Inhalt

VGH München, Beschluss v. 13.05.2024 – 2 ZB 23.709
Titel:

Rückbauverpflichtung für Anbau

Normenketten:
BayVwVfG Art. 37 Abs. 1
BayBO Art. 63 Abs. 1, Art. 76 S. 1, S. 3
Leitsätze:
1. Soll von einer Norm abgewichen werden (Art. 63 Abs. 1 BayBO), die konkurrierende private Interessen im Rahmen eines gegenseitigen Austauschverhältnisses ausgleicht und damit Drittschutz vermittelt, so genießen die nachbarlichen Interessen einen hohen Stellenwert, weil sie in das normative Konfliktschlichtungsprogramm Eingang gefunden haben und damit als besonders schutzwürdig anerkannt worden sind. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
2. Es obliegt dem Bauherrn, die (vollständige oder teilweise) Beseitigung einer rechtswidrigen Anlage, die sich durch bauliche Änderungen rechtmäßig gestalten lässt, durch die Stellung eines entsprechenden genehmigungsfähigen Bauantrags abzuwenden. (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Beseitigungsanordnung, Ausreichende Bestimmtheit, Abweichung von brandschutzrechtlichen Vorschriften, Milderes Mittel, Drittschutz, Bauantrag, Aufklärungsrüge
Vorinstanz:
VG Augsburg, Urteil vom 01.03.2023 – Au 4 K 21.1493
Fundstelle:
BeckRS 2024, 20342

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Klägerin trägt die Kosten des Berufungszulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 5.000,-- Euro festgesetzt.

Gründe

1
Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Aus der Antragsbegründung, auf die sich gemäß § 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO die Prüfung im Zulassungsverfahren beschränkt, ergeben sich weder der geltend gemachte Berufungszulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) noch derjenige eines Verfahrensmangels (§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO).
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1. Die mit dem Zulassungsbegehren vorgebrachten Einwände begründen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinn von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.
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1.1. Entgegen der Auffassung der Klägerin genügt die angegriffene Beseitigungsanordnung dem Bestimmtheitsgebot des Art. 37 Abs. 1 BayVwVfG.
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Mit Bescheid des Landratsamtes Unterallgäu vom 8. Juni 2021, in dessen Betreff als Bauvorhaben „Nutzungserweiterung und der Einbau einer Gaube im 1. Obergeschoss, Einbau einer Wohnung im Dachgeschoss“ und als Bauort das Grundstück Fl.Nr. ...1/2 der Gemarkung W. angegeben sind, wurde der Klägerin in Nr. 1 die bauaufsichtliche Genehmigung für das „oben genannte Bauvorhaben“ erteilt und in Nr. 3 aufgegeben, den „nicht genehmigten nördlichen Anbau am oben genannten Bauvorhaben“ zurückzubauen. Die Rüge der Klägerin, der Gegenstand der Beseitigungsanordnung sei nicht hinreichend bestimmt bezeichnet, dringt nicht durch.
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Ein Verwaltungsakt ist inhaltlich bestimmt, wenn für den Adressaten die von der Behörde getroffene Regelung so vollständig, klar und unzweideutig erkennbar ist, dass er sein Verhalten danach ausrichten kann, und wenn der Bescheid darüber hinaus geeignet ist, Grundlage für Maßnahmen zu seiner zwangsweisen Durchsetzung zu sein; sein Regelungsgehalt ist in entsprechender Anwendung der §§ 133, 157 BGB zu ermitteln. Es reicht aus, wenn sich die Regelung aus dem gesamten Inhalt des Bescheides, insbesondere seiner Begründung sowie den weiteren, den Beteiligten bekannten oder ohne Weiteres erkennbaren Umständen unzweifelhaft entnehmen lässt (vgl. BVerwG, U.v. 9.7.2020 – 3 C 20.18 – juris Rn. 12). Diesen Anforderungen wird die angefochtene Beseitigungsanordnung gerecht.
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Bei einer am objektiven Empfängerhorizont orientierten Auslegung war für die Klägerin unzweifelhaft erkennbar, dass sich die Beseitigungsanordnung auf den auf dem Baugrundstück befindlichen erdgeschossigen Anbau an der Nordseite des dortigen Bestandsgebäudes bezieht, bei dem es sich um den einzigen „nördlichen Anbau“ auf dem Baugrundstück handelt. Dieser Anbau war im Vorfeld des Bescheides Gegenstand mehrerer Besprechungen zwischen der Klägerin und dem Landratsamt. Im Anhörungsschreiben vom 24. März 2021 wurde er als nördlicher Anbau an das Hauptgebäude an der Grenze zu Fl.Nr. ...1 bezeichnet. Für die Klägerin, die mit Schreiben vom 4. Mai 2020 (BA S. 55 f) Bestandsschutz für den „Anbau im Norden“ reklamiert hatte, konnte damit kein Zweifel daran bestehen, dass ihr mit der angefochtenen Verfügung die Beseitigung des erdgeschossigen nördlichen Anbaus an das Bestandsgebäude auf dem Baugrundstück aufgegeben wurde. Ihre Auffassung, einer dahingehenden Auslegung der Beseitigungsanordnung stehe deren Wortlaut entgegen, da das im Betreff des Bescheides genannte Bauvorhaben keine Maßnahmen im Erdgeschoss des Bestandsgebäudes umfasse, verfängt nicht. Dass die Formulierung des „oben genannten Bauvorhabens“ nicht streng formal zu verstehen ist, sondern damit das Bestandsgebäude auf dem im Betreff des Bescheides genannten Baugrundstück gemeint ist, ist angesichts dessen, dass das im Betreff des Bescheides angeführte Bauvorhaben keinen Anbau beinhaltet und in Nr. 1 genehmigt wurde, offensichtlich.
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1.2. Die Kritik der Klägerin an der Annahme des Verwaltungsgerichts, dass der streitgegenständliche Anbau nicht durch die Erteilung einer Abweichung nach Art. 63 Abs. 1 BayBO von den brandschutzrechtlichen Vorgaben des Art. 28 BayBO legalisiert werden kann, verhilft dem Zulassungsantrag ebenfalls nicht zum Erfolg.
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Das Erstgericht ist im Ergebnis zu Recht davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen für die Erteilung einer Abweichung von den in Art. 28 Abs. 1, Abs. 3 Satz 2, Abs. 8 Satz 1 und Abs. 11 BayBO normierten brandschutzrechtlichen Anforderungen, denen die Gebäudeabschlusswand des Anbaus widerspricht, nicht vorliegen. Eine Abweichung nach Art. 63 Abs. 1 BayBO kann nur zugelassen werden, wenn sie unter Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange mit den öffentlichen Belangen, insbesondere den Anforderungen des Art. 3 Abs. 1 BayBO vereinbar ist. Soll von einer Norm abgewichen werden, die konkurrierende private Interessen im Rahmen eines gegenseitigen Austauschverhältnisses ausgleicht und damit – wie hier die brandschutzrechtlichen Anforderungen an Gebäudeabschlusswände, die das Übergreifen des Brandes auch auf Nachbargebäude verhindern sollen – Drittschutz vermittelt, so genießen die nachbarlichen Interessen einen hohen Stellenwert, weil sie in das normative Konfliktschlichtungsprogramm Eingang gefunden haben und damit als besonders schutzwürdig anerkannt worden sind. Eine Zurückstellung derart geschützter Interessen verlangt daher private und/oder öffentliche Belange von herausgehobener Bedeutung, um sich gegen die Nachbarinteressen durchsetzen zu können (vgl. Dhom/Simon in Busse/Kraus, BayBO, 152. EL Oktober 2023, Art. 63 Rn. 34; BayVGH, B.v. 16.7.2019 – 9 CS 19.374 – juris Rn. 24; B.v. 19.7.2016 – 9 CS 15.336 – juris Rn. 21). Derartige Interessen von herausgehobener Bedeutung, die sich gegen die nachbarlichen Interessen des den Anbau ablehnenden Eigentümers des nördlich angrenzenden Nachbargrundstücks Fl.Nr. ...1 durchsetzen könnten, zeigt die Zulassungsbegründung nicht auf. Dass der Anbau bereits seit mehreren Jahrzehnten besteht, vermag die Zulassung einer Abweichung ebenso wenig begründen wie die unsubstantiierte Behauptung, in der Umgebung würden mehrere grenzständig errichtete Gebäude keine Brandwand als Gebäudeabschlusswand aufweisen. Weshalb der Zuschnitt des Baugrundstücks die Erteilung einer Abweichung rechtfertigen sollte, ist in der Zulassungsbegründung ebenfalls nicht substantiiert dargelegt. Nach den Ausführungen des ehemaligen Vorsitzenden der Molkereigenossenschaft W. eG im Schreiben vom 15. September 2015 (BA S. 66) ist auch die klägerische Behauptung, der frühere Eigentümer des Nachbargrundstücks Fl.Nr. ...1 sei mit der Errichtung des Anbaus einverstanden gewesen, nicht zutreffend. Aus dem genannten Schreiben geht vielmehr hervor, dass der Nachbar die von der Molkereigenossenschaft ohne Genehmigung zur Unterbringung eines Eiswasserbeckens vorgenommene Errichtung des Anbaus lediglich duldete, weil ihm ein Rückbau des Anbaus zugesagt wurde, sobald das Eiswasserbecken nicht mehr benötigt werde.
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1.3. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils begründet die Klägerin auch nicht mit der Rüge, die Beseitigungsanordnung sei ermessensfehlerhaft, weil als milderes Mittel die brandschutzrechtliche Ertüchtigung des Anbaus bzw. Stellung eines diesbezüglichen Bauantrages hätte angeordnet werden müssen.
10
Nach ständiger Rechtsprechung ist es nicht Sache der Bauaufsichtsbehörde, für den Bauherrn die Planung eines bauordnungsrechtlich beanstandungsfreien Vorhabens zu übernehmen und etwaige Möglichkeiten der Abänderung einer in ihrem gegenwärtigen Bestand materiell rechtswidrigen Anlage von Amts wegen zu prüfen und zu ermitteln (vgl. BayVGH, B.v. 10.10.2019 – 9 ZB 17.150 – juris Rn 6; OVG Berlin, B.v. 18.7.2017 – OVG 2 N 28.17 – juris Rn. 7; OVG Münster, B.v. 18.5.2015 – 2 A 126/15 – juris Rn. 19; BVerwG, B.v. 4.3.1991 – 4 B 22.91 – juris Rn. 9; B.v. 12.6.1973 – IV B 58.72 – juris Rn. 5). Vielmehr obliegt es dem Bauherrn, die (vollständige oder teilweise) Beseitigung einer rechtswidrigen Anlage, die sich durch bauliche Änderungen rechtmäßig gestalten lässt, durch die Stellung eines entsprechenden genehmigungsfähigen Bauantrags abzuwenden. Die Bauaufsichtsbehörde kann den Bauherrn auch nicht – als gegenüber der Beseitigungsanordnung weniger einschneidende Maßnahme – verpflichten, einen solchen Antrag zu stellen, weil Art. 76 Satz 3 BayBO keine Rechtsgrundlage dafür bietet, Pläne für erst vorzunehmende bauliche Änderungen zu verlangen (vgl. Decker in Busse/Kraus, BayBO, 152. EL Oktober 2023, Art. 76 Rn. 249 f; BayVGH, U.v. 25.10.2023 – 9 B 22.1461 – juris Rn. 57).
11
2. Die Berufung ist auch nicht nach § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO wegen des behaupteten Verfahrensmangels in Gestalt einer Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes aus § 86 Abs. 1 VwGO zuzulassen.
12
Die Klägerin rügt, das Verwaltungsgericht habe seine Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung verletzt, indem es die bis 1907 zurückreichende Genehmigungshistorie des gesamten ehemaligen Betriebsgeländes der Molkereigenossenschaft, zu dem früher auch das Nachbargrundstück Fl.Nr. ...1 gehört habe, das mit dem Baugrundstück ursprünglich ein einheitliches Grundstück gebildet habe, sowie die erfolgten Grundstücksteilungen nicht ermittelt habe. Dadurch könne keinesfalls belastbar nachvollzogen werden, ob der Anbau wirklich zu keinem Zeitpunkt dem materiellen Recht entsprochen haben könne.
13
Mit diesem Vorbringen ist eine Verletzung der gerichtlichen Sachaufklärungspflicht nicht den gesetzlichen Anforderungen entsprechend dargelegt. Eine Darlegung der Verletzung des in § 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO normierten Untersuchungsgrundsatzes verlangt nach ständiger Rechtsprechung, dass substantiiert ausgeführt wird, welche Tatsachen auf der Grundlage der materiell-rechtlichen Auffassung des Verwaltungsgerichts aufklärungsbedürftig waren, welche für erforderlich oder geeignet gehaltenen Aufklärungsmaßnahmen hierfür in Betracht kamen, welche tatsächlichen Feststellungen dabei voraussichtlich getroffen worden wären und inwiefern diese unter Zugrundelegung der materiell-rechtlichen Auffassung des Verwaltungsgerichts zu einer für den Beschwerdeführer günstigeren Entscheidung hätten führen können (vgl. etwa BVerwG, B.v. 6.2.2024 – 9 B 28.23 – juris Rn. 17; B.v. 15.5.2023 – 4 B 1.23 – juris Rn. 7; BayVGH, B.v. 2.8.2023 – 24 ZB 23.1119 – juris Rn. 11). Da die Aufklärungsrüge kein Mittel darstellt, um Versäumnisse eines Verfahrensbeteiligten in der Vorinstanz zu kompensieren, ist ferner darzulegen, dass bereits im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht auf die Vornahme der Sachverhaltsaufklärung, deren Unterbleiben nunmehr gerügt wird, hingewirkt worden ist. Hat ein anwaltlich vertretener Kläger im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht nicht durch Stellung eines Beweisantrags auf die von ihm nunmehr beanstandete unterbliebene Sachaufklärung hingewirkt, kann eine Aufklärungsrüge keinen Erfolg haben, solange nicht dargelegt wird, aufgrund welcher Anhaltspunkte sich dem Gericht die bezeichneten Ermittlungen auch ohne einen Beweisantrag auf Grundlage seiner Rechtsauffassung hätten aufdrängen müssen (vgl. BVerwG, B.v. 25.2.2021 – 2 B 69.20 – juris Rn. 27; BayVGH, B.v. 18.8.2022 – 10 ZB 22.1265 – juris Rn. 6).
14
Diesen Anforderungen genügt das Vorbringen der Klägerin nicht. Weder wurde von der anwaltlich vertretenen Klägerin in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht auf die Vornahme der weiteren Sachverhaltsaufklärung durch einen entsprechenden Beweisantrag hingewirkt, noch wird mit dem Zulassungsantrag substantiiert dargelegt, aufgrund welcher Anhaltspunkte sich dem Verwaltungsgericht unabhängig von einem Beweisantrag die bezeichneten Ermittlungen auf Grundlage seiner Rechtsauffassung hätten aufdrängen müssen und welche Feststellungen sich dabei voraussichtlich ergeben hätten.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertentscheidung folgt aus §§ 47, 52 Abs. 1 GKG und entspricht der von den Beteiligten nicht infrage gestellten Streitwertfestsetzung im erstinstanzlichen Verfahren.
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4. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit ihm wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).