abgesehen von einer Schulbegleitung aufgrund einer Sehbeeinträchtigung. Er könne sich die vom Antragsgegner vorgeschlagene Vorgehensweise einer Hospitation nach Schulbeginn vorstellen.
23
In Reaktion auf ein Schreiben des Antragsteller-Bevollmächtigten vom 18. Juli 2024 teilte der Antragsgegner dem Bevollmächtigten der Antragstellerin mit, im Gespräch mit den Kindseltern habe die schulische Perspektive der Antragstellerin nicht klar benannt werden können; deshalb sei vereinbart worden, dass sich die Familie wieder melde, wenn es konkrete Pläne gebe. Hierüber habe der Kindsvater den Antragsgegner im April 2024 in Kenntnis gesetzt. Zu diesem Zeitpunkt sei eine Hospitation an der …-Schule nicht mehr sinnvoll gewesen, da aufgrund der Abschlussprüfungen kein Unterricht mehr nach Plan erfolgt sei und so eine realistische Feststellung des Bedarfes nicht mehr möglich erschienen sei. Aus dem Gespräch mit dem künftigen Klassenleiter der Antragstellerin hätten sich keine Hinweise darauf ergeben, dass ein Besuch der Berufsschule nur mit Schulbegleitung möglich sei. Eine Entscheidung über die Bewilligung einer Schulbegleitung für den Besuch der Berufsschule könnte zum jetzigen Zeitpunkt nicht getroffen werden. Vorrangig zuständig für die Teilhabe an Bildung und für einen inklusiven Unterricht seien die Schulen selbst. Ob darüber hinaus ein Bedarf bestehe, der von schulischer Seite nicht gedeckt werden könne und deshalb über die Jugendhilfe gedeckt werden müsse, könne erst nach Hospitation im Unterricht festgestellt werden.
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Mit Mail vom 29. Juli 2024 teilte der künftige Klassenleiter der Antragstellerin dem Antragsgegner mit, die Schulleitung habe nichts mit dem Kindsvater vereinbart oder für einen Schulbegleiter ab dem ersten Tag plädiert.
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4. Unter dem 2. August 2024 gab der MSD auf der Grundlage einer Hospitation am 2. Februar 2024 in der 10. Klasse der …-Schule eine Stellungnahme ab.
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5. Am 6. August 2024 ließ die Antragstellerin einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung an das Verwaltungsgericht Würzburg stellen und beantragen,
Der Antragsgegner wird verpflichtet, für die Antragstellerin vorläufig die Schulbegleitung ab dem 9. September 2024 für das Schuljahr 2024/2025 für die Zeit des Besuchs der Staatlichen Berufsfachschule für IT-Berufe A* … in A* … zu bewilligen.
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Zur Begründung wurde ausgeführt, die Antragstellerin leide an einer Autismus-Spektrum-Störung. Dies ergebe sich aus den entsprechenden Arztbriefen des Klinikums A* … Dessen Empfehlungen seien seitens der bisher besuchten …-Schule umgesetzt worden. Der Antrag auf Bewilligung eines Schulbegleiters sei bereits am 16. Oktober 2023 beim Antragsgegner eingegangen. Auch in der Folgezeit habe ein regelmäßiger Schulbesuch nicht gewährleistet werden können. Es sei im Schuljahr 2023/2024 zu insgesamt 60 Fehltagen (ganz oder teilweise) aufgrund von Krankheit gekommen. Mit Bescheid vom 22. Februar 2022 sei bei der Antragstellerin aufgrund deren seelischer Störung ein Grad der Behinderung von 70 sowie ein Anspruch auf die Merkzeichen G, B und H festgestellt worden. Am 2. Februar 2024 habe eine Hospitation durch den MSD stattgefunden. Über den Antrag vom 16. Oktober 2023 sei bis heute nicht entschieden worden. Eine nennenswerte Verfahrensförderung durch den Antragsgegner sei nicht erfolgt. Die Aufforderung vom 18. Juli 2024 zur Entscheidung über den Antrag sei vom Antragsgegner am 25. Juli 2024 abgelehnt worden.
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Die Antragstellerin habe einen Anspruch auf die begehrte Leistung. Sie gehöre zu dem von § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII erfassten Personenkreis, dies aufgrund ihrer Autismus-Spektrum-Störung mit starken Defiziten in der selbständigen Alltagsbewältigung. Dies ergebe sich aus dem Arztbrief des Klinikums A* … vom 21. Mai 2024. Habe die Antragstellerin damit einen Anspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe, erweise sich die begehrte Leistung der Schulbegleitung als gegenwärtig einzig denkbare Leistung. Dem stehe nicht entgegen, dass die Antragstellerin die …-Schule auch ohne Schulbegleitung habe abschließen können. Es sei dort zu ganz erheblichen Fehlzeiten gekommen. Zudem habe die Antragstellerin dort Kontakt zu einer als Vertrauten empfundenen jahrelang bekannten Mitschülerin gehabt und ganz erhebliche Sonderregelungen genossen. Dies falle bei einem Wechsel auf die Staatliche Berufsfachschule für IT-Berufe nun weg. Deshalb erweise sich die Schulbegleitung als einzige Maßnahme, die geeignet sei, der Antragstellerin das von ihr benötigte geschützte Umfeld und damit den Besuch der weiterführenden Schule zu gewährleisten.
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Die Eilbedürftigkeit ergebe sich daraus, dass das Schuljahr bereits am 9. September 2024 beginne und die Antragstellerin von Anfang an die Unterstützung durch eine Schulbegleitung benötige. Ein weiteres Zuwarten sei für die Antragstellerin nicht zumutbar. Der Antragsgegner habe bislang so gut wie nichts unternommen, um eine Feststellung des Hilfebedarfs herbeizuführen.
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Die Vorwegnahme der Hauptsache sei aus Gründen des effektiven Rechtsschutzes geboten. Der Antragstellerin drohten möglicherweise schwerwiegende Nachteile beim Besuch der Schule ohne Schulbegleitung. Eine rückwirkende Erbringung der Hilfemaßnahme komme zudem nicht in Betracht.
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Der Kindsvater habe seit März 2024 den Antragsgegner über den Stand der schulischen Planung informiert und auf eine Entscheidung über den Antrag gedrängt. Allerdings habe der Antragsgegner keine Bedarfsermittlungsmaßnahmen vorgenommen. Der Antragsgegner könne nicht mit seinem Verweis durchdringen, es sei zunächst zu klären, ob die Teilhabebeeinträchtigung durch schulische Maßnahmen gedeckt werden könne. Diesbezüglich habe der Antragsgegner bis zum heutigen Tag keine Ermittlungen eingeleitet. Er benenne auch keine anderweitigen gleichgeeigneten Maßnahmen. Dieses Versäumnis führe dazu, dass sich der Antragsgegner nicht mit Erfolg darauf berufen könne, es sei noch nicht geklärt, ob es nicht andere besser geeignete Maßnahmen gebe. Neben dem Einsatz einer Schulbegleitung seien zum aktuellen Zeitpunkt keine besser- oder auch nur gleichgeeigneten Hilfsmaßnahmen ersichtlich. Es sei der Antragstellerin nicht zuzumuten, den Schulbesuch zunächst ohne Schulbegleitung aufzunehmen.
32
Der Antragsgegner beantragte,
33
Zur Begründung wurde vorgetragen, der Antrag sei im Oktober 2023 eingegangen. Im Rahmen eines persönlichen Gespräches sei der Antragstellerseite erläutert worden, es bestünden praktische Probleme für die eventuelle Einsetzung einer Schulbegleitung, da sich die Antragstellerin bereits in der Abschlussklasse befinde. Das Schuljahr sei bereits vorangeschritten, die Abschlussprüfungen hätten kurz bevorgestanden. Damit sei die Umsetzung der beantragten Hilfe als unrealistisch erschienen. Eine Hospitation in der …-Schule sei seitens des Antragsgegners nicht mehr angestrebt worden, weil die Prüfungsphase angestanden habe und kein Unterricht nach Plan mehr erfolgt sei. Zudem sei der Antragsgegner zu der Einschätzung gekommen, dass der Unterricht in der …-Schule nicht mit dem Unterricht in der Berufsschule zu vergleichen sei. Eine realistische Feststellung des Bedarfs mittels Hospitation sei zu diesem Zeitpunkt nicht mehr möglich gewesen. Der künftige Klassenlehrer und die künftige Schulleitung hätten dem geplanten Vorgehen zugestimmt, direkt zu Beginn des neuen Schuljahres eine Hospitation zur Bedarfsfeststellung in der Berufsschule durchzuführen. Die Verantwortlichen auf schulischer Seite hätten nicht bestätigen können, dass eine Aufnahme in die Schule nur mit Schulbegleitung möglich sei.
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Das Vorliegen einer seelischen Beeinträchtigung der Antragstellerin sei aus Sicht des Antragsgegners nicht streitig. Ebenso sei unstreitig, dass ein Anspruch auf Eingliederungshilfeleistungen bestehe. Dies bedeute jedoch nicht, dass die Antragstellerin Anspruch auf die beantragte Leistung habe. Ob eine Beeinträchtigung der Teilhabe an Bildung bestehe, könne aufgrund der aktuellen Sachlage noch nicht abschließend beurteilt werden. Vorrangig zuständig für die Teilhabe an Bildung und für einen inklusiven Unterricht seien die Schulen selbst. Ein darüberhinausgehender Bedarf könne aus jetziger Sicht noch nicht festgestellt werden. Nach aktueller Einschätzung gebe es keine Anhaltspunkte für eine Teilhabebeeinträchtigung an Bildung, auch nicht für das Drohen einer schulischen Teilhabebeeinträchtigung, sollte nicht am ersten Schultag eine Schulbegleitung bewilligt sein. Immerhin habe die Antragstellerin auch ohne Unterstützung den mittleren Schulabschluss geschafft. Die Herbeiführung einer Eilentscheidung sei ohne den Versuch eines unbegleiteten Besuchs der Berufsschule nicht notwendig. Es sei nicht ersichtlich, dass die Antragstellerin ohne einstweilige Anordnung unzumutbaren Nachteilen ausgesetzt sei.
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Vom MSD sei lediglich eine Verschriftlichung der Hospitation im Sinne einer informatorischen Schilderung des konkreten Ablaufes erbeten worden. Eine Stellungnahme zum Bedarf einer Schulbegleitung sei im Auftrag nicht enthalten gewesen. Zudem trage die Darstellung des MSD zum aktuellen Verfahrensgegenstand nur wenig bei, dies deshalb, weil zwischen der Hospitation selbst und der Verschriftlichung ein Zeitraum von sechs Monaten liege. Zudem sei die Hospitation nicht in der künftig besuchten Schule erfolgt.
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Im Übrigen wird auf das weitere schriftsätzliche Vorbringen der Parteien sowie auf den Inhalt der einschlägigen Verwaltungsakten des Antragsgegners, welche Gegenstand des Verfahrens waren, Bezug genommen.
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Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist das Begehren der Antragstellerin, den Antragsgegner im Rahmen eines Verfahrens nach § 123 VwGO vorläufig ab dem 9. September 2024 bis zu einer Entscheidung des Antragsgegners über den diesbezüglichen Antrag der Antragstellerin vom 10. Oktober 2023, längstens jedoch bis zum Ende des Schuljahres 2024/2025, Eingliederungshilfe in Form der Bewilligung einer Schulbegleitung für den Besuch sämtlicher Unterrichtsstunden und Pausenzeiten der Staatlichen Berufsschule 2, A* …, Berufsfachschule IT, zu bewilligen. Dies ergibt sich aus der Auslegung des Antrags unter Berücksichtigung der wohlverstandenen Interessenlage (st. Rspr., z.B. BGH, U.v. 21.12.2023 – IV ZR 238/22 – juris Rn. 12) und unter entsprechender Heranziehung der für die Auslegung von empfangsbedürftigen Willenserklärungen des Bürgerlichen Rechts geltenden Rechtsgrundsätze (§ 133, § 157 BGB entsprechend § 88 VwGO). Denn die Antragstellerin hat deutlich machen lassen, dass sie die Bewilligung der Schulbegleitung „vorläufig“ begehrt. Im Zusammenhang mit dem Hinweis auf die noch immer fehlende Entscheidung über den am 16. Oktober 2023 beim Antragsgegner eingegangenen Antrag auf Bewilligung eines Schulbegleiters vom 10. Oktober 2023 wird deutlich, dass sich das Wort „vorläufig“ auf den Zeitraum bis zur Entscheidung über diesen Antrag bezieht. Auch wenn die Antragstellerin dies nicht explizit ausführen lässt, wird aus dem Antragsvorbringen im Zusammenhang mit den vorgelegten Unterlagen zudem deutlich, dass die Antragstellerin die Auffassung vertritt, sie benötige die Schulbegleitung nicht lediglich für einen zeitlich eingegrenzten Teil des jeweiligen Schultages, sondern vollumfänglich vom Beginn des Unterrichts bis zu dessen Ende einschließlich der dazwischengelegenen Pausen bzw. unterrichtsfreien Zeiten. Dies ergibt sich aus den Ausführungen in der Antragsschrift zum Bedarf für ein geschütztes Umfeld allgemein und auch bei Pausenaufenthalten. Demgegenüber ist dem Vorbringen der Antragstellerin nicht zu entnehmen, dass sie die Schulbegleitung auch für den Schulweg benötigt.
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Der so verstandene Antrag ist zulässig und begründet. Der Antragstellerin steht der geltend gemachte Anspruch zu.
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1. Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht auch schon vor Klageerhebung eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn die Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, nötig erscheint, um insbesondere wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs, d.h. des materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird, sowie das Vorliegen eines Anordnungsgrunds, also die Eilbedürftigkeit, d.h. die Unzumutbarkeit voraus, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten (Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 123 Rn. 45 ff.). Der Anordnungsgrund ist damit gleichzusetzen mit einem spezifischen Interesse gerade an der begehrten vorläufigen Regelung. Dieses Interesse ergibt sich regelmäßig aus einer besonderen Eilbedürftigkeit der Rechtsschutzgewährung (NdsOVG, B.v. 14.2.2024 – 14 ME 128/23 – juris Rn. 34). Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bzw. die besondere Eilbedürftigkeit sind glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO). Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun der überwiegenden Wahrscheinlichkeit des Bestehens von Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können. Es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist, weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht (Happ, a.a.O., § 123 Rn. 54, 51).
40
Maßgeblicher Zeitpunkt für die verwaltungsgerichtliche Beurteilung ist dabei die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (Happ, a.a.O., § 123 Rn. 54).
41
Es entspricht dem Wesen der einstweiligen Anordnung, dass es sich um eine vorläufige Regelung handelt und der Antragsteller nicht bereits im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes das erhalten soll, worauf sein Anspruch in einem Hauptsacheverfahren gerichtet ist; das Verfahren der einstweiligen Anordnung soll also nicht die Hauptsache vorwegnehmen. Das grundsätzliche Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache gilt im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG jedoch dann nicht, wenn eine bestimmte Regelung zur Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes schlechterdings notwendig ist, d.h. wenn die zu erwartenden Nachteile für den Antragsteller unzumutbar wären und ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg auch in der Hauptsache spricht (NdsOVG, B.v.14.2.2024 – 14 ME 128/23 – juris Rn. 34; BayVGH, B.v. 18.3.2016 – 12 CE 16.66, BeckRS 2016, 44855 Rn. 4; B.v. 18.2.2013 – 12 CE 12.2104 – juris Rn. 38; W.-R. Schenke in Kopp/Schenke, VwGO, 28. Aufl. 2022, § 123 Rn. 14; Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 123 Rn. 66a).
42
Mit der von der Antragstellerin begehrten Entscheidung wird die Hauptsache in zeitlicher Hinsicht vorweggenommen. Denn das Ziel der von ihr begehrten Regelungsanordnung ist mit dem Ziel des Antrags vom 10. Oktober 2023 identisch, auch wenn es zeitlich auf den Zeitraum bis zur Entscheidung über den Antrag vom 10. Oktober 2023 begrenzt ist. Demgegenüber kann das Gericht nicht der gegenteiligen Ansicht des 12. Senats des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs folgen, der in seinem Beschluss vom 7. September 2018 (12 CS 18.1899 – juris Rn. 4) in einem vergleichbaren Fall ausführt:
„Indes liegt im vorliegenden Fall entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts aufgrund der Beschränkung der beantragten Schulbegleitung auf einen Zeitraum von ca. 3 Wochen keine unzulässige Vorwegnahme der Hauptsache vor. Denn der Antragsteller erstrebt ersichtlich eine vorläufige Zwischenregelung für den Zeitraum bis zur Entscheidung des Antragsgegners in der Hauptsache.“
43
Diese Argumentation ist für das Gericht nicht nachvollziehbar, denn auch die bloße vorläufige Stattgabe des Hauptsachebegehrens im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes vermittelt dem jeweiligen Antragsteller die mit dem Antrag in der Hauptsache verfolgte Rechtsposition – zeitlich eingegrenzt – vollumfänglich und stellt ihn – ohne dass diese Rechtstellung rückwirkend wieder beseitigt werden könnte – vorweg so, als wenn seinem (Hauptsache-) Antrag in vollem Umfang stattgegeben worden wäre (NdsOVG, B.v. 14.2.2024 – 14 ME 128/23 – juris Rn. 35; BVerwG, B.v. 14.12.1989 – 2 ER 301/89 – juris Rn. 3; VG München, B.v. 27.8.2020 – M 18 E 20.3684 – juris Rn. 45; Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 123 Rn. 66a). Dies gilt unabhängig vom konkreten Zeitraum der vorläufigen Bewilligung. Wollte man demgegenüber wie der 12. Senat des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs argumentieren, eine „vorläufige Zwischenregelung für den Zeitraum bis zu einer Entscheidung des Antragsgegners in der Hauptsache“ führe prinzipiell nicht zur Vorwegnahme der Hauptsache, wäre die Vorwegnahme der Hauptsache in einem Verfahren nach § 123 VwGO denklogisch prinzipiell nicht möglich, weil in Verfahren nach § 123 VwGO ausschließlich vorläufige Zwischenregelungen getroffen werden können (Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 123 Rn. 1), nicht aber endgültige Entscheidungen.
44
Damit kommt der Erlass einer einstweiligen Anordnung nur in Betracht, wenn ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg in der Hauptsache jedenfalls dem Grunde nach spricht und die Antragstellerin ohne die einstweilige Anordnung unzumutbaren Nachteilen ausgesetzt wäre (BVerwG, B.v. 27.5.2004 – 1 WDS-VR 2/04 – juris Rn. 3; BVerfG, B.v. 30.4.2008 – 2 BvR 338/08 – juris Rn. 3).
45
2. Die Antragstellerin hat unter Berücksichtigung dieser rechtlichen Voraussetzungen einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.
46
Im Rahmen der Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruches beruft sich die Antragstellerin auf § 35a Achtes Buch Sozialgesetzbuch i.d.F. der Bekanntmachung vom 11. September 2012 (BGBl I S. 2022), zuletzt geändert durch Gesetz vom 8. Mai 2024 (BGBl I Nr. 152) – SGB VIII -. Aus dieser Vorschrift leitet sie ihren materiellen Anspruch auf Eingliederungshilfe in der Form der Bewilligung einer Schulbegleitung ab.
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a) Gemäß § 35a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII haben Kinder oder Jugendliche Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn (1.) ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht (seelische Behinderung) und (2.) daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist (Teilhabebeeinträchtigung). Von einer seelischen Behinderung bedroht im Sinne dieses Buches sind Kinder oder Jugendliche, bei denen eine Beeinträchtigung ihrer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (§ 35a Abs. 1 Satz 2 SGB VIII).
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Gemäß § 35a Abs. 1a Satz 1 SGB VIII hat der Träger der öffentlichen Jugendhilfe hinsichtlich der Abweichung der seelischen Gesundheit nach Abs. 1 eine fachärztliche oder jugendpsychotherapeutische Stellungnahme einzuholen, die die in § 35a Abs. 1a Satz 2 bis Satz 3 SGB VIII genannten Voraussetzungen zu erfüllen hat. Demgegenüber ist die Feststellung der Teilhabebeeinträchtigung nach § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII Aufgabe des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe, da hierbei sozialpädagogische Fachlichkeit erforderlich ist (von Boetticher in Münder/Meysen/Trenzcek, Frankfurter Kommentar, 9. Aufl. 2022, § 35a Rn. 35).
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Der Wortlaut der Vorschrift setzt voraus, dass die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft kausal („daher“) aufgrund der Abweichung von der seelischen Gesundheit beeinträchtigt ist (ThürOVG, U.v. 19.1.2017 – 3 KO 656/16 – juris Rn. 37).
50
Der Begriff der Teilhabeberechtigung rückt das Ziel der Teilhabe von Menschen mit Behinderung an den verschiedenen Lebensbereichen in den Vordergrund. Die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft im Sinne von Partizipation ist gekennzeichnet durch die aktive, selbstbestimmte und altersgemäße Ausübung sozialer Funktionen und Rollen in den das Kind oder den Jugendlichen betreffenden Lebensbereichen wie Familie, Verwandtschafts- und Freundeskreis, Schule und außerschulische Betätigungsfelder sowie Ausbildungsbereiche (Wiesner in Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Aufl. 2022, § 35a Rn. 19 m.w.N.). Eine Teilhabebeeinträchtigung ist dabei gegeben, wenn dem Kind oder Jugendlichen mit Behinderung die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft in sozialer, schulischer oder beruflicher Hinsicht erschwert ist, mithin die Integrationsfähigkeit des Kindes oder Jugendlichen beeinträchtigt ist. Hierbei genügt es, wenn sich die Störung in einem einzigen der relevanten Lebensbereiche auswirkt (VG München, B.v. 27.8.2020 – M 18 E 20.3684 – juris Rn. 53; Kepert/Dexheimer in Kunkel/Kepert/Pattar, LPK – SGB VIII, 8. Aufl. 2022, § 35 Rn. 19 m.w.N.). Allerdings ist die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft im Sinne des § 35a Abs. 1 SGB VIII erst dann beeinträchtigt oder eine solche Beeinträchtigung ist dann zu erwarten, wenn die seelische Störung nach Breite, Tiefe und Dauer so intensiv ist, dass sie die Fähigkeit des Betroffenen zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigt oder eine solche Beeinträchtigung erwarten lässt. Erforderlich ist daher, dass eine nachhaltige Einschränkung der sozialen Funktionstüchtigkeit vorliegt oder eine solche droht (OVG NRW, U.v. 26.6.2019 – 12 A 2468/16 – juris Rn. 58 ff.; B.v. 18.12.2023 – 12 B 1191/23 – juris Rn. 8; Wiesner in Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Aufl. 2022, § 35a Rn. 20).
51
Im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens ist dabei zu berücksichtigen, dass es sich bei der Teilhabebeeinträchtigung um einen unbestimmten Rechtsbegriff handelt, über dessen Vorliegen das Jugendamt selbst zu entscheiden hat. Sein Prüfergebnis unterliegt der vollen verwaltungsgerichtlichen Kontrolle. Dabei hat sich das Verwaltungsgericht ein eigenes Bild über das Vorliegen einer Beeinträchtigung der Teilhabe des Kindes oder des Jugendlichen am Leben in der Gesellschaft zu verschaffen (BayVGH, B.v. 18.2.2013 – 12 CE 12.2104 – juris Rn. 40; OVG NRW, B.v. 18.12.2023 – 12 B 1191/23 – juris Rn. 10; Wiesner in Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Aufl. 2022, § 35a Rn. 25a; Kepert Dexheimer in Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, 8. Aufl. 2022, § 35a Rn. 21).
52
Auf der Grundlage der oben dargestellten Voraussetzungen des § 35a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII richten sich Aufgabe und Ziel der Hilfe, die Bestimmung des Personenkreises sowie Art und Form der Leistungen gemäß § 35a Abs. 3 SGB VIII u.a. nach § 90 und nach den Kapiteln 3 bis 6 des Teils 2 des Neunten Buches, soweit diese Bestimmungen auch auf seelisch behinderte oder von einer solchen Behinderung bedrohte Personen Anwendung finden und sich aus diesem Buch nichts anderes ergibt.
53
Die Leistung soll den Leistungsberechtigten nach § 90 Abs. 1 Satz 1 des Neunten Buchs Sozialgesetzbuch vom 23. Dezember 2016 (BGBl I, S. 3234), zuletzt geändert durch Gesetz vom 22. Dezember 2023 (BGBl I, Nr. 412) – SGB IX – eine individuelle Lebensführung ermöglichen und die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft fördern; nach Satz 2 der Vorschrift soll die Leistung die Leistungsberechtigten befähigen, ihre Lebensplanung und -führung möglichst selbstbestimmt und eigenverantwortlich vornehmen zu können.
54
Daraus folgt jedoch nicht ohne weiteres ein Anspruch auf die begehrte Hilfemaßnahme, denn gemäß § 35a Abs. 2 SGB VIII wird die Hilfe nach dem Bedarf im Einzelfall geleistet. Das erfordert eine Entscheidung darüber, welche konkrete Hilfemaßnahme im Hinblick auf die festgestellte Teilhabebeeinträchtigung notwendig und geeignet ist. Diesbezüglich kommt dem Träger der Jugendhilfe ein verwaltungsgerichtlich nur eingeschränkt überprüfbarer Beurteilungsspielraum zu. Denn nach ständiger verwaltungsgerichtlicher Rechtsprechung unterliegt die Entscheidung über die Erforderlichkeit und Geeignetheit einer bestimmten Maßnahme einem kooperativen, sozialpädagogischen Entscheidungsprozess unter Mitwirkung der Fachkräfte des Jugendamts und des betroffenen Hilfeempfängers, der nicht den Anspruch objektiver Richtigkeit erhebt, sondern vielmehr eine angemessene Lösung zur Bewältigung der festgestellten Belastungssituation beinhaltet, die fachlich vertretbar und nachvollziehbar sein muss (sog. sozialpädagogische Fachlichkeit). Die verwaltungsgerichtliche Überprüfung beschränkt sich in diesem Fall darauf, dass allgemeingültige fachliche Maßstäbe beachtet worden, keine sachfremden Erwägungen in die Entscheidung eingeflossen und die Leistungsadressaten in umfassender Weise beteiligt worden sind. Denn sind mehrere rechtmäßige Entscheidungen denkbar, so verlangt Art. 19 Abs. 4 GG im Hinblick auf die Abwehr von Rechtsverletzungen durch gerichtlichen Rechtsschutz nicht, dass die Auswahl unter ihnen letztverbindlich vom Gericht getroffen wird (BVerwG, U.v. 25.6.1981 – 3 C 35.80 – juris Rn. 36). Vielmehr muss, wo das materielle Recht in verfassungsrechtlich zulässiger Weise der Verwaltung Spielräume belässt, das behördliche Letztentscheidungsrecht auch von den Gerichten respektiert werden (BVerwG, U.v. 2.3.2017 – 2 C 21.16 – juris Rn. 16). Die Entscheidung über die Geeignetheit und Notwendigkeit einer bestimmten Hilfemaßnahme ist daher nur auf ihre Vertretbarkeit hin überprüfbar (BVerwG, U.v. 24.6.1999 – 5 C 24.98 – BVerwGE 109, 155 ff.; BayVGH, B.v. 28.6.2016 – 12 ZB 15.1641 – juris Rn. 26; U.v. 24.6.2009 – 12 B 09.602 – juris Rn. 26).
55
Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe kommt eine Verpflichtung des Jugendhilfeträgers zur Gewährung einer bestimmten Hilfeleistung grundsätzlich nur dann in Betracht, wenn sich der Beurteilungsspielraum der Behörde dahingehend verdichtet, dass nur eine einzige Maßnahme, nämlich die von der Antragstellerseite begehrte, als notwendig und geeignet anzusehen ist (NdsOVG, B.v.4.3.2021 – 10 ME 26/21 – juris Rn. 10 m.w.N.).
56
Grundsätzlich zielt die Eingliederungshilfe darauf ab, den Hilfebedarf in seiner Gesamtheit zu decken und deshalb alle von einer Teilhabebeeinträchtigung betroffenen Lebensbereiche in den Blick zu nehmen. Hilfeleistungen sind demnach so auszuwählen und aufeinander abzustimmen, dass sie den gesamten Bedarf soweit wie möglich erfassen. Denn aus dem sozialhilferechtlichen Bedarfsdeckungsgrundsatz, der im Bereich der jugendhilferechtlichen Eingliederungshilfe in § 35a Abs. 2 SGB VIII verankert ist, folgt, dass grundsätzlich der gesamte im konkreten Einzelfall anzuerkennende Hilfebedarf seelisch behinderter Kinder oder Jugendlicher abzudecken ist (BVerwG, U.v. 19.10.2011 – BVerwG 5 C 6.11 – juris Rn. 12; U.v. 18.10.2012 – 5 C 21/11 – juris Rn. 25). Allerdings kann der Regelung des § 35a SGB VIII nicht entnommen werden, dass dies zwingend der Fall sein muss. Denn der Systematik und dem Sinn und Zweck der Vorschrift ist zu entnehmen, dass Eingliederungshilfen auch darauf ausgerichtet sein dürfen, einen Teilbedarf zu decken. Denn wenn Teilhabebeeinträchtigungen in verschiedenen Lebensbereichen einen Hilfebedarf erzeugen, der nur durch verschiedene, auf den jeweiligen Bereich zugeschnittene Leistungen abgedeckt werden kann und muss, kann es geboten sein, verschiedene Hilfeleistungen zu kombinieren oder durch mehrere Einzelleistungen den Gesamtbedarf des Hilfebedürftigen abzudecken. In diesem Fall kann es, wenn nicht sogleich der Gesamtbedarf gedeckt werden kann, erforderlich sein, Hilfeleistungen zumindest und zunächst für diejenigen Teilbereiche zu erbringen, in denen dies möglich ist. Steht etwa eine bestimmte Hilfeleistung tatsächlich zeitweilig nicht zur Verfügung oder wird eine bestimmte Hilfe vom Hilfeempfänger oder dessen Erziehungsberechtigten (zeitweise) nicht angenommen, kann es gleichwohl geboten sein, die Hilfen zu gewähren, die den in anderen Teilbereichen bestehenden Bedarf abdecken (BVerwG, U.v. 18.10.2012 – 5 C 21/11 – juris Rn. 23 bis 24 und 26).
57
Etwas anderes kann – mit Blick auf Sinn und Zweck der Eingliederungshilfe – nur dann anzunehmen sein, wenn die Gewährung der Hilfe für einen Teilbereich die Erreichung des Eingliederungsziels in anderen von der Teilhabebeeinträchtigung betroffenen Lebensbereichen erschweren oder vereiteln würde, es also zu Friktionen zwischen Hilfemaßnahmen käme (BVerwG, a.a.O., Rn. 27; vgl. zur gesamten Problematik auch BayVGH, B.v. 5.2.2018 – 12 C 17.2563 – juris Rn. 20 bis 25 m.w.N.).
58
b) Die Antragstellerin hat glaubhaft gemacht, dass die oben dargestellten Voraussetzungen des § 35a SGB VIII gegeben sind und sie damit einen Anspruch auf Bewilligung einer Schulbegleitung im begehrten Umfang hat.
59
aa) In diesem Zusammenhang besteht im vorliegenden Fall kein Streit um die Frage, ob die seelische Gesundheit der Antragstellerin mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht. Dies ist seitens des Klinikums A* … mit Arztbriefen vom 6. Juni 2023, vom 29. Januar 2024 und vom 21. Mai 2024 bescheinigt worden. Diese Frage ist zwischen den Parteien auch nicht streitig.
60
bb) Streitig ist zwischen den Parteien die Frage, ob aufgrund der Abweichung der seelischen Gesundheit der Antragstellerin von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand für länger als sechs Monate ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft im Bereich Schule beeinträchtigt ist. Der Antragsgegner ist der Auffassung, dies könne erst nach Beginn des Schuljahres 2024/2025 und Durchführung einer Hospitation in der neuen Klasse der Antragstellerin beurteilt werden. Er begründet dies mit dem Argument, der Unterricht in der …-Schule sei nicht mit dem Unterricht in der Berufsschule vergleichbar. Zudem beruft er sich darauf, der künftige Klassenlehrer und die künftige Schulleitung hätten dem geplanten Vorgehen zugestimmt. Dem hält die Antragstellerin entgegen, sie habe die …-Schule nur aufgrund der Hilfe der als Vertrauten empfundenen jahrelang bekannten Mitschülerin und aufgrund der ganz erheblichen Sonderregelungen bewältigen können, dies allerdings nur unter Inkaufnahme vieler behinderungsbedingter Fehltage. Diese Unterstützung falle bei einem Wechsel auf die Berufsschule nun weg.
61
Im Rahmen der vollumfänglichen verwaltungsgerichtlichen Kontrolle gelangt das Gericht zu dem Ergebnis, dass mit dem für die Vorwegnahme der Hauptsache erforderlichen hohen Grad an Wahrscheinlichkeit die Teilhabe der Antragstellerin am Leben in der Gesellschaft, bezogen auf schulische Belange, aufgrund der Abweichung ihrer seelischen Gesundheit vom für ihr Lebensalter typischen Zustand beeinträchtigt ist.
62
Dies ergibt sich aus Folgendem:
63
Die Antragstellerin und ihr Vater als gesetzlicher Vertreter haben in den Gesprächen mit dem Antragsgegner – vom Antragsgegner unwidersprochen – vorgetragen, die Antragstellerin entziehe sich jeglicher Konversation mit außenstehenden Personen. Arztbesuche seien nur in Begleitung des Kindsvaters möglich. Die Antragstellerin fahre gern mit dem Kindsvater spazieren, da das Kraftfahrzeug für sie einen gesicherten Raum darstelle. Schon Tage vor anstehenden Terminen bekomme die Antragstellerin Panik. Sie versuche dann, den Termin zu vermeiden. Sie entziehe sich jeglicher Konversation mit ausstehenden Personen. Für den Urlaub sei ein Wohnmobil angeschafft worden, um der Antragstellerin eine Rückzugsmöglichkeit zu bieten. Seit kurzem gelinge es ihr, den Schulranzen selbst zu packen. Ein Firmenbesichtigungsabend habe trotz Begleitung nicht umgesetzt werden können, dies aufgrund zu vieler Leute vor der Firma. Sie verlasse nicht mehr das Haus und gehe auch nicht in den Garten. Außer mit den Kindseltern finde keine Interaktion statt. Außer zu ihrer Freundin habe sie keine Kontakte zu Gleichaltrigen. Die Antragstellerin besuche die …-Schule K* … seit der 7. Klasse und sitze dort neben ihrer Freundin. Die Antragstellerin nehme nicht an sozialen und gesellschaftlichen Aktivitäten im Sozialraum teil. Der Schulweg könne nicht mit dem Bus bewältigt werden, sondern lediglich mit dem Privat-Pkw. Der Antragstellerin falle es schwer, einen ganzen Schulalltag zu bewältigen. Meist müsse der Vater sie vorzeitig abholen. Die Freundin der Antragstellerin sei deren Sprachrohr zur Klasse und zur Lehrerin. Die Antragstellerin benötige eine solche Vertrauensperson. Der Schulbesuch gelinge nur mit deren Unterstützung und in Abhängigkeit von der Lehrkraft. Im Schuljahr 2023/2024 sei sie an 60 Unterrichtstagen ganz oder teilweise krank gewesen. In der neuen Schule habe die Antragstellerin keine derartige Freundin. Voraussichtlich sei sie in der neuen Schule die einzige weibliche Schülerin in dieser Klasse. Dies erschwere den Aufenthalt erheblich. Die neue Umgebung und ein komplett neues Personenumfeld seien für die Antragstellerin eine erhebliche Herausforderung. Deshalb sei eine Schulbegleitung sehr wichtig.
64
Das Klinikum A* … hält in seinen Arztbriefen vom 6. Juni 2023, vom 29. Januar 2024 und vom 21. Mai 2024 fest, störungsübergreifend ergäben sich Hinweise auf auffällige internalisierende Verhaltensweisen. Es bestätigten sich Hinweise auf Schul- und Leistungsängste, Agoraphobie und soziale Phobie. Soziale Ängste und Kompetenzdefizite seien überdurchschnittlich auffällig. Es zeigten sich eine Sprech- und Mittelpunktangst sowie eine Angst vor Ablehnung und Interaktions- und Informationsverarbeitungsdefizite. Trotz intensiver Bemühungen sowohl der Eltern als auch des professionellen Umfeldes gelinge es nicht, die Antragstellerin zu einem regelmäßigen Schulbesuch zu bewegen. Die Antragstellerin benötige Unterstützung in basalen Tagesabläufen. Sie zeige einen persistierenden, stark geminderten Antrieb, welcher in Kombination mit ihren ausgeprägten sozialen Ängsten weiterhin in übermäßig vielen Schulfehltagen resultiere. Es werde empfohlen, die Antragstellerin zur psychosozialen Entlastung von mündlichen Leistungsnachweisen und von bestimmten Anforderungen im Sportunterricht zu befreien.
65
Die ehemalige Klassenlehrerin der Antragstellerin an der …-Schule hat unter dem 28. Juli 2023 festgehalten, die Antragstellerin habe eine Freundin in der Klasse, mit der sie den gesamten Vormittag verbringe. Im Rahmen einer Sonderregel dürften sich beide Mädchen in den Pausen im Schulgebäude aufhalten. Besuche bei der Schulsozialarbeiterin und deren Schulhund seien förderlich. Im Rahmen einer weiteren Sonderregelung müsse die Antragstellerin nichts vor der Klasse präsentieren. Sie verstecke sich gerne und wolle von anderen nicht wahrgenommen werden, dies beispielsweise auch im Sportunterricht. Allen Fachlehrern sei die Krankheit der Antragstellerin bekannt und es werde darauf geachtet, sie so weit wie möglich zu schützen.
66
Der MSD hat in seiner auf einer Hospitation in der Klasse beruhenden Stellungnahme vom 2. August 2024 festgehalten, die Antragstellerin habe eine enge Freundin in der Klasse, die mit ihr ein festes Duo bilde. Die Freundin unterstütze die Antragstellerin im schulischen Alltag in unzähligen Situationen, sei deren Sprachrohr und organisiere den Unterrichtsalltag für sie. Zudem begleite die Freundin die Antragstellerin in den Pausen und in offenen Unterrichtssituationen und nehme eine Sicherheit gebende Funktion ein. An Tagen, an denen sich der Stundenplan der Mädchen unterscheide oder die Freundin nicht da sei, lasse sich die Antragstellerin abholen und gehe nach Hause. Die Freundin sei für die Antragstellerin ein erheblicher Stabilisierungsfaktor, der den Schulbesuch offenbar erst möglich mache. Die Antragstellerin benötige eine vertraute Ansprechpartnerin, die ihre Situation auch im Kontext ihrer Bedürfnisse und Probleme verstehe und ihr Raum, Sicherheit und Unterstützung biete, diese zu formulieren. Alle offenen, ungeordneten und lauten Situationen seien für die Antragstellerin äußerst schwierig. Die Antragstellerin habe mit Unterstützung eines Netzwerks aus den sie umgebenden Personen im schulischen Kontext den Schulalltag in den vergangenen Schuljahren bestehen können. Dabei habe die Schulfreundin für sie eine erheblich unterstützende und stabilisierende Rolle eingenommen, die ihr in weiten Teilen die Teilhabe am schulischen Alltag erst ermöglicht habe. Die Antragstellerin sei auf die Freundin zur sozialen und schulischen Teilhabe angewiesen gewesen. Sie benötige ein hohes Maß an individueller Zuwendung und emotionaler Begleitung, Unterstützung und Stabilisierung zur Kontaktaufnahme, zur Orientierung und Bewegung in lauten und vollen Räumen und zum Äußern von Bedürfnissen und Benennen von problematischen Situationen. Gerade vor dem Hintergrund des anstehenden Schulwechsels sei es wesentlich, zu berücksichtigen, dass die bisherige Unterstützung wegfallen werde. Um der Antragstellerin den Start in der neuen Lernsituation und dem neuen Lernort ohne erneute psychische Belastungen zu ermöglichen, erscheine die personelle Unterstützung durch eine Maßnahme der Eingliederungshilfe, die der Antragstellerin in den beschriebenen Bereichen Unterstützung biete und die Teilhabe ermögliche, wesentlich. Das Fehlen einer Vertrauensperson erschwere den Schulbesuch erheblich oder mache ihn sogar unmöglich, während sie mit Anwesenheit einer solchen Person zu guten schulischen Leistungen fähig sei.
67
Zu berücksichtigen ist auch die Schwerbehinderteneigenschaft der Antragstellerin, die sie mit der Vorlage einer Kopie ihres Schwerbehindertenausweises, gültig ab 31. Juli 2023 bis Dezember 2026, vorgelegt hat. Dieser weist einen Grad der Behinderung von 70 auf und enthält die Merkzeichen B, G und H. Dies bedeutet das Erfordernis der Hilfe einer Begleitperson bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln, die erhebliche Beeinträchtigung in der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr und Hilflosigkeit im Sinne des § 33b EStG (vgl. § 3 Abs. 1 und Abs. 2 SchwbAwV).
68
Der Antragsgegner vertritt die Einschätzung, es gebe keine Anhaltspunkte für das Drohen einer schulischen Teilhabebeeinträchtigung, sollte nicht am ersten Schultag eine Schulbegleitung bewilligt sein.
69
Auf der Grundlage dieser Unterlagen gelangt das Gericht im Rahmen der Entscheidung über das Vorliegen der Voraussetzungen des unbestimmten Rechtsbegriffs der Teilhabebeeinträchtigung zu dem Ergebnis, dass der Antragstellerin beim Besuch der Staatlichen Berufsschule 2 A* …, Berufsfachschule IT, eine Teilhabebeeinträchtigung nicht nur droht, sondern dass eine solche mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gegeben sein wird. Der Antragstellerin wird eine aktive, selbstbestimmte und altersgemäße Ausübung sozialer Funktionen im Bereich schulische Bildung nicht möglich sein.
70
Dies ergibt sich aus der Erkenntnis, dass die Antragstellerin – vom Antragsgegner unwidersprochen hingenommen – das Schuljahr 2023/24 in der …-Mittelschule K* … lediglich deshalb, wenn auch mit 60 Krankheitstagen, bewältigen konnte, weil ihre Schulfreundin der Sache nach die Rolle einer Schulbegleitung übernommen hat. Sie hat die Antragstellerin in allen wesentlichen Belangen unterstützt, war ihr Sprachrohr und hat den Schulalltag für sie organisiert. Sie war die Mittlerin für soziale Kontakte sowie die Begleitung in den unterrichtsfreien Phasen und hat der Antragstellerin damit den Schulbesuch ermöglicht. Dies ergibt sich aus den nachvollziehbaren und glaubhaften Darstellungen der Eltern der Antragstellerin gegenüber dem Antragsgegner, der Klassenlehrerin in der …-Schule und des MSD, deren inhaltliche Feststellungen der Antragsgegner nicht in Zweifel zieht. Das Gericht kann der Einschätzung des Antragsgegners nicht folgen, aus diesen Tatsachen könnten keine Rückschlüsse für den Besuch der neuen Schule gezogen werden. Im Gegenteil ist festzuhalten, dass die Struktur des Schulalltages in einer Berufsfachschule nicht grundlegend vom Schulalltag in einer Mittelschule abweicht. In beiden Fällen ist die Antragstellerin in eine Klassengemeinschaft eingebunden (im Fall der Berufsfachschule IT mit insgesamt etwa 24 Schülern), in der sie sich zurechtfinden muss und der sie sich nicht entziehen kann. In beiden Fällen muss der Unterrichtsalltag organisiert werden und in beiden Fällen trifft die Antragstellerin auf wechselnde Lehrerinnen und Lehrer. Auch unterrichtsfreie Zeiten zwischen den Unterrichtseinheiten eines einzelnen Schultages sind in beiden Fällen vorhanden. Hierbei handelt es sich um die wesentlichen Faktoren, die der Antragstellerin den Besuch einer Schule ohne Schulbegleitung unmöglich machen. Auch die Einschätzung des Antragsgegners, es bestünden keine Anhaltspunkte für das Drohen einer schulischen Teilhabebeeinträchtigung, sollte nicht am ersten Schultag eine Schulbegleitung bewilligt sein, ist nicht mit Argumenten unterlegt und damit für das Gericht nicht nachvollziehbar. Vielmehr ist es für die Antragstellerin gerade besonders schwierig, im Rahmen ihrer Agoraphobie und der Phobie vor jeglichen sozialen Kontakten in eine für sie gänzlich neue räumliche Umgebung mit ihr völlig unbekannten Mitschülern und unbekannten Lehrern zu kommen. Angesichts der Blockaden im vergangenen Schuljahr in einer ihr vertrauten Schule mit ihr bekannten Mitschülern und Lehrern bei Abwesenheit ihrer die Funktion der Schulbegleitung faktisch übernehmenden Freundin wird deutlich, dass dies mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch am ersten Tag des Besuches in der neuen Schule der Fall sein wird. Dies verhindert nicht nur den Schulbesuch an sich, sondern lässt auch konkret befürchten, dass ein derartiger Beginn des Schuljahres ohne Schulbegleitung, der mit dem Erleben des Scheiterns verbunden ist, ihr den weiteren Besuch der Schule möglicherweise mit Schulbegleitung zu einem späteren Zeitpunkt aufgrund der zu Beginn gemachten negativen Erfahrungen erheblich erschweren, wenn nicht unmöglich machen wird.
71
Demgegenüber hätte der Antragsgegner seit dem 16. Oktober 2023 die Möglichkeit gehabt, über den Antrag auf Bewilligung einer Schulbegleitung auch für das Schuljahr 2023/2024 zu entscheiden und in diesem Zusammenhang das Vorliegen einer Teilhabebeeinträchtigung eigenständig und tiefgreifend zu überprüfen. Dies hat er mit für das Gericht nicht nachvollziehbaren Argumenten unterlassen und der Antragstellerin bereits im vergangenen Schuljahr rein faktisch die Bewilligung einer Schulbegleitung verweigert. Deshalb kann er sich nunmehr nicht auf Nichtwissen über das Vorliegen einer Teilhabebeeinträchtigung bei der Antragstellerin berufen. Der pauschale Verweis des Antragsgegners auf das übliche, standardisierte Vorgehen wird dem naturgemäß notwendigen Einzelfallbezug der Einschätzung nicht gerecht, wenn angesichts der fachärztlich geschilderten seelischen Behinderung zu Beginn einer neuen Lebenssituation gewichtige Argumente für eine vor Schulbeginn liegende Beurteilung sprechen.
72
Auch die Zustimmung des Klassenlehrers und der Leitung der Berufsfachschule 2, Aschaffenburg, zum Plan des Antragsgegners, zunächst eine Hospitation vorzunehmen, bevor er über den Antrag auf Bewilligung einer Schulbegleitung entscheidet, kann die Annahme einer Teilhabebeeinträchtigung nicht in Frage stellen. Dies ergibt sich schon daraus, dass sowohl der Klassenlehrer als auch die Schulleitung die Antragstellerin nicht persönlich kennen und ihnen auch keine Einzelheiten zu ihrer seelischen Behinderung vorgelegt worden sind. Zudem hat der Klassenlehrer klargestellt, dass er keinerlei Erfahrungen mit Menschen mit Asperger-Autismus hat und – abgesehen von einer Schulbegleitung für einen sehbehinderten Schüler – auch noch keinerlei Erfahrungen hinsichtlich des Einsatzes einer Schulbegleitung vorhanden sind. Für die Feststellung einer Teilhabebeeinträchtigung der Antragstellerin sind die Haltung des Klassenlehrers und der Leitung der Berufsfachschule 2, A* …, daher bedeutungslos.
73
Damit gelangt das Gericht zum Ergebnis, dass bei der Antragstellerin aufgrund der Abweichung ihrer seelischen Gesundheit von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft im Bereich schulische Bildung beeinträchtigt ist, dies insbesondere auch ab dem Beginn des Schuljahres 2024/2025. Festzuhalten ist hierbei, dass es sich bei der Teilhabebeeinträchtigung der Antragstellerin nicht um bloße Schulprobleme und Schulängste wie bei anderen Kindern auch handelt, sondern um eine Schul-Phobie, die zu einer totalen Schul- und Lernverweigerung und zu einem Rückzug aus jeglichem sozialen Kontakt in der Schule führt (vgl. hierzu auch OVG NRW, B.v. 18.12.2023 – 12 B 1191/23 – juris Rn. 8).
74
cc) Um dieser Teilhabebeeinträchtigung zu begegnen, hat die Antragstellerin im Rahmen der Verdichtung des Beurteilungsspielraums des Antragsgegners einen Anspruch auf Bewilligung einer Schulbegleitung mit dem für die Vorwegnahme der Hauptsache erforderlichen hohen Maß an Sicherheit glaubhaft gemacht.
75
Auf der Grundlage von § 35a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII, § 90 Abs. 1, Abs. 4 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch vom 23. Dezember 2016 (BGBl I, S. 3234), zuletzt geändert durch Gesetz vom 22. Dezember 2023 (BGBl I, Nr. 412) – SGB IX – benennt § 112 SGB IX Leistungen zur Teilhabe an Bildung. Diese umfassen nach Abs. 1 Nr. 1 der Vorschrift Hilfen zu einer Schulbildung, insbesondere im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht, und zum Besuch weiterführender Schulen einschließlich der Vorbereitungen hierzu. Weiterhin benennt § 112 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB IX Hilfen zur schulischen oder hochschulischen Ausbildung oder Weiterbildung für einen Beruf.
76
Um eine solche schulische Ausbildung für einen Beruf handelt es sich bei der Berufsfachschule IT, die ausweislich der Homepage der Berufsschule 2 A* … (bs2ab.de/index.php/angebote/berufsbezogene-angebote/bfs/it, eingesehen am 26.8.2024) gemäß Art. 13 BayEUG eine Schule ist, die auf dem mittleren Schulabschluss aufbaut, auf eine Berufsausbildung bzw. Berufstätigkeit vorbereitet sowie die Allgemeinbildung fördert. Sie ist damit eine berufliche Schule im Sinne des Art. 11 Abs. 1 BayEUG. Eine Zuständigkeit der Agentur für Arbeit für die Unterstützung einer derartigen Ausbildung (Wiesner in Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Aufl. 2022, § 35a Rn. 130) kommt nach der Mitteilung der Antragstellerseite nicht in Betracht, da „die Agenturseitigen Untersuchungsresultate eine Arbeitsfähigkeit von weniger als drei Stunden täglich erbracht hätten“ (Bl. 117 Behördenakte).
77
Als Leistung zur Teilhabe an Bildung kommen alle Maßnahmen in Betracht, die erforderlich und geeignet sind, dem Kind oder dem Jugendlichen den Schulbesuch zu ermöglichen oder zu erleichtern. Zu den geeigneten Maßnahmen in diesem Sinne gehört auch der Einsatz einer Schulbegleitung bzw. einer Integrationshilfe. Die Schulbegleitung dient dazu, die eigentliche pädagogische Arbeit der Lehrkraft abzusichern und zu flankieren. Sie umfasst alle Dienste, die erforderlich sind, damit der behinderte Mensch das pädagogische Angebot der Schule überhaupt wahrnehmen kann. Dabei handelt es sich um unterrichtsbegleitende und sonstige pädagogische Maßnahmen, die nur unterstützenden Charakter haben, sowie um nichtpädagogische Maßnahmen. Der Kernbereich pädagogischer Tätigkeit ist von der Tätigkeit einer Schulbegleitung nicht betroffen, da die Schulbegleitung die eigentliche pädagogische Arbeit der Lehrkraft nur absichert (OVG Lüneburg, B.v. 14.2.2024 – 14 ME 128/23 – juris Rn. 43 m.w.N.).
78
Gemäß § 112 Abs. 1 Satz 3 SGB IX ist es ausreichend, dass die Maßnahme erforderlich und geeignet ist, um den Schulbesuch zu erleichtern. Sie muss also nicht zwingend erforderlich sein, um den Schulbesuch überhaupt erst zu ermöglichen (von Boetticher in Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar, 9. Aufl. 2022, § 35a Rn. 73).
79
Im vorliegenden Fall hat der Antragsgegner die Bewilligung einer Schulbegleitung für die Antragstellerin bereits mit dem Argument abgelehnt, es sei derzeit keine Teilhabebeeinträchtigung im Sinne des § 35a Abs. 1 Nr. 2 SGB IX zu erkennen. Eine Entscheidung über eine im Rahmen der Eingliederungshilfe geeignete und erforderliche Hilfe nach § 35a Abs. 2 und Abs. 3 SGB VIII hat der Antragsgegner daher folglich nicht getroffen und das Gericht kann eine solche Entscheidung damit nicht überprüfen. Allerdings hat das Gericht zu überprüfen, ob sich der Beurteilungsspielraum des Antragsgegners, hätte er eine entsprechende Entscheidung getroffen, auf die Bewilligung einer Schulbegleitung als allein denkbare Hilfemöglichkeit verengt hätte.
80
Das Gericht gelangt zu dem Ergebnis, dass neben dem Einsatz einer Schulbegleitung zumindest zum aktuellen Zeitpunkt keine besseren oder auch nur gleich geeigneten Hilfemaßnahmen ersichtlich sind.
81
Die Antragstellerin hat allein eine Schulbegleitung als für sie hilfreiche Maßnahme benannt.
82
Der Antragsgegner selbst hat keinerlei anderweitige Hilfe zur Bewältigung des Schulalltages im Sinne der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft geprüft oder auch nur angedacht. Vielmehr hat er unter der Voraussetzung, auf der Grundlage einer Hospitation werde sich eine Beeinträchtigung am Leben in der Gesellschaft in Bezug auf den schulischen Bereich herausstellen, die Schulbegleitung als geeignete Hilfemaßnahme in Erwägung gezogen, ohne eine andere Hilfemaßnahme in Betracht zu ziehen.
83
Auch das Klinikum A* … hat in seinen verschiedenen Stellungnahmen bedauert, dass noch keine Schulbegleitung installiert ist, dies insbesondere angesichts der hohen Fehltage der Antragstellerin. Eine alternative Möglichkeit, um der Teilhabebeeinträchtigung der Antragstellerin zu begegnen, wird auch hier nicht benannt.
84
Gleiches gilt auch für die Stellungnahme des MSD vom 2. August 2024. Hier wird ausgeführt, dass die Antragstellerin das Schuljahr 2023/2024 nur deshalb bewältigen konnte, weil ihre Freundin eine erheblich unterstützende und stabilisierende Rolle eingenommen hat, die der Sache nach der Tätigkeit einer Schulbegleitung gleichgekommen ist. Weiterhin führt der MSD aus, wesentlich erscheine die personelle Unterstützung der Antragstellerin durch eine Maßnahme der Eingliederungshilfe, denn die gemachten Erfahrungen zeigten, dass das Fehlen einer Vertrauensperson der Antragstellerin den Schulbesuch erheblich erschwere, wenn nicht unmöglich mache, während sie mit Anwesenheit dieser zu guten schulischen Leistungen fähig sei. Auch hiermit wird der Sache nach allein die Installation einer Schulbegleitung als zielführend dargestellt, da es nach Ansicht des MSD auf das Vorhandensein einer Vertrauensperson ankommt, die bestimmte den Schulalltag unterstützende Aufgaben übernimmt.
85
Auch dem Gericht drängen sich keine anderweitigen Maßnahmen der Eingliederungshilfe auf, die die Teilhabebeeinträchtigung der Antragstellerin kompensieren könnten.
86
Zwar wird die Antragstellerin durch den Einsatz einer Schulbegleitung eine gewisse Sonderstellung einnehmen. Allerdings kommt der Antragstellerin aufgrund ihrer seelischen Behinderung und der damit verbundenen sozialen Auffälligkeiten ohnehin eine Sonderstellung zu, der gerade im Wege des Einsatzes einer Schulbegleitung begegnet werden soll. Anders als die Schulfreundin im Schuljahr 2023/2024 wird die Schulbegleitung auch die Aufgabe haben, die Antragstellerin im sozialen Bereich in das schulische Geschehen einzugliedern und es der Antragstellerin, soweit sie dazu fähig ist, zu ermöglichen, Stück für Stück soziale Kontakte aufzubauen. Damit ist festzuhalten, dass die Antragstellerin sowohl im sozialen Bereich als auch bei der Bewältigung des Unterrichts vom ersten Tag des Schuljahres 2024/2025 an von einer Schulbegleitung profitieren würde. Demgegenüber wird – wie oben ausgeführt – deutlich, dass die Antragstellerin ohne eine Schulbegleitung aller Wahrscheinlichkeit nach bereits am ersten Tag des Schulbesuchs in der neuen Schule scheitern wird, so dass der Sache nach eine Hospitation durch den Antragsgegner schon unmöglich sein würde und die Antragstellerin in der Folge noch erheblich größere Probleme haben würde, sich in die neue Schule zu integrieren.
87
Aus alledem ergibt sich, dass die Bewilligung einer Schulbegleitung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die einzige denkbare Möglichkeit ist, der Antragstellerin die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft im Bereich schulische Bildung zu ermöglichen.
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dd) Damit spricht ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg in der Hauptsache. Zudem wäre die Antragstellerin ohne die einstweilige Anordnung unzumutbaren Nachteilen ausgesetzt. Denn nach dem erfolgreichen Abschluss der Mittelschule mit dem Erreichen des Mittleren Schulabschlusses hat es sich für die Antragstellerin als äußerst schwierig herausgestellt, unter Berücksichtigung ihrer seelischen Behinderung eine Berufsausbildung zu beginnen. Sowohl der Weg über die Fachoberschule als auch über eine Lehrstelle hat sich für sie als nicht gangbar herausgestellt. Aus derzeitiger Sicht erscheint auch unter Berücksichtigung ihrer persönlichen Fähigkeiten und Interessen der Besuch der Berufsfachschule IT für sie der einzig gangbare Weg, um eine Berufsausbildung zu beginnen. Dies ist ihr allerdings nur mit Hilfe einer Schulbegleitung möglich. Die Verweigerung einer Schulbegleitung vom ersten Schultag an käme der Sache nach einer Verweigerung der Aufnahme einer Berufsausbildung gleich. Dies wäre für die Antragstellerin ein unzumutbarer Nachteil, denn sie würde möglicherweise ein Jahr verlieren, um erneut eine Berufsausbildung beginnen zu können; schlimmstenfalls aber würde die Verweigerung einer Schulbegleitung ihr den Einstieg in eine Berufsausbildung dauerhaft erschweren oder gar unmöglich machen. Demgegenüber wiegen die Nachteile der vorläufigen Bewilligung einer Schulbegleitung, die sich hernach als nicht zielführend herausstellt, erheblich geringer. Es handelt sich lediglich um eine finanzielle Ausgabe des Antragsgegners, die dieser zudem gegebenenfalls dadurch minimieren kann, dass er nunmehr über den Antrag vom 10. Oktober 2023 alsbald entscheidet. Dass eine – sich im Nachhinein als fehlerhaft erweisende – vorläufige Bewilligung einer Schulbegleitung die Berufsausbildung der Antragstellerin beeinträchtigen könnte, ist nicht einmal ansatzweise ersichtlich.
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Angesichts der Tatsache, dass gerade der Start auf einer neuen Schule enorme wichtige Weichen für das spätere Gelingen stellt, erscheint vorliegend das Risiko zu hoch, ohne die Unterstützung durch eine Schulbegleitung möglicherweise eine starke Überforderung der Antragstellerin mit erheblichen Folgen herbeizuführen. Die eventuell zu Unrecht für lediglich einen kurzen Zeitraum erfolgte Bewilligung einer Schulbegleitung ist aus Sicht des Gerichts dabei nicht so gravierend, wie ein der Antragstellerin bei Verweigerung einer Schulbegleitung bereits ab Schuljahresbeginn entstehender Schaden, sollte sich im Nachhinein herausstellen, dass ein andersartiger Eingliederungshilfebedarf bestanden hat (VG München, B.v. 27.8.2020 – M 18 E 20.3684 – juris Rn. 61).
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ee) Damit hat die Antragstellerin einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. In zeitlicher Hinsicht hat sie diesen bis zu einer Entscheidung des Antragsgegners über den Antrag vom 10. Oktober 2023 begrenzt. Dies erscheint sachgerecht, weil die Antragstellerin im Falle einer positiven Entscheidung ab diesem Zeitpunkt für den Rest des Schuljahres 2024/2025 dauerhaft eine Schulbegleitung erhalten wird oder im Falle der Ablehnung des Antrages aufgrund einer neuen Konstellation erneut um gerichtlichen Rechtsschutz nachsuchen kann. Da die Ausbildung der Antragstellerin an der Berufsfachschule IT mit Ende des Schuljahres 2024/2025 endet, ist es auch sachgerecht, den Anordnungsanspruch längstens bis zu diesem Zeitpunkt zu begrenzen.
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Dem steht nicht entgegen, dass die begehrte Hilfe voraussichtlich lediglich einen Teil des gesamten Hilfebedarfes abdeckt. Zwar spricht viel dafür, dass die Antragstellerin auch in außerschulischen Bereichen entsprechende Hilfen benötigen dürfte; dass diese derzeit nicht beantragt worden sind, steht der begehrten Hilfe jedoch nicht entgegen. Zudem ist auch nicht erkennbar, dass die Bewilligung einer Schulbegleitung für andere Lebensbereiche kontraproduktiv sein könnte.
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3. Zudem hat die Antragstellerin einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Sie hat vorgetragen, dass das Schuljahr bereits am 9. September 2024 beginnt und sie von Anfang an die Unterstützung durch die Schulbegleitung benötigt. Sie hat darauf hingewiesen, dass für sie ein weiteres Zuwarten nicht zumutbar sei und der Antragsgegner – wie mit Schreiben vom 18. Juli 2024 nochmals deutlich gemacht – nicht dazu bereit ist, bis zum Beginn der Unterrichtszeit etwas für die Feststellung des Hilfebedarfes zu unternehmen. Sie hat zudem dargelegt, dass eine rückwirkende Erbringung der Hilfemaßnahme nicht in Betracht kommt.
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Damit hat die Antragstellerin im für die Vorwegnahme der Hauptsache erforderlichen Maß einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Demgegenüber drohen der Antragstellerin die oben dargestellten schwerwiegenden Nachteile, sollte sie die Berufsfachschule IT zunächst ohne Schulbegleitung besuchen müssen, während die Nachteile einer im Nachhinein nicht erforderlichen vorläufigen Bewilligung einer Schulbegleitung gering wiegen.
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4. Damit ist dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung in vollem Umfang stattzugeben. Der Antragsgegner ist gehalten, nunmehr im begehrten Umfang umgehend die Schulbegleitung zu bewilligen. Der Antragsgegner selbst hat in seinem Gespräch mit dem Vater der Antragstellerin am 16. November 2023 auf praktische Probleme für die Einsetzung einer Schulbegleitung hingewiesen, dies u.a. mit dem Argument, dass nach einer Bewilligung eine Kraft für die Ausführung der Schulbegleitung gefunden werden müsse, was zeitlich problematisch sei. Aufgrund des nunmehrigen Zeitablaufes ohne eine Entscheidung des Antragsgegners über den Antrag vom 10. Oktober 2023 wird der Antragsgegner gehalten sein, die Antragstellerin bei der Suche nach einer Schulbegleitung so zu unterstützen, dass diese zuverlässig zum Beginn des ersten Schultages am 9. September 2024 zur Verfügung steht.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, § 188 Satz 2 VwGO.