Titel:
Baugenehmigung für Einfamilienhaus - Einfügen nach der überbaubaren Grundstücksfläche
Normenketten:
BauGB § 34 Abs. 1 S. 1
BauNVO § 23
Leitsätze:
1. Mit dem in § 34 Abs. 1 S. 1 BauGB verwendeten Begriff der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, ist die konkrete Größe der Grundfläche des Vorhabens und auch seine räumliche Lage innerhalb der vorhandenen Bebauung, also der Standort des Vorhabens, gemeint. Zur näheren Konkretisierung kann auf die Begriffsbestimmungen in § 23 BauNVO zur „überbaubaren Grundstücksfläche“ zurückgegriffen werden. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
2. Im Ausnahmefall kann sich ein Vorhaben, das sich nicht in jeder Hinsicht innerhalb des Rahmens hält, noch in seine nähere Umgebung einfügen; Voraussetzung hierfür ist, dass es weder selbst noch infolge einer nicht auszuschließenden Vorbildwirkung geeignet ist, bodenrechtlich beachtliche Spannungen zu begründen oder vorhandene Spannungen zu erhöhen. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Einfügen eines Vorhabens nach der überbaubaren Grundstücksfläche, Faktische Baugrenze, Eigenart der näheren Umgebung, Vorbildwirkung
Vorinstanz:
VG München, Urteil vom 25.05.2022 – M 9 K 20.5369
Fundstelle:
BeckRS 2023, 964
Tenor
I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens. Die Beigeladene trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 20.000 Euro festgesetzt.
Gründe
1
Die Klägerin begehrt die Verpflichtung zur Erteilung einer Baugenehmigung für die Errichtung eines Einfamilienwohnhauses mit zwei PKW-Stellplätzen.
2
Das Baugrundstück wurde aus dem Grundstück FlNr. …12, Gemarkung S…, das mit einem Mehrfamilienhaus bebaut ist, herausgeteilt. Dieses Grundstück wird wie die unmittelbaren Nachbargrundstücke durch die im Norden verlaufende O… Straße erschlossen. Die Gartenbereiche grenzen an die im Süden praktisch parallel verlaufende A… Straße an. Das Baugrundstück stellt einen Teil der ursprünglichen Gartenfläche dar, liegt an der A… Straße und soll von dort erschlossen werden. Die Grundstücksfläche beträgt 268 m², für das Gebäude ist eine Grundfläche von 104 m² vorgesehen.
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Das Landratsamt lehnte mit Bescheid vom 14. September 2020 die beantragte Baugenehmigung ab, da sich das Vorhaben hinsichtlich der überbaubaren Grundstücksfläche und dem Maß der baulichen Nutzung nicht in die nähere Umgebung einfüge. Die dagegen erhobene Klage wies das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 25. Mai 2022 ab. Für den nach § 34 BauGB maßgeblichen Bereich hinsichtlich der überbaubaren Grundstücksfläche komme es auf die Bebauung entlang der Nordseite der A… Straße, Grundstücke FlNr. …15 - …2, an. Die Gebäude befänden sich hier jeweils im nördlichen Bereich der Grundstücke, an die sich im Süden entlang der A… Straße Gärten anschließen würden. Es bestehe eine faktische Baugrenze, auf die Erschließung der Grundstücke käme es nicht entscheidungserheblich an. Das geplante Bauvorhaben füge sich nicht in die Umgebungsbebauung ein und erzeuge städtebauliche Spannungen wegen der von ihm ausgehenden Bezugsfallwirkung, die zu einer Nachverdichtung in der näheren Umgebung führen würde. Einer Entscheidung im Hinblick auf das Maß der baulichen Nutzung bedürfe es daher nicht mehr.
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Mit dem Zulassungsantrag wird geltend gemacht, dass zu der maßgeblichen näheren Umgebung für die Beurteilung des Einfügens des geplanten Vorhabens nach der überbaubaren Grundstücksfläche auch die Bebauung auf den Grundstücken FlNr. …14 und …7 zu zählen sei. Das Baugrundstück stelle keine Hinterliegerbebauung dar, da es nicht wie das Grundstück FlNr. …2 und die unmittelbaren Nachbargrundstücke von der O… Straße erschlossen werde. Eine vordere Baugrenze gebe es im Bereich des Vorhabengrundstücks nicht. Aber selbst wenn man dies annähme, liege jedenfalls mit der Bebauung auf dem Grundstück FlNr. …7 ein Bezugsfall vor. Die Bebauung auf diesem Grundstück mit zwei Wohngebäuden, wobei das südlich gelegene von der A… Straße erschlossen werde, sei auch nicht als Fremdkörper außer Betracht zu lassen. Das Vorhaben füge sich weiter im Hinblick auf das Verhältnis der bebauten Fläche zur unbebauten Fläche ein; dies ergebe sich insbesondere aus der Bebauung auf den Grundstücken FlNr. …14 und …7.
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Der Beklagte verteidigt die verwaltungsgerichtliche Entscheidung und führt aus, dass sich das Bauvorhaben auch hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung nicht einfüge. Die Bebauung auf dem Grundstück FlNr. …14 sei dabei als Fremdkörper auszuscheiden.
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Ergänzend wird auf die Gerichtsakte und die Behördenakte Bezug genommen.
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Der zulässige Antrag hat keinen Erfolg. Der geltend gemachte Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) liegt nicht vor.
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Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils, die die Zulassung der Berufung rechtfertigen, sind zu bejahen, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Verwaltungsgerichts mit schlüssigen Argumenten in Frage gestellt wird (vgl. BVerfG, B.v. 8.5.2019 - 2 BvR 657/19 - juris Rn. 33; B.v. 20.12.2010 - 1 BvR 2011/10 - NVwZ 2011, 546) und die Zweifel an der Richtigkeit einzelner Begründungselemente auf das Ergebnis durchschlagen (vgl. BVerwG, B.v. 10.3.2004 - 7 AV 4.03 - DVBl 2004, 838). Das ist nicht der Fall. Das Verwaltungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass sich das Bauvorhaben nach der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, nicht gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt.
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Der die nähere Umgebung im Sinn von § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB bildende Bereich reicht soweit, wie sich die Ausführung des zur Genehmigung gestellten Vorhabens auswirken kann und wie die Umgebung ihrerseits den bodenrechtlichen Charakter des Baugrundstücks prägt oder doch beeinflusst (vgl. BVerwG, B.v. 22.10.2020 - 4 B 18.20 - juris Rn. 4; U.v. 5.12.2013 - 4 C 5.12 - BVerwGE 148, 290). Dabei muss die Betrachtung auf das Wesentliche zurückgeführt und alles außer Betracht gelassen werden, was die vorhandene Bebauung nicht prägt oder in ihr als Fremdkörper erscheint (vgl. BVerwG, B.v. 22.9.2016 - 4 B 23.16 - juris Rn. 6). Die nähere Umgebung ist für die in § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB bezeichneten Kriterien jeweils gesondert abzugrenzen (vgl. BVerwG, B.v. 13.5.2014 - 4 B 38.13 - NVwZ 2014, 1246). Mit dem in § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB verwendeten Begriff der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, ist die konkrete Größe der Grundfläche des Vorhabens und auch seine räumliche Lage innerhalb der vorhandenen Bebauung, also der Standort des Vorhabens, gemeint. Zur näheren Konkretisierung kann auf die Begriffsbestimmungen in § 23 BauNVO zur „überbaubaren Grundstücksfläche“ zurückgegriffen werden (vgl. BVerwG, B.v. 12.8.2019 - 4 B 1.19 - BauR 2019, 1889; B.v. 22.9.2016 a.a.O.; B.v. 16.6.2009 - 4 B 50.08 - BauR 2009, 1564). Im Ausnahmefall kann sich ein Vorhaben, das sich nicht in jeder Hinsicht innerhalb des Rahmens hält, noch in seine nähere Umgebung einfügen; Voraussetzung hierfür ist, dass es weder selbst noch infolge einer nicht auszuschließenden Vorbildwirkung geeignet ist, bodenrechtlich beachtliche Spannungen zu begründen oder vorhandene Spannungen zu erhöhen (vgl. BVerwG, B.v. 8.12.2016 - 4 C 7.15 - BVerwGE 157, 1).
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Ausgehend von diesen Grundsätzen hat das Verwaltungsgericht die Bebauung entlang der nördlichen Seite der A… Straße in den Blick genommen. Soweit mit der Klage zunächst ein größerer Umgriff geltend gemacht wurde und weitere Bebauung an der nach Norden abknickenden O… Straße und Bebauung an der B. Straße als nähere Umgebung angesehen wurde, wird dieser Ansatz mit dem Zulassungsantrag bereits nicht weiterverfolgt. Der Vortrag, dass das Verwaltungsgericht das Grundstück FlNr. …14 bei der Bebauung entlang der A… Straße nicht berücksichtigt habe, ist nicht zutreffend, da das Grundstück sowohl bei der Rahmensetzung - Grundstücke FlNr. …15 - …2 - enthalten ist als auch hinsichtlich des Kriteriums der überbaubaren Grundstücksfläche bewertet wurde (vgl. UA Rn. 18). Soweit die fehlende Einbeziehung des Grundstücks FlNr. …7 gerügt wird, geht der Senat bei seiner rechtlichen Bewertung zugunsten der Klägerin davon aus, dass auch dieses Grundstück noch zur näheren Umgebung im Sinn von § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB gehört. Dies rechtfertigt aber kein anderes Ergebnis.
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Die vom Verwaltungsgericht berücksichtigte Bebauung hält einen erheblichen Abstand zur A… Straße ein, die Baukörper sind jeweils im nördlichen Bereich der Grundstücke angeordnet, entlang der A… Straße liegen die Gartenbereiche. Dabei hängt dieses Freihalten von einer Bebauung vorliegend nicht davon ab, wie die Grundstücke jeweils erschlossen sind. So wird z.B. das Grundstück FlNr. …9 von der A… Straße erschlossen (A… Straße), die Nachbargrundstücke FlNr. …8 und FlNr. …10 jeweils von einer Quer straße. Die Mehrzahl der Grundstücke ist von einer parallel zur A… Straße verlaufenden Straße bzw. einem parallel verlaufenden Teilstück dieser Straße erschlossen. Man kann die Baukörperorientierung zur A… Straße nach der tatsächlichen Erschließung entweder als vordere Baugrenze, seitliche oder als hintere Baugrenze bzw. Bautiefe ansehen. Entscheidend ist die Vorbildwirkung der Bebauung, die dadurch gekennzeichnet ist, dass die Bebauung entlang der Nordseite der A… Straße deutlich zurückversetzt ist und hier faktisch eine gemeinsame Baugrenze bildet (vgl. OVG NW, B.v. 14.12.2020 - 2 A 1585/20 - juris Rn. 14 ff.; BayVGH, B.v. 19.12.2006 - 1 ZB 05.1371 - juris Rn. 21). Die erforderliche Regelmäßigkeit bzw. städtebaulich verfestige Struktur (vgl. BayVGH, B.v. 19.10.2020 - 15 ZB 20.280 - juris Rn. 8) liegt vor. Wie das Landratsamt in seinem Bescheid ausgeführt hat, rührt die einheitliche Struktur im östlichen Bereich von einem alten Baulinienplan her.
12
Die an der A… Straße gelegene Bebauung auf dem Grundstück FlNr. …7 (A… Straße) ist, soweit das Grundstück bei dem Umgriff zu berücksichtigen sein sollte, als Fremdköper auszuscheiden. Dabei kommt es nicht auf die Art der Nutzung an, wie die Klägerin meint („zwei Wohngebäude“), sondern auf das Kriterium der überbaubaren Grundstücksfläche. Die Merkmale, nach denen sich ein Vorhaben im Sinn von § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt, sind jeweils unabhängig voneinander zu prüfen (vgl. BVerwG, B.v. 13.5.2014 - 4 B 38.13 - NVwZ 2014, 1246; B.v. 6.11.1997 - 4 B 172.97 - NVwZ-RR 1998, 539). Der Standort der südlichen Bebauung auf dem Grundstück FlNr. …7 fällt völlig aus dem Rahmen der ansonsten einheitlichen Bebauungs- bzw. Grünstruktur. Diese Bebauung hat mit ihrer abweichenden Lage auch nicht die Kraft, den Straßenzug entlang der A… Straße zu prägen; es handelt sich um das in westlicher Richtung letzte Grundstück, ein Eckgrundstück, das nur mit einem Teil an der A… Straße liegt.
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Das Bauvorhaben, das sich damit hinsichtlich seines Standorts nicht in die nähere Umgebung einfügt, würde bei seiner Zulassung infolge der Vorbildwirkung städtebauliche Spannungen erzeugen; der vorhandene Zustand würde in negativer Hinsicht in Bewegung gebracht werden (vgl. BVerwG, U.v. 15.12.1994 - 4 C 13.93 - NVwZ 1995, 698). Diese zutreffende Bewertung des Verwaltungsgerichts wird mit dem Zulassungsantrag auch nicht angegriffen. Es kommt daher nicht mehr entscheidungserheblich darauf an, ob das Verhältnis der bebauten Fläche zur Freifläche, das bei offener Bauweise als Bezugsgröße zur Ermittlung des Maßes der baulichen Nutzung zu berücksichtigen ist (vgl. BVerwG, B.v. 8.12.2016 - 4 C 7.15 - BVerwGE 157, 1), ebenfalls aus dem Rahmen fällt, der sich aus der näheren Umgebung ergibt.
14
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nr. 9.1.1.1 der Empfehlungen des Streitwertkatalogs und entspricht dem vom Verwaltungsgericht festgesetzten Betrag.
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Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).