Titel:
Keine Betretenserlaubnis für abgeschobenen Asylantragsteller aus Kindeswohlgründen
Normenketten:
AufenthG § 4, § 11 Abs. 3 S. 1
GG Art. 6
GRCh Art. 24 Abs. 3
UN-KRK Art. 3 Abs. 1
VwGO § 91 Abs. 1, § 146 Abs. 4
Leitsätze:
1. Die Betretenserlaubnis ist kein Aufenthaltstitel iSd § 4 AufenthG und ersetzt damit auch nicht einen erforderlichen Aufenthaltstitel. (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)
2. Das Interesse an der (Wieder-)Herstellung familiärer Beziehungen (hier: Besuch des neugeborenen Kindes und die Unterstützung der Mutter in der unmittelbaren Zeit nach der Geburt) stellt keine unbillige Härte iSd § 11 Abs. 8 S. 1 Alt. 2 AufenthG dar. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Betretenserlaubnis, Kindeswohl, Familiäre Belange, Aufenthaltstitel, Visum, familiäre Belange, unbillige Härte
Vorinstanz:
VG Regensburg, Beschluss vom 09.11.2023 – RO 9 E 23.2018
Fundstelle:
BeckRS 2024, 2077
Tenor
I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 2.500,00 EUR festgesetzt.
Gründe
1
Mit der Beschwerde verfolgt der Antragsteller (ein tunesischer Staatsangehöriger, der nach Ablehnung seines Asylantrags als unzulässig, Abschiebungsanordnung nach Österreich und Anordnung eines auf zwölf Monate ab der Abschiebung befristetem Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG <Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge – Bundesamt – vom 2.1.2023> am 30.6.2023 nach Österreich abgeschoben wurde) sein Begehren weiter, ihm im Wege der einstweiligen Anordnung eine vorläufige Betretenserlaubnis für das Bundesgebiet zu erteilen.
2
Die zulässige Beschwerde ist unbegründet. Das Beschwerdevorbringen, auf dessen Überprüfung der Senat beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), rechtfertigt keine Abänderung des angefochtenen Beschlusses.
3
1. Offenbleiben kann, ob die Antragsänderung in einen Antrag auf vorläufige Feststellung gemäß § 91 Abs. 1 VwGO in der Beschwerdeinstanz (da sich das erstinstanzlich verfolgte Antragsbegehren, dem Antragsteller eine vorläufige Betretenserlaubnis für den Zeitraum vom 9. bis 23. November 2023 zu erteilen, mit Zeitablauf erledigt hat, womit der Antrag insoweit unzulässig geworden ist) zulässig ist und ob dem nunmehr verfolgten Feststellungsbegehren entgegensteht, dass der Antragsteller damit eine Vorwegnahme der Hauptsache erstrebt, wie das Verwaltungsgericht angenommen hat. Denn der Antrag ist jedenfalls unbegründet, weil dem Antragsteller im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats kein Anspruch auf Erteilung einer Betretenserlaubnis zusteht.
4
1.1 Das Verwaltungsgericht hat ausgeführt, dass die Betretenserlaubnis kein Aufenthaltstitel sei und damit auch nicht einen erforderlichen Aufenthaltstitel nach § 4 AufenthG ersetze. Soweit ein Ausländer nach Schengen-Recht bzw. nach § 4 Abs. 1 AufenthG zur Einreise und zum Aufenthalt eines Aufenthaltstitels bedürfe, gelte dieses Erfordernis trotz der Erteilung der Betretenserlaubnis. Der Antragsteller müsse deshalb belegen, dass er Inhaber eines gültigen Aufenthaltstitels nach § 4 AufenthG sei und seiner Einreise in das Bundesgebiet lediglich das durch das Bundesamt im Bescheid vom 2. Januar 2023 angeordnete Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG entgegenstehe oder sich die zuständige Botschaft nach Beantragung eines Besuchsvisums nachweislich ausschließlich wegen fehlender Betretungserlaubnis an dessen Ausstellung gehindert sehe.
5
Dem hält der Antragsteller entgegen, das Betretungsrecht nach § 11 Abs. 2 Satz 1 AufenthG beinhalte kein freies Bewegungsrecht; es solle lediglich sicherstellen, dass der Berechtigte den zwingenden Gründen, die seine Anwesenheit im Bundesgebiet erforderten, auch tatsächlich entsprechen könne. Die Erlaubnis nach Abs. 2 stelle keinen Aufenthaltstitel i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 AufenthG dar. Sie setze das Verbot des Absatzes 1 zeitweilig und zweckgebunden außer Kraft, indem sie zum Grenzübertritt und zur Hin- und Rückreise zu dem Ort, an dem die Anwesenheit des Ausländers erforderlich sei, berechtige. Sie legalisiere Einreise und Aufenthalt unmittelbar („erlaubt“) und bedürfe – anders als im Falle des Abs. 1 Satz 3 – keiner Ergänzung durch einen anschließenden Aufenthaltstitel i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2. Der Antragsteller verweist hier auf „Westphal/Stoppa, a.a.O., S. 87; a.A. Nr. 11.2.2 AVwV-AufenthG“. Demnach brauche auch für Personen, die nicht von der Genehmigungspflicht befreit seien, nicht außer der Betretenserlaubnis noch ein Schengen-Visum erteilt zu werden. Daher sei die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass der Beschwerdeführer als Voraussetzung der Erteilung der Betretenserlaubnis belegen müsse, Inhaber eines gültigen Aufenthaltstitels nach § 4 AufenthG zu sein oder sich die zuständige Deutsche Botschaft nach dortiger Beantragung eines Besuchsvisums nachweislich ausschließlich wegen fehlender Betretungserlaubnis an dessen Ausstellung gehindert sähe, nicht haltbar und verletze den Beschwerdeführer in seinen Rechten.
6
Der Senat vermag zwar dem Vortrag des Antragstellers nicht zu folgen, dass die Betretenserlaubnis die Einreise und den Aufenthalt unmittelbar erlaube und keiner Ergänzung durch einen anschließenden Aufenthaltstitel i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 bedürfe, weshalb – so der Antragsteller – auch für Personen, die nicht von der Genehmigungspflicht befreit seien, nicht außer der Betretenserlaubnis noch ein Schengen-Visum erteilt zu werden brauche. Soweit der Antragsteller zum Beleg dieser Auffassung auf „Westphal/Stoppa, a.a.O. S. 87“ verweist, fehlt eine vollständige Quellenangabe. Die von dem Antragsteller vertretene Auffassung wird allerdings in der Kommentierung von Huber/Mantel vertreten. Danach bedürfe es trotz gegebenenfalls an sich bestehender Visumpflicht für die Einreise von Drittstaatsangehörigen aus einem anderen EU-Staat neben der Betretenserlaubnis keines Visums, da diese unmittelbar zur Einreise in das Bundesgebiet und dem anschließenden Aufenthalt dort berechtige (Huber/Mantel, AufenthG/AsylG, 3. Aufl. 2021, § 11 AufenthG Rn. 48). Dem folgt der Senat jedoch mit der überwiegenden Meinung in der Kommentarliteratur nicht. Die Betretenserlaubnis ist kein Aufenthaltstitel im Sinne des § 4 AufenthG und ersetzt damit auch nicht einen erforderlichen Aufenthaltstitel (vgl. Maor in Kluth/Heusch, Ausländerrecht, § 11 AufenthG Rn. 79; Dollinger in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, § 11 AufenthG Rn. 114). Soweit ein Ausländer nach Unionsrecht bzw. nach § 4 Abs. 1 AufenthG zur Einreise und zum Aufenthalt eines Aufenthaltstitels bedarf, gilt dieses Erfordernis trotz der Erteilung der Betretenserlaubnis (vgl. Maor a.a.O.; Hailbronner, Ausländerrecht, § 11 AufenthG Rn. 196 f.; Dollinger in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, § 11 AufenthG Rn. 114; vgl. auch Ziffer 11.2.2 AVwV). Gemäß Ziffer 14.1.3.2 AVwV ist die Einreise nicht unerlaubt im Sinne des § 14 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG, wenn der Ausländer (gegen den ein Einreise- und Aufenthaltsverbot angeordnet ist) eine Betretenserlaubnis sowie das erforderliche Visum besitzt. Dass das allgemeine Erfordernis eines Aufenthaltstitels, in der Regel in der Form eines Visums, für die Einreise in das und den Aufenthalt im Bundesgebiet gemäß § 4 Abs. 1 i.V. § 6 AufenthG durch die Erteilung einer Betretenserlaubnis nicht berührt wird, ergibt sich schon daraus, dass die Betretenserlaubnis in systematischer Hinsicht und von ihrem Sinn und Zweck her betrachtet nur das bestehende Einreise- und Aufenthaltsverbot (§ 11 Abs. 1 AufenthG) vorübergehend – d.h. für den Zeitraum ihrer Geltungsdauer – aufhebt (vgl. Hailbronner a.a.O., Rn. 194, 197). Ein Aufenthalt zu einem längerfristigen Zweck – wie von dem Antragsteller letztlich erstrebt – kann deshalb mit der Betretenserlaubnis nicht erlangt werden (vgl. OVG Saarlouis, B.v. 4.2.2011 – 2 A 227/10 – juris Rn. 28; NdsOVG, B.v. 20.2.2007 – 11 ME 386/06 – juris Rn. 13; zustimmend Hailbronner a.a.O., Rn. 194). Anderenfalls würden auch die Regelungen des § 11 Abs. 1 AufenthG unterlaufen (NdsOVG, B.v. 20.2.2007 – 11 ME 386/06 – juris Rn. 13). Der Antragsteller bedarf daher zur Herstellung der Familieneinheit eines Visums gemäß § 6 Abs. 3 Satz 1 AufenthG.
7
Daraus kann jedoch nach der Auffassung des Senats nicht die Schlussfolgerung des Verwaltungsgerichts gezogen werden, dass der Antragsteller belegen müsse, dass er Inhaber eines gültigen Aufenthaltstitels nach § 4 AufenthG sei und seiner Einreise in das Bundesgebiet lediglich das durch das Bundesamt im Bescheid vom 2. Januar 2023 angeordnete Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG entgegenstehe oder sich die zuständige Botschaft nach Beantragung eines Besuchsvisums nachweislich ausschließlich wegen fehlender Betretungserlaubnis an dessen Ausstellung gehindert sehe. Vielmehr berücksichtigen die Auslandsvertretungen nach Ziffer 11.2.2 AVwV bei ihrer Entscheidung über den Visumsantrag die Betretenserlaubnis im Rahmen der Ermessensabwägung. Es würde daher eine zeitliche Verzögerung bedeuten, wenn man forderte, dass der Antragsteller erstmal ein Visum beantragen (verbunden mit der Wartezeit auf einen Termin und der Bearbeitungszeit für den Visumsantrag) und eine negative Entscheidung abwarten müsse, obwohl ihm doch selbst bekannt ist, dass ein Einreise- und Aufenthaltsverbot besteht. Er könnte dann erst nach der negativen Entscheidung eine Betretenserlaubnis beantragen und müsste – nach Erteilung einer Betretungserlaubnis – nochmals das ganze Visumverfahren durchlaufen (erneut verbunden mit Warte- und Bearbeitungszeit). Aufgrund dieser Überlegungen erscheint es ermessensfehlerhaft, die Betretenserlaubnis bereits wegen des fehlenden Aufenthaltstitels abzulehnen. Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts ist dennoch im Ergebnis richtig, weil es bereits an den Erteilungsvoraussetzungen der Betretenserlaubnis fehlt (siehe dazu sogleich).
8
1.2 Soweit der Antragsteller ausführt, die Betretenserlaubnis sei zu erteilen, wenn zwingende Gründe die Anwesenheit des Ausländers im Bundesgebiet erforderten, das Ermessen der Ausländerbehörde beschränke sich auf die Frage, ob und wie die Betretenserlaubnis mit Nebenbestimmungen ausgestaltet werden solle (m.V.a. OVG Bremen, B.v. 18.03.2010 – 1 B 45/10, MNet), der Besuch des neugeborenen Kindes und die Unterstützung der Mutter in der unmittelbaren Zeit nach der Geburt stellten einen zwingenden Grund für Einreise und kurzfristigen Aufenthalt während der Sperrzeit nach Absatz 1 dar, eine unbillige Härte könne sich vor allem im verwandtschaftlichen oder humanitären Bereich ergeben, etwa bei Familienfeiern, Erkrankung oder Tod naher Angehöriger, die Verweigerung des Besuchs des neugeborenen Kindes stelle eine solche unbillige Härte dar, vermag der Senat dem nicht zu folgen. Zwingende Gründe i.S.v. § 11 Abs. 8 Satz 1 Alt. 1 AufenthG sind anzuerkennen, wenn sie in den persönlichen Verhältnissen begründet sind, aber auch dem öffentlichen Interesse entsprechen, etwa für die Wahrnehmung von Terminen bei Gerichten oder Behörden oder für die Regelung von Streitfragen materieller oder immaterieller Art mit einer Behörde (vgl. Dollinger in Bergmann/Dienelt, 14. Aufl. 2022, AufenthG § 11 Rn. 116; Maor in Kluth/Heusch, Ausländerrecht, § 11 AufenthG Rn. 83). Dafür sind im Falle des Antragstellers keine Anhaltspunkte erkennbar oder vorgetragen. Als unbillige Härten im Sinne des § 11 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG kommen humanitäre bzw. zwingende persönliche Gründe in Betracht (etwa schwere Erkrankungen oder Todesfälle von Angehörigen im Bundesgebiet, vgl. Maor in Kluth/Heusch, Ausländerrecht, § 11 AufenthG Rn. 85). Hingegen stellt das Interesse an der (Wieder-)Herstellung familiärer Beziehungen keine unbillige Härte dar (vgl. Maor a.a.O. m.V.a. OVG Saarlouis, B.v. 4.2.2011 – 2 A 227/10 – juris). Ein Aufenthalt zu einem längerfristigen Zweck, wie ihn der Antragsteller mit der gewünschten Herstellung der Familieneinheit im Bundesgebiet erstrebt, kann – wie ausgeführt – nicht mit der Betretenserlaubnis verfolgt werden. Darüber hinaus bedarf die Erteilung einer Betretenserlaubnis einer Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an dem Aufrechterhalten des Einreise- und Aufenthaltsverbots. Die Gefahr einer erneuten Beeinträchtigung oder Gefährdung öffentlicher Interessen muss entweder ausgeräumt sein oder als so gering erscheinen, dass sie angesichts zwingender Gründe oder einer sonst eintretenden unbilligen Härte hinzunehmen ist. Sie kann sich etwa daraus ergeben, dass die spätere freiwillige Ausreise nicht gesichert ist (Dollinger in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, AufenthG § 11 Rn. 117), was der Antragsgegner bei dem Antragsteller annimmt.
9
1.3 Soweit der Antragsteller rügt, auch im Hinblick auf die Reform des Kindschaftsrechts zum 1. Juli 1998, Art. 3 Abs. 1 KRK sowie die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung, wonach ein Kind einen Anspruch auf Fürsorge durch beide Elternteile habe und beide für seine gedeihliche Entwicklung benötige, und nicht zuletzt – sofern anwendbar – wegen Art. 24 Abs. 3 GRC, stelle es stets zumindest aus der nach Art. 3 Abs. 1 KRK maßgeblichen Sicht des Kindes eine außergewöhnliche Härte dar, wenn minderjährige Kinder nicht mit beiden Elternteilen zusammen leben könnten, eine Verweigerung der Betretenserlaubnis sei in diesem Fall außerdem nicht mit Art. 6 GG vereinbar, weshalb der Beschwerdeführer durch die angegriffene Entscheidung in seinem Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG verletzt werde, aus dem Elterngrundrecht ergäben sich in der hier zu beurteilenden Konstellation besonders hohe Anforderungen an die Aufrechterhaltung der Trennung, diesen genüge die Entscheidung des Verwaltungsgerichts nicht (wird näher ausgeführt) und die Trennung des Kindes von seinen Eltern dürfe nur unter strikter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erfolgen und aufrechterhalten werden (vgl. BVerfGE 60, 79 <89>), diese Verhältnismäßigkeit sei hier aus den genannten Gründen nicht gewahrt worden, auch weil ein Ende der Trennungsdauer nicht absehbar sei, das öffentliche Interesse an der Ausreisepflicht (m.V.a. Erwägungsgrund Nr. 4 und 6 Satz 1 der RL 2008/115/EG) müsse insofern hinter dem Schutz des Kindeswohls und der familiären Bindungen zurücktreten, übersieht er, dass eine gelebte familiäre Schutz- und Beistandsgemeinschaft mit seinem Kind und dessen Mutter, wie sie der Antragsteller und seine Ehefrau anstreben, noch nicht besteht. Auf das Begehren der (hier: erstmaligen) Herstellung einer familiären Lebensgemeinschaft mit im Bundesgebiet (berechtigt) lebenden Familienangehörigen können nicht dieselben rechtlichen Grundsätze Anwendung finden, wie auf die Aufrechterhaltung einer bereits gelebten familiären Gemeinschaft zum Schutz vor einer Trennung der Familienmitglieder aus aufenthaltsrechtlichen Gründen. Der Antragsteller kann insoweit, wie ausgeführt, auf die Durchführung des Visumverfahrens in Österreich mit dem Ziel des Familiennachzugs auf der Grundlage des § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 3 AufenthG i.V.m. § 6 Abs. 3 Satz 1 AufenthG verwiesen werden. Dies ist ihm auch zumutbar:
10
Art. 6 GG vermittelt keinen unmittelbaren Anspruch auf Einreise und Aufenthalt im Bundesgebiet. Die Ausländerbehörden sind aber auf der Grundlage der in Art. 6 GG enthaltenen wertentscheidenden Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, dazu verpflichtet, bei ihren aufenthaltsbeendenden Entscheidungen stets die familiären Bindungen des Ausländers an im Bundesgebiet berechtigt lebende Personen angemessen zu berücksichtigen (BVerfG, B.v. 9.1.2009 – 2 BvR 1064/08 – juris Rn. 14). Die verfassungsrechtlichen Wertungen zum Schutz der Familie und des Privatlebens in Art. 6 Abs. 1 GG bzw. Art. 8 EMRK gewähren dem Ausländer grundsätzlich ein berechtigtes Interesse daran, nicht von seinen weiter im Bundesgebiet lebenden Familienmitgliedern getrennt zu werden. Wenn die Lebensgemeinschaft zwischen einem Ausländer und seinem Kind ausschließlich im Bundesgebiet geführt werden kann, drängt daher die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, einwanderungspolitische Belange regelmäßig zurück (BayVGH, B.v. 11.10.2017 – 19 CE 17.2007 – juris Rn. 12 m.w.N.). Dies kann selbst dann gelten, wenn der Ausländer vor der Entstehung der zu schützenden Lebensgemeinschaft gegen aufenthaltsrechtliche Bestimmungen verstoßen hat (BVerfG, B.v. 30.1.2002 – 2 BvR 231/00 – NVwZ 2002, 849 m.w.N.), weil durch das nachträgliche Entstehen einer grundrechtlich geschützten familiären Lebensgemeinschaft eine neue Situation eintritt, die eine Zäsur bewirkt (BayVGH, B.v. 22.7.2008 – 19 CE 08.781 – juris Rn. 26 m.w.N.). Ein hohes, gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechendes Gewicht haben die Folgen einer vorübergehenden Trennung insbesondere, wenn ein noch sehr kleines Kind betroffen ist, welches den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen kann und diese rasch als endgültigen Verlust erfährt (BVerfG, B.v. 9.1.2009 – 2 BvR 1064/08 – juris Rn. 17 m.w.N.).
11
Bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen, die den Umgang mit einem Kind berühren, ist maßgeblich auch auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist. Dabei ist grundsätzlich eine umfassende Betrachtung geboten, bei der auf der einen Seite die familiären Bindungen zu berücksichtigen sind, auf der anderen Seite aber auch die sonstigen Umstände des Einzelfalles (vgl. BVerfG, B.v. 9.12.2021 – 2 BvR 1333/21 – juris Rn. 48; B.v. 5.6.2013 – 2 BvR 586/13 – juris, Rn. 12). Dementsprechend ist im Einzelfall zu würdigen, in welcher Form die Elternverantwortung ausgeübt wird und welche Folgen eine endgültige oder vorübergehende Trennung für die gelebte Eltern-Kind-Beziehung und das Kindeswohl hätte. In diesem Zusammenhang ist davon auszugehen, dass der persönliche Kontakt des Kindes zu seinen Eltern und der damit verbundene Aufbau und die Kontinuität emotionaler Bindungen zu Vater und Mutter in der Regel der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes dienen (vgl. BVerfG, B.v. 9.12.2021, a.a.O. m.w.N.). Bei der Bewertung der familiären Beziehungen verbietet sich eine schematische Einordnung als entweder aufenthaltsrechtlich grundsätzlich schutzwürdige Lebens- und Erziehungsgemeinschaft oder Beistandsgemeinschaft oder aber bloße Begegnungsgemeinschaft ohne aufenthaltsrechtliche Schutzwirkungen, zumal auch der persönliche Kontakt mit dem Kind in Ausübung eines Umgangsrechts unabhängig vom Sorgerecht Ausdruck und Folge des natürlichen Elternrechts und der damit verbundenen Elternverantwortung ist und daher unter dem Schutz des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG steht (vgl. BVerfG, B.v. 30.1.2002 – 2 BvR 231/00 – juris Rn. 20). Es kommt in diesem Zusammenhang auch nicht darauf an, ob eine Hausgemeinschaft vorliegt und ob die von einem Familienmitglied tatsächlich erbrachte Lebenshilfe auch von anderen Personen erbracht werden könnte (vgl. BVerfG, B.v. 30.1.2002 – 2 BvR 231/00 – juris Rn. 20 m.w.N.). Dabei ist auch in Rechnung zu stellen, dass der spezifische Erziehungsbeitrag des Vaters nicht durch die Betreuung des Kindes durch die Mutter entbehrlich wird (vgl. BVerfG, B.v. 30.1.2002 – 2 BvR 231/00 – juris Rn. 20 m.w.N.).
12
Gemessen daran ist vorliegend in Rechnung zu stellen, dass es zwar einerseits im Interesse des Kindeswohls liegt, dass das Kind des Antragstellers Umgang mit beiden Elternteilen hat, dass dieses aber andererseits seinen Vater noch nie gesehen hat und ihn damit auch nicht vermissen kann. Wie ausgeführt, kann der Antragsteller sein Ziel der Herstellung der Familieneinheit mit seiner Ehefrau und seinem Kind im Visumverfahren gemäß § 6 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 3 AufenthG verfolgen. Weshalb ihm dies nicht zumutbar sein sollte, hat der Antragsteller nicht dargelegt.
13
Soweit das Bundesverfassungsgericht die Maßstäbe der Prognose der Möglichkeit der Rückkehr in das Bundesgebiet mit dem erforderlichen Visum sowie der Prognose der Trennungsdauer mit dem (Kammer-)Beschluss vom 2. November 2023 (Az. 2 BvR 441/23) weiter präzisiert hat, gelten diese Grundsätze ersichtlich für eine (angenommene) von Art. 6 GG geschützte Lebens- oder zumindest Erziehungs- und Beistandsgemeinschaft des Ausländers mit seinem im Bundesgebiet lebenden und aufenthaltsberechtigten minderjährigen Kind, wie sie hier nicht gegeben ist (vgl. auch schon BVerfG, B.v. 9.12.2021 – 2 BvR 1333/21 – juris Rn. 46 ff.; B.v. 22.12.2021 – 2 BvR 1432/21 – juris Rn. 42 ff.). Von daher ist es dem Antragsteller und seinen Familienangehörigen zuzumuten, die Dauer des Visumverfahrens abzuwarten. Dass und warum dieses unverhältnismäßig lange dauern würde, hat der Antragsteller nicht dargelegt. Es sind auch keine unüberwindbaren tatsächlichen oder rechtlichen Hindernisse ersichtlich, an denen eine Visumerteilung – nach Ablauf des Einreise- und Aufenthaltsverbots – voraussehbar scheitern würde. Soweit der Antragsteller derzeit ohne gültigen Pass ist (§ 5 Abs. 1 Nr. 4 i.V.m. § 3 Abs. 1 AufenthG), hat er nicht dargelegt, dass es ihm unmöglich oder unzumutbar wäre, sich einen gültigen Pass bei der Auslandsvertretung seines Heimatlandes in seinem derzeitigen Auslandsstaat oder, falls erforderlich, im Heimatstaat zu beschaffen. Soweit der Antragsgegner im Verwaltungsverfahren ein Ausweisungsinteresse gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG angenommen hat, kann davon nach pflichtgemäßem Ermessen abgesehen werden (§ 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG). Unüberbrückbare tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten, ein Visum zu erhalten, sind damit weder dargelegt, noch anderweitig ersichtlich.
14
Aus Art. 24 Abs. 3 GR-Charta oder Art. 3 Abs. 1 der UN-Konvention folgt nichts Anderes. Berühren aufenthaltsrechtliche Entscheidungen den Umgang mit einem Kind, ist im Rahmen der Abwägung maßgeblich auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist. Sind Minderjährige betroffen, ist im Rahmen des Art. 24 Abs. 3 GR-Charta bzw. des Art. 3 des Übereinkommens über die Rechte des Kindes vom 20. November 1989 (BGBl 1992 II S. 121, 990) – UN-Kinderrechtskonvention (KRK) – das Alter des betroffenen Kindes, die Situation in seinem Herkunftsland und die Abhängigkeit von seinen Eltern in die Abwägung einzustellen. Auch aus einer Zusammenschau des Art. 3 KRK mit Art. 9 Abs. 1 und Art. 10 Abs. 1 KRK folgt allerdings kein Anspruch auf einen voraussetzungslosen Kinder- oder Elternnachzug und auch das Kindeswohl hat keinen unbedingten Vorrang (vgl. BVerwG, U.v. 8.12.2022 – 1 C 8.21 – juris Rn. 20; U.v. 13.6.2013 – 10 C 16.12 – juris Rn. 24).
15
1.4 Der Antragsteller verweist außerdem auf die aktuelle Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH, B.v. 15.2.2023, Az. C-484/22), wonach die Abschiebungsandrohung eine Rückkehrentscheidung im Sinne von Art. 3 Nr. 4, Art. 6 und Art. 7 Abs. 1 Uabs. 1 der RL 2008/115/EG darstelle (m.V.a. BVerwG, B.v. 8.6.2022, Az. 1 C 24.21; U.v. 16.2.2022, Az. 1 C 6.21) und nach Art. 5 Buchst. a und b der RL 2008/115/EG das Wohl des Kindes und die familiären Bindungen in allen Stadien des Verfahrens angemessen zu berücksichtigen seien, so dass das Wohl des Kindes und seine familiären Bindungen (bereits) im Rahmen eines zum Erlass einer gegen einen Minderjährigen ausgesprochenen Rückkehrentscheidung führenden Verfahrens zu schützen seien und es nicht genüge, wenn der Minderjährige diese beiden geschützten Interessen (erst) im Rahmen eines nachfolgenden Verfahrens betreffend den Vollzug der Rückkehrentscheidung geltend machen könne, um gegebenenfalls eine Aussetzung des Vollzugs zu erwirken (m.V.a. EuGH, B.v. 15.2.2023, Az. C-484/22), dies gelte auch dann, wenn es sich – wie im vorliegenden Fall – beim Adressaten der Rückkehrentscheidung nicht um einen Minderjährigen, sondern um dessen Elternteil handele (m.V.a. EuGH, U.v. 11.3.2021, Az. C-112/20), erst Recht folge aus dem genannten Urteil des EuGH, dass auch nach vollzogener Abschiebung, also bereits bei unfreiwilliger Trennung der Familie, das Wohl des Kindes und die familiären Bindungen Berücksichtigung finden müssten, vor allem, wenn die Dauer der Trennung nicht absehbar sei. Dieser Umstand sei vom Verwaltungsgericht nicht berücksichtigt worden.
16
Dem vermag der Senat nicht zu folgen. Die mit der RL 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348, S. 98) – Rückführungsrichtlinie (RFRL) – geschaffenen gemeinsamen Normen und Verfahren beziehen sich nur auf den Erlass von Rückkehrentscheidungen und deren Vollstreckung; die Richtlinie hat hingegen nicht zum Ziel, die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Aufenthalt von Ausländern insgesamt zu harmonisieren (vgl. BVerwG, U.v. 16.11.2023 – 1 C 32.22 – juris Rn. 22 m.V.a. EuGH, U.v. 22.11.2022 – C-69/21 – juris Rn. 34 und BVerwG, U.v. 16.2.2022 – 1 C 6.21 – juris Rn. 40 ff.). Die Abschiebungsanordnung im Bescheid des Bundesamtes vom 2. Januar 2023, welche die Rückkehrentscheidung i.S.v. Art. 3 Nr. 4, Art. 6 und Art. 7 Abs. 1 UAbs. 1 RFRL darstellt (BVerwG, B.v. 8.6.2022 – 1 C 24.21 – juris Rn. 18; U.v. 16.2.2022 – 1 C 6.21 – juris Rn. 39) und auf welche sich die von dem Antragsteller benannten Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs zu Art. 5 Buchst. a und b RFRL beziehen (u.a. EuGH, U.v. 15.2.2023 – GS, C-484/22 – juris; U.v. 11.3.2021 – M.A., C-112/20 – juris), ist nicht Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens.
17
2. Die Beschwerde war daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 2 VwGO zurückzuweisen.
18
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 1 GKG (wie Vorinstanz).
19
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).