Titel:
Ernstliche rechtliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Höhe der Aussetzungszinsen
Normenketten:
AO § 237, § 363 Abs. 2 S. 2
GG Art. 3 Abs. 1
FGO § 69 Abs. 3
Schlagworte:
Ernstliche rechtliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Höhe der Aussetzungszinsen nach §§ 237, 238 Abs. 1 Satz 1 AO ab 01.01.2019, Anfechtungsklage, Festsetzungsfrist, Steuerfestsetzung, Typisierung des Zinssatzes, Verhältnismäßigkeitsprinzip
Fundstelle:
BeckRS 2024, 17885
Tenor
1. Der Bescheid über Aussetzungszinsen nach § 237 Abgabenordnung (AO) vom 6. April 2023 wird für die Dauer des Einspruchsverfahrens i.H.v. … € von der Vollziehung ausgesetzt.
Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
2. Die Kosten des Verfahrens tragen die Antragstellerin zu 3/4 und der Antragsgegner zu 1/4.
3. Die Beschwerde zum Bundesfinanzhof wird zugelassen.
Gründe
1
Die Beteiligten streiten in der Hauptsache über die Verfassungsmäßigkeit des Zinssatzes von Aussetzungszinsen nach § 237 AO.
2
Die Antragstellerin ist eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) mit Sitz in … Gegenstand ihres Unternehmens ist … Der Antragstellerin wurden zunächst auf Antrag Zulagen nach dem Investitionszulagengesetz 2005 (InvZulG 2005) für das Wirtschaftsjahre 2004/2005 (Bescheid vom …) und für das Wirtschaftsjahr 2005/2006 (Bescheid vom …) unter dem Vorbehalt der Nachprüfung gewährt.
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Nach Durchführung einer Außenprüfung wurden jeweils mit Bescheid vom … 2012 diese Festsetzungen von Investitionszulagen wieder aufgehoben, da die Verbleibensvoraussetzungen nicht erfüllt worden seien. Der hiergegen eingelegte Einspruch blieb erfolglos (Einspruchsentscheidung vom … 2017). Auch die hiergegen beim Finanzgericht München erhobene Klage (…) blieb ohne Erfolg (Urteil vom … 2022). Eine daraufhin beim Bundesfinanzhof (BFH) angestrengte Nichtzulassungsbeschwerde (…) wurde als unzulässig verworfen (Beschluss vom … 2023).
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Während des anhängigen Einspruchs- und Klageverfahren wurde Aussetzung der Vollziehung gewährt (Verwaltungsakte vom … 2013 bzw. … 2017). Ein weiterer Antrag auf Aussetzung der Vollziehung während des anhängigen Beschwerdeverfahrens beim BFH wurde zunächst mit Verwaltungsakt vom … 2022 abgelehnt. Auf Einspruch hin wurde mit Verwaltungsakt vom … 2022 die Aussetzung der Vollziehung gegen Sicherheitsleistung gewährt. Die Aussetzung war bis zum Ablauf eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung über die Nichtzulassungsbeschwerde (Zustellung am … März 2023) befristet.
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Mit Bescheid vom 6. April 2023 setzte der Antragsgegner (Finanzamt) daraufhin Aussetzungszinsen gemäß 237 AO i.H.v. … € fest. Hiergegen legte die Antragstellerin Einspruch ein, über den noch nicht abschließend entschieden wurde. Er ruht nach § 363 Abs. 2 Satz 2 AO im Hinblick auf das anhängige Revisionsverfahren VIII R 9/23.
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Ein daneben gestellter Antrag auf Aussetzung der Vollziehung wurde abgelehnt (Bescheid vom 20. Juni 2023). Der hiergegen eingelegte Einspruch blieb ebenfalls ohne Erfolg (Einspruchsentscheidung vom 1. Dezember 2023).
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Im vorliegenden gerichtlichen Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes macht die Antragstellerin geltend, dass die Frage der Verfassungskonformität der Höhe der Aussetzungszinsen noch nicht höchstrichterlich geklärt sei. Das Finanzamt habe nicht berücksichtigt, dass der VIII. Senat des BFH in den Beschlüssen vom 3. September 2018 (VIII B 15/18, BFH/NV 2018, 1279) und vom 4. Juli 2019 (VIII B 128/18, BFH/NV 2019, 1060) erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Höhe des Zinssatzes für die Aussetzungszinsen in Höhe von 6 Prozent p.a. formuliert habe. Auch nach Ergehen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 8. Juli 2021 (1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17, BGBl I 2021, 4303) zur Verfassungswidrigkeit von Nachzahlungszinsen nach § 233a AO gebe es keine anderweitige Beschlusslage des VIII. Senats oder eines anderen Senats des BFH. Auch betreffe die Entscheidung des BVerfG ausschließlich die Nachzahlungszinsen. Andere Verzinsungstatbestände bedürften einer eigenständigen verfassungsrechtlichen Wertung.
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Inzwischen stehe wiederum eine Entscheidung des VIII. Senat des BFH zur Verfassungsmäßigkeit der Aussetzungszinsen in einem Hauptsacheverfahren (VIII R 9/23) zur Entscheidung an. Die Vermutung liege nahe, dass der VIII. Senat seine bisherige Beschlusslage zu den Aussetzungszinsen nicht korrigieren werde. So habe dieser Senat jüngst wieder die Höhe der Säumniszuschläge als verfassungswidrig eingestuft.
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Die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit der Höhe der Aussetzungszinsen ab 2012 sei von keinem Senat des BFH bislang entschieden worden, zumindest nicht nach Ergehen der Entscheidung des BVerfG zu den Zinsen nach § 233a AO. Vorliegend sei aber ein systematischer Vergleich geboten. Denn es sei allgemein anerkannt, dass es einen systematischen Gleichlauf zwischen Aussetzungszinsen und dem Zinsanteil der Säumniszuschläge gebe.
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Die Höhe der Aussetzungszinsen sei sowohl wegen eines Verstoßes gegen den Gleichheitsgrundsatz als auch wegen eines Verstoßes gegen das Übermaßverbot verfassungswidrig. Auch sei ein berechtigtes Interesse an der Aussetzung der Vollziehung gegeben. Ein Steuerpflichtiger, der die Aussetzung der Vollziehung beantrage, sei 2,3-fach höher belastet, als derjenigen, der bei der Fälligkeit zahle. Das Argument, der Steuerpflichtige habe es selbst in der Hand, die Zinsbelastung zu vermeiden, indem er keine Aussetzung der Vollziehung beantrage, könne nicht als Rechtfertigung für die Ungleichbehandlung dienen. Auch das Argument, der Steuerpflichtige könne den zu zahlenden Steuerbetrag zu niedrigeren Konditionen am freien Markt finanzieren, sei nicht stichhaltig. Wie auch die Zinsen nach § 233a AO seien die Aussetzungszinsen ab dem Jahr 2014 verfassungswidrig.
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Voraussetzung für einen effektiven Rechtsschutz sei ein Zinssatz, der den Rechtsschutzgedanken nicht unterminiere, was bei 6 Prozent im streitigen Zeitraum der Fall sei. Die Zinsregelungen müssten grundsätzlich in der Lage sein, den mit ihnen verfolgten Belastungsgrund realitätsgerecht abzubilden. Die Belastung stehe nicht mehr in einem angemessenen Verhältnis zum angestrebten Zweck der Liquiditätsabschöpfung.
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Der Hinweis des BVerfG in dem Beschluss vom 8. Juli 2021 (1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17, BGBl I 2021, 4303), dass dieser Beschluss sich nicht auf andere Verzinsungstatbestände wie die Aussetzungszinsen erstrecke, sage nur aus, dass die Aussetzungszinsen nicht Gegenstand des Beschlusses gewesen seien. Es werde aber keine Aussage darüber getroffen, dass die Nachzahlungszinsen mit Aussetzungszinsen nicht vergleichbar seien.
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Antragstellerin beantragt,
den Bescheid über die Festsetzung von Aussetzungszinsen vom 6. April 2023 über … € bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache von der Vollziehung auszusetzen; hilfsweise die Beschwerde zuzulassen.
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Das Finanzamt beantragt sinngemäß,
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Das Finanzamt verweist auf die Einspruchsentscheidung vom 1. Dezember 2023 i.S. Ablehnung der Aussetzung der Vollziehung. Zwar könnten ernstliche Zweifel auch auf verfassungsrechtliche Fragen gestützt werden. Jedoch sei dem bestehenden Geltungsanspruch eines formell verfassungsmäßig zustande gekommenen Gesetzes der Vorrang einzuräumen, wenn die Aussetzung der Vollziehung eines Veraltungsaktes im Ergebnis zur vorläufigen Nichtanwendung eines ganzen Gesetzes führen würde und die Bedeutung und die Schwere des durch die Vollziehung des angefochtenen Bescheids im Einzelfall eintretenden Eingriffs beim Steuerpflichtigen als eher gering einzustufen seien und der Eingriff keine dauerhaft nachteiligen Wirkungen habe.
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Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 8. Juli 2021 (1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17, BGBl I 2021, 4303) mache gerade deutlich, dass die festgestellte verfassungsrechtliche Unvereinbarkeit der Zinsen nach § 233a i.V.m. § 238 AO nicht auf andere Verzinsungstatbestände, wie die Aussetzungszinsen nach § 237 AO zu erstrecken sei, da diese Zinsfolgen nur einträten, wenn der Steuerpflichtige einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung stelle.
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Der Antrag auf Aussetzung der Vollziehung des angefochtenen Zinsbescheids vom 6. April 2023 hat teilweise Erfolg. Der Bescheid ist im Hinblick auf verfassungsrechtliche Zweifel an der Höhe des Zinssatzes nach § 238 Abs. 1 Satz 1 AO für Verzinsungszeiträume ab 2019 i.H.v. … € von der Vollziehung auszusetzen.
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1. Gemäß § 69 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 Finanzgerichtsordnung (FGO) ist auf Antrag die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsakts durch das Gericht der Hauptsache ganz oder teilweise aussetzen, wenn ernstliche Zweifel an seiner Rechtmäßigkeit bestehen oder wenn die Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte.
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1.1. Ernstliche Zweifel sind zu bejahen, wenn bei summarischer Prüfung des angefochtenen Verwaltungsakts im Aussetzungsverfahren neben für die Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige, gegen die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts sprechende Gründe zutage treten, die eine Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung der Rechtsfragen oder Unklarheit in der Beurteilung der Tatfragen bewirken (BFH-Beschlüsse vom 10. Februar 1967 III B 9/66, BFHE 87, 447, BStBl III 1967, 182; vom 10. März 2005 II B 120/04, BStBl II 2005, 370). Die Aussetzung der Vollziehung setzt nicht voraus, dass die für die Rechtswidrigkeit sprechenden Gründe überwiegen (vgl. BFH-Beschluss vom 20. Mai 1997 VIII B 108/96, BFHE 183, 174). Irgendeine vage Erfolgsaussicht genügt jedoch nicht (BFH-Beschluss vom 11. Juni 1968 VI B 94/67, BStBl II 1968, 657).
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1.2. Ernstliche Zweifel i.S.d. § 69 Abs. 2 und 3 FGO können auch verfassungsrechtliche Zweifel an der Gültigkeit einer dem angefochtenen Verwaltungsakt zugrunde liegenden Norm sein. Wegen des Geltungsanspruchs jedes formell verfassungsgemäß zustande gekommenen Gesetzes kommt in Fällen, in denen die ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes auf Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit einer dem Verwaltungsakt zugrunde liegenden Gesetzesvorschrift beruhen, eine Aufhebung der Vollziehung nur in Betracht, wenn ein besonderes berechtigtes Interesse des Antragstellers an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes vorliegt (ständige Rechtsprechung des BFH u.a. Beschlüsse vom 21. Juli 2016 V B 37/16, BFHE 254, 491, BStBl II 2017, 28; vom 1. April 2010 II B 168/09, BFHE 228, 149, BStBl II 2010, 558).
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1.3. Die Entscheidung über die Aussetzung der Vollziehung ergeht bei der im Aussetzungsverfahren gebotenen summarischen Prüfung aufgrund des Sachverhalts, der sich aus dem Vortrag der Beteiligten, der Aktenlage und präsenten Beweismittel ergibt (BFH-Beschluss vom 30. November 2004 IX B 120/04, BStBl II 2005, 287). Es ist Sache der Beteiligten, die entscheidungserheblichen Tatsachen darzulegen und glaubhaft zu machen (BFH-Beschluss vom 17. Januar 1996 V B 100/95, BFH/NV 1996, 491).
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2. Im Streitfall bestehen bei summarischer Prüfung nach Auffassung des beschließenden Senats ab 2019 ernstliche verfassungsrechtliche Zweifel an dem der Berechnung der festgesetzten Aussetzungszinsen (§ 237 AO) im streitgegenständlichen Bescheid vom 6. April 2023 zugrunde gelegten Zinssatz von 0,5 Prozent je Verzinsungsmonat (§ 238 Abs. 1 Satz 1 AO).
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2.1. Gemäß § 233 Satz 1 AO werden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis (§ 37 AO) nur verzinst, soweit dies durch Bundesrecht oder Recht der Europäischen Union vorgeschrieben ist. So ist u.a. gemäß § 237 Abs. 1 Satz 1 AO ein geschuldeter Betrag, hinsichtlich dessen die Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsakts ausgesetzt wurde, zu verzinsen, soweit ein Einspruch oder eine Anfechtungsklage gegen einen Steuerbescheid, eine Steueranmeldung oder einen Verwaltungsakt, der einen Steuervergütungsbescheid aufhebt oder ändert, oder gegen eine Einspruchsentscheidung über einen dieser Verwaltungsakte endgültig keinen Erfolg gehabt hat.
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Aussetzungszinsen werden erhoben vom Tag des Eingangs des außergerichtlichen Rechtsbehelfs bei der Behörde, deren Verwaltungsakt angefochten wird, oder vom Tag der Rechtshängigkeit bei Gericht bis zum Tag, an dem die Aussetzung der Vollziehung endet (§ 237 Abs. 2 Satz 1 AO). Ist die Vollziehung erst nach dem Eingang des außergerichtlichen Rechtsbehelfs oder erst nach der Rechtshängigkeit ausgesetzt worden, so beginnt die Verzinsung mit dem Tag, an dem die Wirkung der Aussetzung der Vollziehung beginnt (§ 237 Abs. 2 Satz 2 AO).
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Die Zinsen betragen gemäß § 238 Abs. 1 Satz 1 AO für jeden Monat 0,5 Prozent. Abweichend hiervon betragen die Zinsen in den Fällen des § 233a AO ab dem 1. Januar 2019 0,15 Prozent für jeden Monat, das heißt 1,8 Prozent für jedes Jahr (§ 238 Abs. 1a AO eingefügt durch das Zweite Gesetz zur Änderung der Abgabenordnung und des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung vom 12. Juli 2022, BGBl I 2022, 1142; zu Anwendbarkeit vgl. Art. 97 § 15 Abs. 14 Abgabenordnung-Einführungsgesetz – EGAO).
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2.2. Vorliegend ist im Zusammenhang mit der Aussetzung der Vollziehung der Rückforderung von Zulagen nach dem InvZulG 2005 der Tatbestand des § 237 Abs. 1 Satz 1 AO erfüllt.
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Auf die Investitionszulage nach dem InvZulG 2005 sind die für Steuervergütungen geltenden Vorschriften der AO entsprechend anzuwenden (§ 5 Abs. 1 Satz 1 InvZulG 2005). Demzufolge ist die Investitionszulage Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis (37 AO) gleichgestellt und unterliegt nach Maßgabe der §§ 233 ff. AO der Verzinsung.
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Im Streitfall ist auch der Einspruch und die Anfechtungsklage gegen die die Zulage aufhebenden Bescheide vom … 2012 mit Verwerfung der Nichtzulassungsbeschwerde (BFH-Beschluss vom … März 2023, …) endgültig erfolglos geblieben (BFH-Urteil vom 11. Februar 1987 II R 176/84, BStBl II 1987, 320). Die Voraussetzung für die Festsetzung von Aussetzungszinsen nach § 237 AO sind somit dem Grund nach gegeben.
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Bei summarischer Prüfung ist auch die Berechnung des festzusetzenden Zinsbetrags im angefochtenen Zinsbescheid vom 6. April 2023 nach der geltenden Rechtslage zutreffend erfolgt. Dies gilt zunächst für die Berechnung des Zinslaufs (§ 237 Abs. 2 AO), für die Anwendung von Abrundungsregelungen (§ 238 Abs. 2, § 239 Abs. 2 AO) sowie die Nicht-Berücksichtigung angefangener Monate (§ 238 Abs. 1 Satz 2 AO). Die Festsetzungsfrist (§ 239 Abs. 1 Satz 1 AO) von zwei Jahren beginnend mit Ablauf des Kalenderjahrs, in dem die Anfechtungsklage mit Verwerfung der Nichtzulassungsbeschwerde (… März 2023) endgültig erfolglos blieb (§ 239 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 AO), ist eingehalten. Hiergegen werden von der Antragstellerin auch keine Einwendungen geltend gemacht.
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Die Frage der Notwendigkeit einer Anrechnung von anderweitig im Zusammenhang mit der Rückforderung der Investitionszulage festgesetzten Zinsen (zu diesem Regelungsprinzip vgl. § 237 Abs. 4 i.V.m. § 234 Abs. 3 AO) stellt sich nach Aktenlage nicht. Es ist weder erkennbar noch geltend gemacht, dass eine Zinsfestsetzung nach Maßgabe des § 6 InvZulG 2005 im Zusammenhang mit der Rückforderung für überlappende Zeiträume erfolgte.
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Nach der geltenden Rechtslage wurde vom Finanzamt der Berechnung der Zinsen nach § 237 AO der in § 238 Abs. 1 Satz 1 AO bestimmte Zinssatz von 0,5 Prozent pro Monat zugrunde gelegt, wie dies vom Wortlaut der Vorschrift vorgesehen ist. Hiergegen bestehen jedoch bei summarischer Prüfung unter Berücksichtigung des Vorbringens der Beteiligten sowie der verfassungsrechtlichen und höchstrichterlichen Rechtsprechung für den Zeitraum ab Januar 2019 ernstliche verfassungsrechtliche Zweifel.
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2.3. Nach der Entscheidung des BVerfG vom 8. Juli 2021 (Beschluss vom 8. Juli 2021 – 1 BvR 2237/14, BVerfGE 158, 282) ist § 233a i.V.m. § 238 Abs. 1 Satz 1 AO nicht mehr mit Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) vereinbar, soweit der Zinsberechnung für Verzinsungszeiträume ab dem 1. Januar 2014 ein Zinssatz von monatlich 0,5 Prozent zugrunde gelegt wurde. Nachdem das BVerfG dennoch die Fortgeltung des bisherigen Rechts bis einschließlich in das Jahr 2018 fallende Verzinsungszeiträume angeordnet hatte, traf der Gesetzgeber für den Verzinsungstatbestand des § 233a AO in § 238 Abs. 1a AO ab 1. Januar 2019 eine Neuregelung (Zweites Gesetz zur Änderung der Abgabenordnung und des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung vom 12. Juli 2022, BGBl I 2022, 1142). Zinsen betragen abweichend von § 238 Abs. 1 Satz 1 AO ab diesem Zeitpunkt für eine Verzinsung nach § 233a AO 0,15 Prozent für jeden Monat, das heißt 1,8 Prozent für jedes Jahr.
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Der nämlichen Entscheidung des BVerfG lagen allgemeine verfassungsrechtliche Grundsätze und Erwägungen zugrunde, die – nach Auffassung des Senats – nicht allein auf den Verzinsungstatbestand des § 233a AO beschränkt sind.
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2.3.1. Nach Auffassung des BVerfG unterliegt die Rechtfertigung der Benachteiligung durch eine Zinszahlungspflicht von Steuerschuldnern strengen Verhältnismäßigkeitsanforderungen. Es bestehen verschärfte verfassungsrechtliche Implikationen, je weniger die Merkmale, an die die gesetzliche Differenzierung anknüpft, für Einzelne verfügbar sind oder je mehr sie sich denen des Art. 3 Abs. 3 GG annähern (BVerfG-Beschluss vom 8. Juli 2021 – 1 BvR 2237/14, BVerfGE 158, 282, Rn. 111).
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Auch wenn der Gleichheitssatz dem Steuergesetzgeber sowohl bei der Auswahl des Steuergegenstands als auch bei der Bestimmung des Steuersatzes einen weit reichenden Entscheidungsspielraum einräumt, gilt dies bei der Auswahl des Zinsgegenstands und der Bestimmung des Zinssatzes nicht in gleicher Weise. Steuerliche Nebenleistungen, die die Einzelnen zu einer weiteren Finanzleistung heranziehen, bedürfen zur Wahrung der Belastungsgleichheit eines über den Zweck der Einnahmeerzielung hinausgehenden, besonderen sachlichen Rechtfertigungsgrundes, der eine deutliche Unterscheidung gegenüber der Steuer ermöglicht. Dabei können neben den Zwecken des Vorteilsausgleichs und der Kostendeckung auch Zwecke der Verhaltenslenkung die Bemessung einer steuerlichen Nebenleistung rechtfertigen (BVerfG-Beschluss vom 8. Juli 2021 – 1 BvR 2237/14, BVerfGE 158, 282, Rn. 113).
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Zwar betont das BVerfG, dass der Gesetzgeber bei der Auswahl des Zinsgegenstands und der Bemessung des Zinssatzes typisierende Regelungen treffen und sich dabei in erheblichem Umfang von Praktikabilitätserwägungen mit dem Ziel der Einfachheit der Zinsfestsetzung und -erhebung leiten lassen kann. Begrenzt wird der Spielraum allerdings dadurch, dass die von ihm geschaffenen Zinsregelungen grundsätzlich in der Lage sein müssen, den mit ihnen verfolgten Belastungsgrund realitätsgerecht abzubilden (BVerfG-Beschluss vom 8. Juli 2021 – 1 BvR 2237/14, BVerfGE 158, 282, Rn. 115).
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2.3.2. Das BVerfG sieht weiter die verfassungsrechtliche Rechtfertigung für die Vollverzinsung nach § 233a AO in der Zulässigkeit der Abschöpfung von potentiellen Liquiditätsvorteilen aus der verzögerten Steuerfestsetzung sowie im Ausgleich eines Zinsnachteils des Fiskus, der den noch nicht gezahlten Steuerbetrag nicht anderweitig nutzen kann (BVerfG-Beschluss vom 8. Juli 2021 – 1 BvR 2237/14, BVerfGE 158, 282, Rn. 126 f.).
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Soweit das BVerfG ab dem Verzinsungszeitraum 2014 davon ausgeht, dass der Zinssatz von monatlich 0,5% den durch eine späte Steuerfestsetzung entstehenden Zinsvorteil jedoch nicht mehr hinreichend abbildet, wird dies darauf gestützt, dass mit einem – gegenüber dem monatlich 0,5%-igen Zinssatz – niedrigeren Zinssatz ein mindestens gleich geeignetes und milderes Mittel zur Erreichung des Differenzierungszwecks zur Verfügung steht (BVerfG-Beschluss vom 8. Juli 2021 – 1 BvR 2237/14, BVerfGE 158, 282, Rn. 141).
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Auch wenn der Gesetzgeber dem Grunde nach berechtigt ist, den durch eine späte Steuerfestsetzung erzielten Zinsvorteil der Steuerpflichtigen zum Zwecke der Verwaltungsvereinfachung typisierend zu bestimmen, muss sich dieser im Rahmen einer Typisierung grundsätzlich am Regelfall orientieren. Ferner muss nicht allen Besonderheiten jeweils durch Sonderregelungen Rechnung getragen werde. Der Gesetzgeber darf aber keinen atypischen Fall als Leitbild wählen, sondern muss bei seiner Maßstabsbildung realitätsgerecht den typischen Fall zugrunde legen. Die durch die Typisierung eintretenden Härten und Ungerechtigkeiten dürfen nur eine verhältnismäßig kleine Zahl von Personen betreffen. Darüber hinaus dürfe das Ausmaß der Ungleichbehandlung nicht sehr intensiv sein. Wesentlich ist ferner, ob die Härten nur unter Schwierigkeiten vermeidbar sind. Die aus der Typisierung erwachsenden Vorteile müssen also im rechten Verhältnis zu der damit notwendig verbundenen Ungleichheit stehen (BVerfG-Beschluss vom 8. Juli 2021 – 1 BvR 2237/14, BVerfGE 158, 282, Rn. 150).
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Ausdrücklich weist das BVerfG darauf hin, dass typisierende Zinsregelungen in der Lage sein müssen, ihren Erhebungszweck hinreichend und damit realitätsgerecht abzubilden. Werden Zinsen als steuerliche Nebenleistungen allein zum Zweck des Vorteilsausgleichs erhoben, bedeute dies, dass die Differenzierung nach Maßgabe des Vorteils vorgenommen werden müsse, dessen Nutzungsmöglichkeit mit dem Zins abgegolten werden soll (BVerfG-Beschluss vom 8. Juli 2021 – 1 BvR 2237/14, BVerfGE 158, 282, Rn. 151).
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2.3.3. So ist die typisierende Festlegung des Zinssatzes trotz grundsätzlicher Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers nicht mehr zu rechtfertigen, wenn dieser Zinssatz unter veränderten tatsächlichen Bedingungen oder angesichts einer veränderten Erkenntnislage weder durch die maßstabsbildend zugrunde gelegten noch durch sonstige geeignete Kriterien getragen ist. Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn er sich im Laufe der Zeit als evident realitätsfern erweist (BVerfG-Beschluss vom 8. Juli 2021 – 1 BvR 2237/14, BVerfGE 158, 282, Rn. 200).
42
Das BVerfG stellte fest, dass sich nach Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2008 die wirtschaftlichen Verhältnisse einschneidend geändert haben. Es hat sich ein strukturelles Niedrigzinsniveau entwickelt, das nicht mehr Ausdruck üblicher Zinsschwankungen ist. Der typisierte Zinssatz hat sich damit mehr und mehr von dem potentiell erzielbaren Liquiditätsvorteil entfernt und entfaltet spätestens für in das Jahr 2014 fallende Verzinsungszeiträume im Regelfall überschießende Wirkung (BVerfG-Beschluss vom 8. Juli 2021 – 1 BvR 2237/14, BVerfGE 158, 282, Rn. 204).
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2.3.4. Bei der verfassungsrechtlichen Prüfung des BVerfG war auch zu berücksichtigen, dass eine Ungleichbehandlung nur dann verhältnismäßig im engeren Sinne ist, wenn das Maß der Ungleichbehandlung in einem angemessenen Verhältnis zur Bedeutung des mit der Differenzierung verfolgten Ziels und zu dem Ausmaß und Grad der durch die Ungleichbehandlung bewirkten Zielerreichung steht. Handelt es sich um typisierende Regelungen, darf das Ausmaß der durch sie verursachten Ungleichbehandlung nicht sehr intensiv sein. Wesentlich ist ferner, ob die Härten nur unter Schwierigkeiten vermeidbar wären; hierfür sind auch praktische Erfordernisse der Verwaltung von Gewicht. Die aus der Typisierung erwachsenden Vorteile müssen im rechten Verhältnis zu der damit notwendig verbundenen Ungleichheit stehen (BVerfG-Beschluss vom 8. Juli 2021 – 1 BvR 2237/14, BVerfGE 158, 282, Rn. 222).
44
2.4. Auch in der Rechtsprechung des BFH finden sich für den Streitfall erhebliche Maßstäbe zur verfassungsrechtlichen Prüfung der Angemessenheit der Verzinsung von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis nach § 237 AO.
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2.4.1. So sieht der IX. Senat des BFH im Urteil vom 1. Juli 2014 (IX R 31/13, BFHE 246, 193, BStBl II 2014, 925) den Sinn und Zweck der in § 237 AO enthaltenen gesetzlichen Regelung der Verzinsungspflicht darin, den Nutzungsvorteil wenigstens zum Teil abzuschöpfen, den der Steuerpflichtige dadurch erhält, dass er während der Dauer der Aussetzung über eine Geldsumme verfügen kann, die nach dem im angefochtenen Steuerbescheid konkretisierten materiellen Recht „an sich“ dem Steuergläubiger zusteht. Das Gesetz zielt auf einen gerechten Ausgleich zwischen den Zinsvorteilen des Steuerpflichtigen und dem Zinsverlust des Steuergläubigers ab. Die Aussetzungszinsen haben den Zweck, dem Steuergläubiger den Nutzungsvorteil zuzuwenden, der ihm für einen nach dem materiellen Steuergesetz geschuldeten Betrag gebührt.
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Die Ermittlung eines konkreten Zinsvorteils oder -nachteils ist für den konkreten Einzelfall regelmäßig nicht möglich, weil es von subjektiven Entscheidungen des Steuerpflichtigen abhängt, in welcher Weise er Steuernachzahlungen finanziert oder das noch nicht zu Steuerzahlungen benötigte Kapital verwendet. Bei einem Vergleich mit dem Zinssatz des § 238 Abs. 1 Satz 1 AO sind aus Sicht des BFH daher sowohl der Anlagezinssatz (Verwendung von Kapital) als auch der Darlehenszinssatz (Finanzierung von Steuernachzahlungen) einzubeziehen (BFH-Urteil vom 1. Juli 2014 IX R 31/13, BFHE 246, 193, BStBl II 2014, 925). Der BFH weist ferner darauf hin, dass – nach der damaligen Rechtslage – der gesetzliche Zinssatz sowohl zugunsten als auch zulasten des Steuerpflichtigen galt.
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In der Entscheidung vom 1. Juli 2014 (IX R 31/13, BFHE 246, 193, BStBl II 2014, 925) ging der IX. Senat des BFH zwar von der Verfassungsmäßigkeit der Höhe der Aussetzungszinsen (§ 237 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 238 Abs. 1 Satz 1 AO) für den Verzinsungszeitraum 11. November 2004 bis 21. März 2011 aus. Gleichzeitig stellte er aber auch fest, dass sich das Marktzinsniveau nach dem streitgegenständlichen Verzinsungszeitraum dauerhaft auf relativ niedrigem Niveau stabilisiert hatte, und verwies auf die von Verfassungs wegen gebotene Überprüfungspflicht der Angemessenheit des gesetzlichen Zinssatzes.
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2.4.2. Tatsächlich gewährte der VIII. Senat des BFH in der Vergangenheit (Beschlüsse vom 3. September 2018 VIII B 15/18, BFH/NV 2018, 1279; vom 4. Juli 2019 VIII B 128/18, BFH/NV 2019, 1060) für Festsetzungen von Zinsen nach § 237 AO für Streitzeiträume ab 2012 wegen Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Höhe des in § 238 Abs. 1 Satz 1 AO gesetzlich festgelegten Zinssatzes von monatlich 0,5 Prozent Aussetzung der Vollziehung. Er bezog sich dabei auf die Ausführungen im Beschluss des IX. Senats des BFH vom 25. April 2018 (IX B 21/18, BFHE 260, 431, BStBl II 2018, 415) zur Festsetzung von Nachzahlungszinsen gemäß § 233a AO.
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Die Entscheidung wurde dabei u.a. darauf gestützt, dass der Telos der Verzinsung (Abschöpfung des Nutzungsvorteils) die gesetzliche Zinshöhe nicht rechtfertige, weil für den Steuerpflichtigen die Möglichkeit, die zu zahlenden Zinsen durch Anlage der nicht gezahlten Steuerbeträge oder durch die Ersparnis von Aufwendungen auch tatsächlich zu erzielen, wegen der strukturellen Niedrigzinsphase im typischen Fall für den in Rede stehenden Zeitraum nahezu ausgeschlossen gewesen sei. Auch sei ein potentieller Zinsnachteil des Fiskus, der den nicht gezahlten Steuerbetrag nicht anderweitig nutzen könne, angesichts des sehr niedrige und teilweise sogar negative Zinssätze ausweisenden Refinanzierungsniveaus am Kapitalmarkt nahezu ausgeschlossen.
50
2.5. Ausgehend von diesen verfassungsrechtlichen und höchstrichterlichen Grundsätzen bestehen nach Auffassung des Senats ernstliche rechtlich Zweifel an der Bemessung der Aussetzungszinsen (§ 237 AO) nach Maßgabe des Zinssatzes des § 238 Abs. 1 Satz 1 AO i.H.v. 0,5 Prozent je Monat (ebenso u.a. Rüsken in Klein, AO, 17 Aufl. 2023, § 238 Rn. 11; von Streit/Streit DStR 2022, 2081, Seer, DB 2014, 1945 ff.; Hey, FR 2016, 485 ff., Gosch, BFH/PR 2013, 56; a.A. Finanzgericht Münster, Urteil vom 8. März 2023 – 6 K 2094/22 E, EFG 2023, 737, Revision anhängig unter VIII R 9/23; Finanzgericht Münster, Beschluss vom 10. Februar 2023 – 3 V 2464/22, EFG 2023, 670; Finanzgericht München, Urteil vom 7. September 2022 – 15 K 358/22, juris; Finanzgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 11. Mai 2023 – 1 K 180/22, EFG 2023, 1273; ferner auch Koenig/Koenig, AO, 5. Aufl. 2024, § 238 Rn. 3).
51
2.5.1. Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der unveränderten Fortgeltung des geltenden Zinssatzes im Rahmen der Festsetzung von Zinsen nach § 237 AO kann nach Auffassung des Senats nicht bereits darauf gestützt werden, dass das BVerfG (Beschluss vom 8. Juli 2021 – 1 BvR 2237/14, BVerfGE 158, 282, Rn. 243) von der Erstreckung der Unvereinbarkeitserklärung auf die anderen Verzinsungstatbestände nach der Abgabenordnung, namentlich auf Stundungs-, Hinterziehungs- und Aussetzungszinsen nach den §§ 234, 235 und 237 AO, absah (a.A. Finanzgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 11. Mai 2023 – 1 K 180/22, EFG 2023, 1273).
52
Darin ist keine inhaltliche verfassungsrechtliche Prüfung der Verzinsung nach § 237 AO zu sehen, da die Bezugnahme auf die weiteren Verzinsungstatbestände erkennbar lediglich im Rahmen der Entscheidung über Reichweite des Unvereinbarkeitsausspruchs nach § 78 Satz 2 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) erfolgte (ebenso von Streit/Streit DStR 2023, 2081). In diesem Zusammenhang betonte das BVerfG ausdrücklich, dass die Teilverzinsungstatbestände (u.a. § 237 AO) einer eigenständigen verfassungsrechtlichen Wertung bedürfen (BVerfG-Beschluss vom 8. Juli 2021 – 1 BvR 2237/14, BVerfGE 158, 282, Rn. 243).
53
Soweit in diesem Zusammenhang auf die Unterschiede der weiteren Verzinsungstatbestände zu § 233a AO verwiesen wurde (lediglich Verzinsungen für bestimmte, konkret umschriebene Liquiditätsvorteile der Steuerpflichtigen; Verzinsung in der Regel erst nach Fälligkeit; Entstehung von Zinsen in Verbindung mit einem Antrag des Steuerpflichtigen), wurden lediglich besondere verfassungsrechtlich relevante Aspekt für eine im Einzelnen noch durchzuführende eigenständige Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Teilverzinsungstatbestände aufgezeigt. Eine verfassungsgerichtliche Prüfung der Verzinsung nach § 237 AO im wirtschaftlichen Umfeld eines strukturellen Niedrigzinsniveau erfolgte bisher nicht.
54
2.5.2. Verfassungsrechtliche Zweifel an der Höhe der Aussetzungszinsen nach § 237 AO ergeben sich aus der Sicht des Senats zunächst daraus, dass der Gesetzgeber im Zusammenhang mit den einzelnen Verzinsungstatbeständen nach §§ 233 ff. AO vom Regelungskonzept einer einheitlichen und typisierten Ermittlung eines Zinsvorteils ausgeht und nicht darauf abzielt, einen individuellen Liquiditätsausgleich vorzunehmen. Es soll der potentielle, in typisierter Weise ermittelte Liquiditätsvorteil und nicht der tatsächliche abgeschöpft werden. Das Prinzip des typisierten Vorteilsausgleichs ist damit als den Verzinsungsregelungen nach §§ 233 ff. AO wesensimmanent anzusehen. Dies legt nahe, dass die Folgerungen aus der Feststellung des BVerfG, wonach sich ab 2008 ein strukturelles Niedrigzinsniveau entwickelte, das nicht mehr Ausdruck üblicher Zinsschwankungen war, grundsätzlich nicht nur auf die Verzinsung nach § 233a AO begrenzt bleiben können. Soweit sich der typisierte Zinssatz von 6 Prozent p.a. mehr und mehr von dem typisiert ermittelten potentiellen Liquiditätsvorteil entfernt und dadurch überschießende Wirkung entfaltet, scheint das in Art. 3 Abs. 1 GG verankerte Gebot der Folgerichtigkeit in maßgeblicher Weise betroffen.
55
2.5.2.1. Nach der Rechtsprechung des BVerfG (Beschluss vom 7. Juli 2010 – 2 BvL 14/02, BVerfGE 127, 1, BStBl II 2011, 76) muss bei der Ausgestaltung des steuerlichen Ausgangstatbestands die einmal getroffene Belastungsentscheidung folgerichtig im Sinne der Belastungsgleichheit umgesetzt werden (Gebot der Folgerichtigkeit). Ausnahmen von einer solchen folgerichtigen Umsetzung bedürfen eines besonderen sachlichen Grundes.
56
Hinsichtlich der Belastungsentscheidung im Rahmen der Verzinsung von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis stellte das BVerfG (Beschluss vom 3. September 2009 1 BvR 2539/07, BFH/NV 2009, 2115) fest, dass der Gesetzgeber ursprünglich in verfassungsrechtlich zulässiger Weise im Interesse der Praktikabilität und der Verwaltungsvereinfachung den auszugleichenden Zinsvorteil und -nachteil typisierend auf 0,5 Prozent pro Monat festsetzen konnte. Denn in vielen Fällen ist eine konkrete Ermittlung des Zinsvorteils bzw. -nachteils gar nicht möglich, weil es von subjektiven Entscheidungen des Steuerpflichtigen abhängt, in welcher Weise er Steuernachzahlungen finanziert oder das noch nicht zu Steuerzahlungen benötigte Kapital verwendet.
57
An dem verfassungsgerichtlich gebilligten Prinzip der typisierenden Ermittlung des Liquiditätsvorteils des Steuerpflichtigen bzw. des Zinsnachteils des Steuergläubigers hat sich grundsätzlich auch durch die Einfügung der Sonderregelung des § 238 Abs. 1a AO für Verzinsungen nach § 233a AO durch das Zweite Gesetz zur Änderung der Abgabenordnung und des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung vom 12. Juli 2022 (BGBl I 2022, 1142) nichts geändert. Der Gesetzgeber stellt weiterhin nicht auf den individuellen Liquiditätsvorteil ab, was u.a. dadurch deutlich wird, dass dem Steuerpflichtigen weiterhin keine Nachweismöglichkeit für einen von § 238 Abs. 1 Satz 1 AO abweichenden Zinsvorteil eingeräumt wird.
58
Das Festhalten am Regelungskonzept der Typisierung des Zinssatzes und der typisierten Ermittlung des Liquiditätsvorteils legt es nahe, dass auch im Zusammenhang mit der Verzinsung nach § 237 AO eine Anpassung des derzeit geltenden, typisierend bestimmten Zinssatzes im Raum steht. Dies gilt u.a. insofern, als typisierende Zinsregelungen in der Lage sein müssen, ihren Erhebungszweck hinreichend und damit realitätsgerecht abzubilden und die Differenzierung nach Maßgabe des Vorteils vorgenommen werden muss, dessen Nutzungsmöglichkeit mit dem Zins abgegolten werden soll (BVerfG-Beschluss vom 8. Juli 2021 – 1 BvR 2237/14, BVerfGE 158, 282, Rn. 151). In diesem Fall ist maßgeblich, dass die typisierende Festlegung des Zinssatzes trotz grundsätzlicher Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers dann nicht mehr zu rechtfertigen ist, wenn dieser Zinssatz unter veränderten tatsächlichen Bedingungen oder angesichts einer veränderten Erkenntnislage weder durch die maßstabsbildend zugrunde gelegten noch durch sonstige geeignete Kriterien getragen ist (BVerfG-Beschluss vom 8. Juli 2021 – 1 BvR 2237/14, BVerfGE 158, 282, Rn. 199).
59
Das verfassungsrechtliche Gebot einer folgerichtigen Umsetzung einer einmal getroffenen Belastungsentscheidung nach Art. 3 Abs. 1 GG (hier: Abschöpfung eines typisierten Liquiditätsvorteils) lässt es daher folgerichtig erscheinen, dass die Entwicklung eines strukturellen Niedrigzinsniveau auch im Zusammenhang mit einer Verzinsung nach § 237 AO zu einer Zinssatzanpassung führen muss, um die Liquiditätsvorteils regelungskonform abzubilden.
60
2.5.2.2. Vor dem Hintergrund des Regelungskonzepts der typisierten Verzinsung von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis nach §§ 233 ff. AO stellt sich auch der Verweis auf die Möglichkeit des Steuerpflichtigen, zur Vermeidung einer Zinspflicht bei Aussetzung der Vollziehung die streitige Steuerfestsetzung mit Eigenmitteln tilgen zu können, als ungeeignet dar, die derzeit gültige Verzinsung in Aussetzungsfällen verfassungsrechtlich zu rechtfertigen.
61
Tatsächlich bewirkt ein deutlich über dem Zinsniveau liegender Zinssatz, dass regelmäßig nur Steuerpflichtige eine Aussetzung der Vollziehung anstreben, die den streitigen Steuerbetrag nur über einen über § 238 Abs. 1 Satz 1 AO liegenden Zinssatz finanzieren können. Eine hierauf gestützte Rechtfertigung der geltenden Verzinsung von Aussetzungen der Vollziehung entfernt sich aber von der im Gesetz bestimmten typisierten Ermittlung des Liquiditätsvorteils und zielt auf die Abschöpfung von Vorteilen bei Steuerpflichtigen mit Finanzierungsschwierigkeiten ab. Denn Steuerpflichtige, die über hinreichende Eigenmittel verfügen bzw. die Möglichkeit des Abschlusses eines zinsgünstigen Darlehens haben, dürften angesichts des deutlich über dem Marktniveau liegenden Zinssatzes nach § 238 Abs. 1 Satz 1 AO regelmäßig davon Abstand nehmen, eine Aussetzung der Vollziehung anzustreben. Der Zinssatz droht so nur bei Steuerpflichtige mit Liquiditätsprobleme zur Anwendung zu kommen. Damit mutiert die Aussetzung der Vollziehung zu einer besonderen Stundungsregelung bei rechtlich zweifelhaften Verwaltungsakten, da sie lediglich bei Zahlungsschwierigkeiten wirtschaftlich Sinnhaftigkeit erlangt. Dies deutet darauf hin, dass durch die Beibehaltung des bisherigen Zinssatzes in Zeiten eines strukturellen Niedrigzinsniveaus das Regelungsziel der Abschöpfung eines typisierten Liquiditätsvorteils nicht mehr erreicht wird. Denn es bleibt insoweit auch völlig außer Acht, dass der Zinsnachteil des Steuergläubigers (Bund, Länder) aus der Refinanzierung ausgesetzter Steuern aufgrund des strukturellen Niedrigzinsniveaus deutlich unter dem Zinssatz des § 238 Abs. 1 Satz 1 AO lag.
62
2.5.2.3. Auch scheint ein deutlich oberhalb des allgemeinen Zinsniveaus liegender Zinssatz bei einer typisierten Abschöpfung von Liquiditätsvorteilen im Zusammenhang mit der Verhältnismäßigkeitsprüfung der Verzinsung unter den Aspekten der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne überschießende Tendenzen zu entfalten. Da nach Auffassung des BVerfG die Rechtfertigung der Benachteiligungen durch eine Zinszahlungspflicht von Steuerschuldnern strengen Verhältnismäßigkeitsanforderungen unterliegt (vgl. BVerfG-Beschluss vom 8. Juli 2021 – 1 BvR 2237/14, BVerfGE 158, 282, Rn. 111) kann ein Berufen auf einen weitreichenden Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers und eine lediglich bestehende Willkürkontrolle nur schwer zur Rechtfertigung des geltenden Zinssatzes herangezogen werden.
63
2.5.3. Ebenso lassen die tatsächlichen Unterschiede, die zur Festsetzung von Aussetzungszinsen nach § 237 AO führen, bei summarischer Prüfung nach Auffassung des Senats nicht zweifelsfrei den Schluss zu, dass eine Beibehaltung der bisherigen Verzinsung in Aussetzungsfällen mit 0,5 Prozent je Monat bei gleichzeitiger Herabsetzung des Zinssatzes für Verzinsungen nach § 233a AO nach Maßgabe des Art. 3 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden können (a.A. FG München, Urteil vom 7. September 2022 – 15 K 358/22, juris; Finanzgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 11. Mai 2023 – 1 K 180/22, EFG 2023, 1273).
64
2.5.3.1. Ausgehend vom Regelungskonzept der Verzinsung nach §§ 233 ff. AO, typisierend potentielle Liquiditätsvorteile abzuschöpfen, liegt es nahe, als Vergleichsgruppe zur Beurteilung der jeweiligen steuerlichen Auswirkungen zunächst Steuerpflichtige heranzuziehen, die trotz Vorliegens der Voraussetzungen des § 361 AO bzw. § 69 FGO die strittigen Steuerfestsetzungen beglichen haben, deren Rechtsbehelf jedoch gleichfalls erfolglos blieb. Insoweit steht aufgrund des nicht marktüblichen Zinssatzes i.H.v. 6 Prozent p.a. in Zeiten des ab 2014 festgestellten strukturelles Niedrigzinsniveau im geltenden System der Abschöpfung eines typisierten Liquiditätsvorteils ein Verstoß gegen den Grundsatz der Folgerichtigkeit im Raum (vgl. unter 2.5.2.).
65
Der Umstand, dass eine Verzinsung nach § 237 AO regelmäßig auf einen Antrag des Steuerpflichtigen zurückgeht, kann aus Sicht des Senats diese über das allgemeine Zinsniveau hinausgehende Verzinsung in Aussetzungsfällen verfassungsrechtlich nicht ohne weiteres legitimieren (a.A. FG Münster, Urteil vom 8. März 2023 – 6 K 2094/22 E, EFG 2023, 737, Revision anhängig unter VIII R 9/23).
66
Zwar stellte das BVerfG bei seiner verfassungsrechtlichen Prüfung des § 233a i.V.m. § 238 Abs. 1 Satz 1 AO (Beschluss vom 8. Juli 2021 – 1 BvR 2237/14, BVerfGE 158, 282, Rn. 118) maßgeblich darauf ab, dass der Zeitpunkt der Steuerfestsetzung und damit das Überschreiten der Karenzzeit, an das der Gesetzgeber für die Differenzierung einer Zinspflicht nach § 233a AO anknüpft, für die einzelnen Steuerpflichtigen weitestgehend nicht verfügbar ist. Hieraus folgt jedoch nicht zwangsläufig, dass bei Verzinsungstatbeständen, die auf einem Antrag des Steuerpflichtigen beruhen, die Höhe der Verzinsung uneingeschränkt zur Disposition des Steuerpflichtigen steht und damit verfassungsrechtlich generell eine höhere Verzinsung zulässig wäre.
67
Denn der Verweis auf den Aussetzungsantrag als Rechtfertigung für eine höhere Verzinsung in Fällen des § 237 AO erscheint – unabhängig vom Umstand, dass eine Aussetzung der Vollziehung auch von Amts wegen verfügt werden kann (§ 361 Abs. 2 Satz 1 AO; § 69 Abs. 2 Satz 1 FGO) – deshalb verfassungsrechtlich zweifelhaft, da die Dauer einer Aussetzung der Vollziehung und damit der Verzinsungszeitraum nur begrenzt beeinflusst werden können. Denn insoweit besteht eine Abhängigkeit von der Dauer des Hauptsacheverfahrens (Einspruch, Klage) und damit von der Entscheidungsfindung durch die Finanzbehörden und Finanzgerichte. Dies wird im Streitfall dadurch deutlich, dass der Verzinsungszeitraum sich über einen Zeitraum von mehr als 10 Jahren erstreckt (28. Dezember 2012 bis 27. April 2023). Vor diesem Hintergrund erscheint ein Abstand des Zinssatzes von 1,8 Prozent p.a. (§ 238 Abs. 1a AO) zu 6 Prozent p.a. (§ 238 Abs. 1 Satz 1 AO) in verfassungsrechtlich relevanter Weise fragwürdig.
68
2.5.3.2. Auch führt das ab 2019 geltende System der Verzinsung von ausgesetzten Steueransprüchen im Vergleich zur Verzinsung von Erstattungsansprüchen zu Verwerfungen, die bei summarischer Prüfung eine verfassungsrechtliche Dimension im Hinblick auf Art. 3 Abs. 1 GG beinhalten.
69
Denn während bei einer Aussetzung der Vollziehung für den gesamten Aussetzungszeitraum ein Zinssatz von 6 Prozent p.a. zur Anwendung kommt, kann dieser Zinssatz bei der Vergleichsgruppe, die vorgreiflich die streitige Steuerschuld tilgt (bzw. vorgreiflich eine strittige Steuervergütung rückerstattet), erst ab dem Zeitpunkt der gerichtlichen Rechtshängigkeit eines hiergegen gerichteten Verfahrens im Rahmen der Festsetzung von Prozesszinsen (§ 236 Abs. 1 Satz 1 AO) geltend gemacht werden. Für die Dauer der Anhängigkeit des außergerichtlichen Rechtsbehelfs kommt allenfalls eine Verzinsung nach § 233a AO mit einem Zinssatz von 1,8 Prozent p.a. (§ 238 Abs. 1a AO) in Betracht, wobei eine solche Verzinsung auf Steuervergütungen nach dem InvZulG nicht zur Anwendung kommt (vgl. BFH-Urteil vom 23. Februar 2006 III R 66/03, BFHE 212, 386, BStBl II 2006, 741).
70
Zumal aus Sicht des BVerfG bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung auch bedeutsam sein soll, ob der Zinssatz gleichermaßen zugunsten wie zulasten des Steuerpflichtigen wirkt (Beschluss vom 3. September 2009 1 BvR 2539/07, BFH/NV 2009, 2115, Rn. 23), lässt der mangelnde Gleichlauf der Verzinsung ab 2019 den Zinssatz für Aussetzungen nach § 237 AO verfassungsrechtlich zweifelhaft erscheinen.
71
2.5.3.3. Aus Sicht des Senats kann ein über dem allgemeinen Zinsniveau liegender Zinssatz nicht durch Verweis auf den Zweck, unnötige Prozesse vermeiden zu wollen, gerechtfertigt werden (ebenso von Streit/Streit, DStR 2023, 2081; a.A. Finanzgericht Münster, Beschluss vom 10. Februar 2023 – 3 V 2464/22, EFG 2023, 670).
72
Denn es ist nicht erkennbar, wie ein über dem Marktniveau liegender Zinssatz für Aussetzungen zur Vermeidung von Prozessen beitragen sollte. Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes verfolgen ein gegenüber dem Hauptsacheverfahren unterschiedliches Rechtsschutzziel. Prozesse sind nicht von der Durchführung von Aussetzungsverfahren nach § 361 AO bzw. 69 FGO abhängig.
73
2.5.4. Daneben scheint der Verweis auf die Möglichkeit des Steuerpflichtigen, zur Vermeidung einer Zinspflicht bei Aussetzung der Vollziehung die streitige Steuerfestsetzung mit Eigenmitteln tilgen zu können, vor dem Hintergrund des Grundrechts auf effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG (BVerfG-Beschluss vom 21. Mai 2024 – 2 BvR 1694/23, juris) verfassungsrechtlich zweifelhaft (a.A. FG Münster, Beschluss vom 10. Februar 2023 – 3 V 2464/22, EFG 2023, 670).
74
Denn durch die Bestimmung überhöhter nicht markkonformer Zinssätze in Aussetzungsfällen, werden zusätzliche gesetzliche Beschränkungen geschaffen, die die Inanspruchnahme einstweiligen Rechtsschutzes konterkarieren, obwohl Anträge nach § 361 AO bzw. § 69 FGO, die die Zahlung berechtigter Steuerforderungen lediglich verzögern sollen, bereits dadurch unterbunden werden, dass eine Aussetzung der Vollziehung regelmäßig ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts voraussetzt. Von vorherein aussichtslose Aussetzungsanträge bei Gericht (§ 69 Abs. 3 FGO) werden bereits durch deren Kostenpflicht reguliert (vgl. Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 Gerichtskostengesetz (GKG) – Kostenverzeichnis, Teil 6 Hauptabschnitt 2).
75
2.5.5. Soweit nach Auffassung des VII. Senats des BFH (Urteile vom 23. August 2022 VII R 21/21; BFHE 278, 1, BStBl II 2023, 304; vom 15. November 2022 VII R 55/20; BFHE 278, 403, BStBl II 2023, 621) auch bei dem ab 2014 festgestellten strukturellen Niedrigzinsniveau keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Höhe des Säumniszuschlags nach § 240 Abs. 1 Satz 1 AO bestehen und auch keine ernstlichen Zweifel für Zeiträume nach dem 31. Dezember 2018 vorliegen (vgl. BFH-Beschluss vom 16. Oktober 2023 V B 49/22, BFHE 281, 509, BStBl II 2024, 97), ergibt sich hieraus nach Auffassung des Senats keine andere Beurteilung, da diese steuerliche Nebenleistung nicht nur der Abschöpfung potentieller Liquiditätsvorteile dient, sondern in erster Linie ein Druckmittel eigener Art zur Durchsetzung fälliger Steuern darstellt und primär eine pönale Funktion erfüllt. Die Abschöpfung von Liquiditätsvorteilen ist nur Nebenzweck der Regelung und der Zinscharakter sekundär (BFH-Urteil vom 15. November 2022 VII R 55/20, BFHE 278, 403, BStBl II 2023, 621).
76
2.5.6. Ernstliche verfassungsrechtliche Zweifel bestehen hinsichtlich der Aussetzungsverzinsung nach § 237 AO nur für Verzinsungszeiträume ab 2019.
77
Zwar wurde ein Verfassungsverstoß für die Verzinsung nach § 233a i.V.m. § 238 Abs. 1 Satz 1 AO ab 2014 festgestellt, da ab diesem Zeitpunkt der Zinssatz evident nicht mehr in der Lage war, den Erhebungszweck der Nachzahlungszinsen realitätsgerecht abzubilden, und damit in dieser Höhe nicht mehr zur Förderung des Gesetzeszwecks erforderlich war (BVerfG-Beschluss vom 8. Juli 2021 – 1 BvR 2237/14, BVerfGE 158, 282, Rn. 203). Jedoch erfolgte lediglich eine Unvereinbarkeitserklärung der Vorschriften mit dem Grundgesetz ab 2014 (BVerfG-Beschluss vom 8. Juli 2021 – 1 BvR 2237/14, BVerfGE 158, 282, Rn. 238). Es wurde die Fortgeltung der Rechtslage für Verzinsungszeiträume vom 1. Januar 2014 bis zum 31. Dezember 2018 angeordnet, ohne dass der Gesetzgeber verpflichtet wäre, auch für diesen Zeitraum rückwirkend eine verfassungsgemäße Regelung zu schaffen (BVerfG-Beschluss vom 8. Juli 2021 – 1 BvR 2237/14, BVerfGE 158, 282, Rn. 249).
78
Hierauf aufbauend ist davon auszugehen, dass auch bei Feststellung eines Verfassungsverstoßes hinsichtlich der Verzinsung nach § 237 AO für Zeiträume ab 2014 aufgrund haushaltswirtschaftlicher Unsicherheiten eine Fortgeltung jedenfalls bis 31. Dezember 2018 angeordnet werden würde.
79
Ungeachtet des Umstands, dass sich ab 2022 die Zinsentwicklung sich wieder gegenläufig darstellt, gibt es aus Sicht des Senats keine Veranlassung davon auszugehen, dass im Verzinsungszeitraum ab Januar 2019 bis April 2023 der Zinssatz zur Ermittlung von Aussetzungszinsen wieder unzweifelhaft den verfassungsrechtlichen Vorgaben entspricht. Hiervon kann u.a. deshalb nicht ohne weiteres ausgegangen werden, da die ab 2019 geltende Verzinsung in Fällen des § 233a AO weiterhin auf der Grundlage eines Jahreszinssatzes von 1,8 Prozent (§ 238 Abs. 1a AO) erfolgt. Aufgrund des möglicherweise verfassungsrechtlich gebotenen Gleichlaufs des Zinssatzes zur Ermittlung eines typisierten Liquiditätsvorteils in Fällen der Verzinsung nach § 233a und § 237 AO, könnte der in § 238 Abs. 1a AO bestimmte Zinssatz auch für Verzinsungsmonate bis April 2023 geboten sein.
80
2.6. Eine weitergehende Aussetzung aufgrund einer unbilligen Härte der Vollziehung des streitgegenständlichen Zinsbescheids ist vorliegend nicht veranlasst. Insoweit wurde von der Antragstellerin weder substantiiert entscheidungserhebliche Umstände dargelegt, noch sind solche nach Aktenlage erkennbar.
81
3. Bei der Ermittlung der nach Maßgabe der Entscheidung im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes auszusetzenden Zinsen nach § 237 AO für den Zeitraum Januar 2019 bis April 2023 wird der ab 1. Januar 2019 für Zinsen nach § 233a AO anwendbare Zinssatz von 0,15 Prozent je Monat (§ 238 Abs. 1a AO) zugrunde gelegt, da auch bei einer verfassungsrechtlich gebotenen Neuregelung der Verzinsung in Aussetzungsfällen nicht davon ausgegangen werden kann, dass von einer Verzinsung nach § 237 AO vollständig Abstand genommen werden würde, sondern eine Angleichung an den Zinssatz nach § 238 Abs. 1a AO naheliegend ist. Der demnach auszusetzende Zinsbetrag i.H.v. … € (gerundet – vgl. § 239 Abs. 2 AO) basiert auf folgender Berechnung:
82
4. Der Aussetzung der Vollziehung nach § 69 Abs. 3 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 FGO steht kein vorrangiges öffentliches Vollzugsinteresse der geltenden Rechtslage entgegen (a.A. FG Münster, Beschluss vom 10. Februar 2023 – 3 V 2464/22, EFG 2023, 670).
83
Wegen des Geltungsanspruchs jedes formell verfassungsgemäß zustande gekommenen Gesetzes kommt in Fällen, in denen die ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes auf Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit einer dem Verwaltungsakt zugrunde liegenden Gesetzesvorschrift beruhen, eine Aufhebung der Vollziehung grundsätzlich nur in Betracht, wenn ein besonderes berechtigtes Interesse des Antragstellers an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes vorliegt (ständige Rechtsprechung, so u.a. BFH-Beschluss vom 21. Juli 2016 V B 37/16, BFHE 254, 491, BStBl II 2017, 28).
84
Jedoch dürfen sich die Fachgerichte in Eilverfahren dem Bedürfnis nach wirksamer Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung nicht dadurch entziehen, dass sie überspannte Anforderungen an die Voraussetzungen der Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes stellen (so BVerfG-Beschluss vom 15. August 2002 – 1 BvR 1790/00, NJW 2002, 3691). Das Erfordernis effektiven Rechtsschutzes gebietet, dass gerichtlicher Rechtsschutz namentlich in Eilverfahren so weit wie möglich der Schaffung solcher vollendeten Tatsachen zuvorzukommen hat, die dann, wenn sich die Maßnahme bei endgültiger rechtlicher Prüfung als rechtswidrig erweist, nicht mehr rückgängig gemacht werden können. Daher ist einstweiliger Rechtsschutz zu gewähren, wenn anders dem Antragsteller eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung in seinen Grundrechten droht, die durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann, es sei denn, dass ausnahmsweise überwiegende, besonders gewichtige Gründe entgegenstehen (BVerfG-Beschluss vom 15. August 2002 – 1 BvR 1790/00, NJW 2002, 3691, Rn. 13).
85
Ein solches besonderes Aussetzungsinteresse wird u.a. dann angenommen, wenn das BVerfG eine ähnliche Vorschrift bereits für nichtig erklärt hatte (BFH-Beschluss vom 21. Juli 2016 V B 37/16, BFHE 254, 491, BStBl II 2017, 28, Rn. 29 unter Verweis auf Beschluss vom 15. Dezember 2000 IX B 128/99, BFHE 194, 157, BStBl II 2001, 411).
86
Vorliegend wurde die Nichtigkeit der Regelung des § 238 Abs. 1 Satz 1 AO ab Januar 2019 bereits im Zusammenhang mit § 233a AO festgestellt (BVerfG-Beschluss vom 8. Juli 2021 – 1 BvR 2237/14, BVerfGE 158, 282). Vor diesem Hintergrund war insoweit auch eine Überprüfung der weiteren Verzinsungstatbestände durch den Gesetzgeber veranlasst. Eine konkrete Auseinandersetzung mit dieser Problematik erfolgte bisher offensichtlich nicht (vgl. von Streit/Streit, DStR 2023, 2081 unter II. 2.). Ein berechtigtes Aussetzungsinteresse ergibt sich im Streitfall aus Sicht des Senats aus der grundrechtlichen Relevanz des in anderem Zusammenhang bereits als verfassungswidrig festgestellten Zinssatzes von 0,5 Prozent je Monat (§ 238 Abs. 1 Satz 1 AO) verbunden mit den hierdurch bei der Antragstellerin verursachten erheblichen steuerlichen Auswirkungen.
87
Ein vorrangiges öffentliches Vollzugsinteresse zur Sicherung einer geordneten Haushaltsführung ist aus Sicht des Senats vorliegend nicht erkennbar, da sich die vorliegenden verfassungsrechtlichen Zweifel erst für Verzinsungszeiträume ab Januar 2019 ergeben und die Zinsentwicklung ab dem Jahr 2022 dem Gesetzgeber eine Anpassung der Verzinsung abgabenrechtlicher Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis für die Zukunft offen steht. Somit stellen sich die haushaltsrechtlichen Auswirkungen einer Aussetzung der Vollziehung auch unter Berücksichtigung von Auswirkungen auf vergleichbare Fälle als überschaubar dar.
88
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 FGO.
89
5. Die Beschwerde wird gemäß § 128 Abs. 3 i.V.m. § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO zugelassen.