Inhalt

VG München, Beschluss v. 24.01.2023 – M 20 P 22.3482
Titel:

Personalvertretungsrecht - Antrag auf Ersetzung der Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung

Normenketten:
BayPVG Art. 7, Art. 47
BGB § 626
SGB IX § § 174, § 179
Leitsätze:
1. Die Frist des § 174 Abs. 2 S. 1 SGB IX tritt grundsätzlich an die Stelle des § 626 Abs. 2 BGB. Dies führt bei nachträglichem Eintreten der Voraussetzungen - hier besonderer Kündigungsschutz als Vertrauensperson - nicht zu einem neuen Fristlauf. (Rn. 25) (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Frist zu einer Verdachtskündigung kann mit Kenntnis von verdachtsverstärkenden Tatsachen erneut zu laufen beginnen (hier verneint). (Rn. 30 – 31) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
(Landes) Personalvertretungsrecht, Antrag auf Ersetzung der Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung (abgelehnt), Kündigungsbegehren verspätet, Nicht hinreichend bewiesene Kündigungsgründe, Verdachtskündigung wegen Vortäuschen eines Arbeitsunfalls
Fundstelle:
BeckRS 2023, 9302

Tenor

Der Antrag wird abgelehnt.

Gründe

I.
1
Der Antragsteller begehrt die Ersetzung einer verweigerten Zustimmung des Beteiligten zu 1) als Personalrat zu einer außerordentlichen Kündigung der Beteiligten zu 2) wegen eines vom Antragsteller erhobenen Verdachts des Vortäuschens eines Arbeitsunfalls im Zusammenhang mit einer Entkalbung durch die Beteiligte zu 2).
2
Am 21. Oktober 2019 zeigte die Beteiligte zu 2) gegenüber dem Antragsteller einen Unfall bei der Geburt eines Kalbes am 17. Oktober 2019 um 17 Uhr an, bei der sie sich die linke Schulter verdreht habe.
3
Nach telefonischer Kontaktaufnahme mit dem Durchgangsarzt am 21. Oktober 2019 fand insoweit am 22. Oktober 2019 eine erste ärztliche Vorstellung statt. Mit Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom 31. Oktober 2019 wurde die Beteiligte zu 2), die in der Zwischenzeit dienstplanmäßig frei hatte, zunächst bis zum 10. November 2019 durch den Durchgangsarzt mit der Angabe „Arbeitsunfall“ und mit Folgebescheinigungen letztlich bis zum 31. Mai 2020 krankgeschrieben. Im Rahmen der Diagnostik wurde bei der Beteiligten zu 2) ein degenerativer Innenschaden des linken Schultergelenks festgestellt, der mit hinreichender Wahrscheinlichkeit nicht Folge des Arbeitsunfalls am 2. Januar 2020 nach Angaben der Beteiligten zu 2) gegenüber dem Antragsteller operiert wurde. Die Schulterverletzung ist ausgeheilt.
4
Während die Landesunfallskasse den Vorfall als Arbeitsunfall anerkannt hat, hat der Antragsteller Zweifel an der Darstellung der Beteiligten zu 2). Dies teilte der – in der mündlichen Verhandlung am 24. Januar 2023 als Zeuge entsprechend einvernommene – Vorgesetzte G. unverzüglich der Personalstelle mit, nachdem er von der Unfallmeldung informiert worden war. Den Zweifeln liegt im Wesentlichen zugrunde, dass der Vorfall bei der Entkalbung nicht im Verbandbuch eingetragen sei, die Beteiligte zu 2) ihre Kollegen und Vorgesetzte nicht hierüber informiert oder gar bereits zur Entkalbung hinzugezogen habe und sie ihre Arbeit mit körperlich schwerer Tätigkeit wie dem Tragen von Milchkannen aber bis zum 20. Oktober 2019 fortgesetzt habe. Eine Entkalbung habe zudem nicht am 17. Oktober, sondern 16. Oktober 2019 stattgefunden.
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Insofern hat der Antragsteller die Beteiligte zu 2) mit Schreiben vom 28. Oktober 2019 aufgefordert, Stellung zu nehmen und mit Folgeschreiben eine ausführliche Schilderung des Unfallhergangs und -verlauf gefordert. Die Beteiligte zu 2) äußerte sich hierauf durch schriftlichem Vermerk – wohl vom 22. November 2019 – auf dem Schreiben vom 15. November 2019 sowie auf einer Kopie der Unfallanzeige vom 21. Oktober 2019. Im weiteren Verlauf forderte der Antragsteller (erst) mit Schreiben vom 11. Februar 2020 die Beteiligte zu 2) nochmals auf, zum Unfallgeschehen Stellung zu nehmen. Zudem wurde ein Anhörungsgespräch angeboten, was die Beteiligte zu 2) annahm, aber u.a. aufgrund der Corona-Pandemie arbeitgeberseitig mehrfach verschoben wurde und erst am 19. Mai 2020 stattfand.
6
Einer antragstellerseits daraufhin beantragten Zustimmung zur außerordentlichen, hilfsweise ordentlichen Kündigung der Beteiligten zu 2) hat der damals zuständige Übergangspersonalrat i.S.v. Art. 77 Abs. 3, Abs. 1 Bayerisches Personalvertretungsgesetz (BayPVG) mit Beschluss vom 5. Juni 2020 nicht zugestimmt.
7
Die Beteiligte zu 2) ist mit Bescheid der Agentur für Arbeit vom 3. März 2020 rückwirkend zum 6. November 2019 einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt. Mit Urteil vom 21. Juli 2022 hat das Verwaltungsgericht München eine durch das Inklusionsamt durch Bescheid vom 15. Juni 2020 versagte Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung ersetzt (M 15 K 20.5505). Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf die diesbezügliche, beigezogene Gerichtsakte verwiesen.
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Seit dem 14. April 2022 ist die Beteiligte zu 2) Vertrauensperson der schwerbehinderten Menschen.
9
Auf Antrag des Antragstellers vom 24. Juni 2022 an den Beteiligten zu 1) zur Zustimmung zu einer außerordentlichen Tatkündigung, hilfsweise Verdachtskündigung aufgrund des dringenden Verdachts eines vorgetäuschten Arbeitsunfalls hat dieser die Zustimmung verweigert.
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Daraufhin hat sich der Antragssteller mit Schriftsatz vom 7. Juli 2022 zur Ersetzung der Zustimmung zur Kündigung im Wege eines personalvertretungsrechtlichen Beschlussverfahrens an das Verwaltungsgericht München gewandt und ausführlich vorgetragen. Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf die Schriftsätze vom 7. Juli 2022 und 18. Oktober 2022 und die vorgelegten Anlagen Bezug genommen.
11
Nach Einvernahme des Zeugen G. und Erörterung vor der Kammer für Personalvertretungsrecht des Landes im Rahmen einer mündlichen Verhandlung am 24. Januar 2023 hat der Antragsteller sein Begehren hinsichtlich einer Tatkündigung nicht aufrecht gehalten und beantragt zuletzt,
die Zustimmung des Personalrats zur Verdachtskündigung der Beteiligten zu 2) zu ersetzen.
12
Der Bevollmächtigte des Beteiligten zu 1) hat schriftsätzlich unter dem 30. September 2022 Stellung genommen, hinsichtlich deren Einzelheiten Bezug genommen wird, und beantragt,
den Antrag abzulehnen.
13
Der Bevollmächtigte der Beteiligten zu 2) beantragt,
den Antrag abzulehnen.
14
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte M 20 P 22.3482, insbesondere auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung am 24. Januar 2023 mit Anhörung und Beweisaufnahme im Wege der Einvernahme des Zeugen G. Bezug genommen.
II.
15
Der zulässige Antrag ist unbegründet.
16
Soweit in der mündlichen Verhandlung nicht der Dienststellenleiter persönlich als Antragsteller erschien, sondern sich durch die Personalleitung vertreten ließ, steht dies auch ohne Darlegung eines Verhinderungsgrundes einer wirksamen Antragstellung nicht entgegen, nachdem die Beteiligten zu 1) und 2) einer Vertretung des Antragstellers durch die Personalleitung zugestimmt haben, Art. 7 Abs. 1 Satz 2, Satz 4 BayPVG.
17
Eine Ersetzung i.S.v. Art. 47 Abs. 2 Satz 2 BayPVG der durch den Beteiligten zu 1) als Personalrat versagten Zustimmung zu einer außerordentlichen Kündigung der Beteiligten zu 2) im Wege einer Verdachtskündigung wg. Vortäuschens eines Arbeitsunfalls kommt nicht Betracht, da die Voraussetzungen für eine solche Kündigung nicht vorliegen. Dem steht bereits der Zeitablauf i.S.v. § 626 Abs. 2 BGB entgegen (1.). Zudem ist die Beteiligte zu 2) nicht derart dringend des Vortäuschens eines Arbeitsunfalls verdächtig, dass hierauf eine außerordentliche Verdachtskündigung gestützt werden könnte (2.).
18
Die Beteiligte zu 2) unterliegt gemäß § 179 Abs. 3 SGB IX i.V.m. Art. 47 Abs. 1 BayPVG, § 15 KSchG einem besonderen Kündigungsschutz, sodass es der Zustimmung des Personalrats für eine – nur mögliche – außerordentliche Kündigung bedarf. Eine solche wurde durch den Beteiligten zu 1) versagt. Eine Ersetzung kommt jedoch nicht in Betracht, wenn die Zustimmungsverweigerung, wie vorliegend, nicht zu beanstanden ist.
19
1. Einer außerordentlichen Kündigung steht das Zeitmoment i.S.v. § 626 Abs. 2 BGB entgegen.
20
Eine außerordentliche Kündigung muss gemäß § 626 Abs. 2 BGB innerhalb von zwei Wochen erfolgen. Gemäß § 626 Abs. 2 Satz 2 BGB beginnt die Frist dabei mit dem Zeitpunkt, in dem der Kündigungsberechtigte von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen Kenntnis erlangt. Bei einer Verdachtskündigung läuft die Ausschlussfrist von dem Zeitpunkt an, zu dem der Kündigungsberechtigte so viel von dem Kündigungssachverhalt mit Sicherheit kennt, dass er sich ein eigenes Urteil über den Verdacht und seine Tragweite bilden kann (Henssler, Münchener Kommentar zum BGB, § 626 BGB – beck-online Rn. 347 m.w.N.). Sofern eine Anhörung des Arbeitnehmers notwendig ist und unverzüglich eingeleitet sowie innerhalb von regelmäßig einer Woche durchgeführt wird, beginnt die Frist zudem nicht vor einer solchen Anhörung (Henssler, a.a.O. Rn. 339 m.w.N.).
21
Insoweit verweist das Gericht – wie bereits in der mündlichen Verhandlung – auf die Ausführungen des Verwaltungsgerichtshof Mannheim vom 20. Juni 1989 – 15 S 896/89 -:
„Unter den Tatsachen, die für die Kündigung maßgebend sind, sind im Sinne der Zumutbarkeitserwägungen sowohl die für als auch die gegen die Kündigung sprechenden Umstände zu verstehen. Die im Falle der Arbeitgeberkündigung notwendige Kenntnis auch der für den Arbeitnehmer und gegen die Kündigung sprechenden Tatsachen wird der Arbeitgeber in der Regel erst dann haben, wenn er dem Arbeitnehmer Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben hat. Solange der Kündigungsberechtigte die zur Aufklärung des Sachverhalts nach pflichtgemäßem Ermessen notwendig erscheinenden Maßnahmen durchführt, insbesondere dem Berechtigten Gelegenheit zur Stellungnahme gibt, kann die Zweiwochenfrist nicht beginnen. Dies gilt auch dann, wenn die Maßnahmen rückblickend zur Feststellung des Sachverhalts nicht beigetragen haben oder überflüssig gewesen sein sollten. Die Anhörung darf allerdings nicht ungebührlich hinausgezögert werden, andernfalls beginn die Frist vorher zu laufen (vgl. dazu BAG, Urteil vom 10.6.1988, BB 1989, 1062 sowie BAGE 24, 341/344).“
22
Das Bundesarbeitsgericht führt in der zitierten Entscheidung näher aus:
„a) Die Vorschrift regelt eine materiellrechtliche Ausschlußfrist für die Kündigungserklärung. Sie soll innerhalb begrenzter Zeit für den betroffenen Arbeitnehmer Klarheit darüber schaffen, ob ein Sachverhalt zum Anlaß für eine außerordentliche Kündigung genommen wird. Andererseits soll die zeitliche Begrenzung aber nicht zu hektischer Eile bei der Kündigung antreiben oder den Kündigungsberechtigten veranlassen, ohne genügende Vorprüfung voreilig zu kündigen (BAGE 24, 99 = AP § 626 BGB – Ausschlußfrist – Nr. 2 (zu 3); BAG, AP § 626 BGB – Ausschlußfrist – Nr. 9 (zu 2c)).
b) Für den Fristbeginn kommt es auf die sichere und möglichst vollständige positive Kenntnis der für die Kündigung maßgebenden Tatsachen an; selbst grob fahrlässige Unkenntnis genügt nicht. Unter den Tatsachen, die für die Kündigung maßgebend sind, sind im Sinne der Zumutbarkeitserwägungen sowohl die für als auch die gegen die Kündigung sprechenden Umstände zu verstehen. Es genügt somit nicht die Kenntnis des konkreten, die Kündigung auslösenden Anlasses, d. h. des „Vorfalls“, der einen wichtigen Grund darstellen könnte. Dem Kündigungsberechtigten muß eine Gesamtwürdigung nach Zumutbarkeitsgesichtspunkten möglich sein. Bei der Arbeitgeberkündigung gehören deswegen zum Kündigungssachverhalt auch die für den Arbeitnehmer und gegen eine außerordentliche Kündigung sprechenden Gesichtspunkte, die regelmäßig ohne eine Anhörung des Arbeitnehmers nicht hinreichend vollständig erfaßt werden können. Solange der Kündigungsberechtigte diese Aufklärung des Sachverhalts nach pflichtgemäßem Ermessen notwendig erscheinenden Maßnahmen durchführt, insbesondere dem Kündigungsgegner Gelegenheit zur Stellungnahme gibt, kann die Ausschlußfrist nicht beginnen; die Anhörung ist in der Regel geeignet, den Fristlauf zu hemmen (ständige Rechtsprechung des BAG; vgl. BAGE 24, 341 = AP § 626 BGB – Ausschlußfrist – Nr. 3 (zu I 4, 5 und II 2); AP § 626 BGB – Ausschlußfrist – Nr. 6 (zu 2a)).
c) Der Beginn der Ausschlußfrist des § 626 II BGB darf indessen nicht länger als unbedingt nötig hinausgeschoben werden. Sie ist nur solange gehemmt, wie der Kündigungsberechtigte aus verständigen Gründen mit der gebotenen Eile noch Ermittlungen anstellt, die ihm eine umfassende und zuverlässige Kenntnis des Kündigungssachverhalts verschaffen sollen (BAGE 24, 341 (zu II 3)). Der Senat hat deshalb in diesem wie in dem Urteil vom 12. 2. 1973 (AP § 626 BGB – Ausschlußfrist – Nr. 6 (zu 2c)) gefordert, der Kündigungsgegner müsse innerhalb einer kurz bemessenen Frist angehört werden, die regelmäßig nicht länger als eine Woche sein dürfe. Es handelt sich insoweit um eine Regelfrist, die bei Vorliegen besonderer Umstände auch überschritten werden darf. Bei dem Sachverhalt, der dem Urteil vom 12. 2. 1973 zugrundelag, war diese Frist um fünf Tage überschritten. Der Senat hat insoweit auf die Notwendigkeit zur Prüfung verwiesen, ob hierfür ein „sachlich erheblicher“ bzw. „verständiger“ Grund vorgelegen hat.
d) Diese Grundsätze gelten nicht nur im Bereich der Verdachtskündigung, für die sie zunächst aufgestellt worden sind (vgl. BAGE 24, 341 (zu I 5); BAGE 24, 99 = AP § 626 BGB – Ausschlußfrist – Nr. 2 (zu 3)), sondern auch für Kündigungen, die auf einen Tatvorwurf gestützt sind, sofern der Kündigungssachverhalt zunächst noch weiterer Aufklärung bedarf.“
(BAG, U.v. 10.6.1988 – 2 AZR 25/88 – beck-online)
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Zum Zeitpunkt im Mai 2020, als sich der Antragsteller an den damaligen Übergangspersonalrat im Wege des Art. 77 Abs. 3, Abs. 1 BayPVG bzw. an das Inklusionsamt wandte, war die Frist die § 626 Abs. 2 BGB für eine außerordentliche Kündigung unter Anwendung der zuvor genannten Maßstäbe bereits abgelaufen.
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a) Dabei kommt es vorliegend nicht auf die Sonderkonstellation an, dass die Beteiligte zu 2) zum Zeitpunkt des ihr zur Last gelegten Verhaltens noch nicht dem besonderen Kündigungsschutz des Art. 47 BayPVG unterlag und insofern noch keine entsprechende Personalratszustimmung einzuholen war, sondern dieser vielmehr (nur) nach Art. 77 Abs. 3, Abs. 1 BayPVG mitzuwirken hatte. Gleiches gilt in Bezug auf der mit Bescheid vom 3. März 2020 notwendig gewordenen Zustimmung des Inklusionsamtes zur Kündigung.
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Zwar tritt die Frist des § 174 Abs. 2 Satz 1 SGB IX grundsätzlich an die Stelle des § 626 Abs. 2 BGB (vgl. a. VGH Mannheim a.a.O., BayVGH, B.v. 3.12.2018 – 17 P 18.111 – beck-online). Dies führt bei nachträglichem Eintreten der Voraussetzungen aber nicht zu einem neuen Fristlauf, da dies schon dem Gesetzeszweck zuwiderliefe.
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Das Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 21. Juli 2022 verhält sich zur vorliegenden Fristproblematik nicht, sondern stellt im Verfahren auf Ersetzung der Zustimmungsverweigerung des Inklusionsamtes darauf ab, dass die Zwei-Wochen-Frist des § 174 Abs. 2 Satz 1 SGB IX erst zum Zeitpunkt beginnt, als der Arbeitsgeber von der Gleichstellung der Beteiligten zu 2) mit einem schwerbehinderten Menschen Kenntnis erlangt hat.
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b) Zu diesem Zeitpunkt, der dementsprechend als Fristbeginn für § 174 Abs. 2 Satz 1 SGB IX maßgeblich ist, war dem Antragsteller aber mit Blick auf § 626 Abs. 2 BGB und die zuvor dargestellten Maßstäbe bereits verwehrt, sich auf das Vorliegen eines außerordentlichen Kündigungsgrundes zu berufen, so dass keine weitere Hemmungswirkung bestanden bzw. eintreten konnte. § 174 Abs. 5 SGB IX führt somit nicht per se zu einer Unbeachtlichkeit der Ausschlussfrist des § 626 Abs. 2 BGB, sondern dient dazu, durch die Beteiligung des Inklusionsamts eingetretenen Verzögerungen zu begegnen.
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Nachdem dem Vorgesetzten der Beteiligten zu 2) nach Kenntnisnahme der Unfallanzeige Zweifel an der Darstellung des Arbeitsunfalls gekommen waren und er diese der Personalabteilung mitgeteilt hatte, hat der Antragsteller der Beteiligten zu 2) bereits mit Schreiben vom 28. Oktober 2019 aufgegeben, Stellung zu nehmen und nochmals mit Schreiben vom 15. November 2019. Im Anschluss blieb der Antragsteller jedoch über Monate untätig, bis er nochmals schriftlich unter dem 11. Februar 2020 nachfragte. Die Krankschreibung der Beteiligten zu 1) sowie die Corona-Pandemie standen dem nicht entgegen, dass sich der Antragsteller bereits vorher – und ggf. (nur) auf Grundlage der schriftlichen Einlassungen der Beteiligten zu 2) – ein hinreichendes Bild über die Frage einer Verdachtskündigung hätte machen können. Zwar ist an sich zu begrüßen, wenn ein Arbeitgeber in Verdachtsfällen auch das persönliche Gespräch zur Anhörung zu suchen versucht, dadurch darf es jedoch nicht zu einer derart relevanten Verzögerung mit Blick auf die gesetzliche Ausschlussfristregelung kommen. Die Untätigkeit des Antragstellers von November 2019 bis Februar 2020 sowie auch die vorgetragenen Terminfindungschwierigkeiten für das persönliche Gespräch von Februar 2020 bis Mai 2020 durch eine ursprünglich beabsichtigte Teilnahme des betriebsärztlichen Dienstes, die dann doch unterblieb, gehen zu Lasten des Antragstellers und führten zu einer nicht mehr akzeptablen Verzögerung i.S.d. oben dargestellten Maßstäbe.
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b) Die Ausschlussfrist begann nicht durch das Gespräch vom 19. Mai 2020 erneut.
30
Zwar kann die Frist zu einer Verdachtskündigung mit Kenntnis von verdachtsverstärkenden Tatsachen erneut zu laufen beginnen (Henssler, a.a.O. Rn. 348 a.E. m.w.N.).
31
Der Antragsteller hat vorliegend jedoch nicht erst im Gespräch am 19. Mai 2020 von den im Verfahren vorgetragenen Tatsachen oder Verdachtsmomenten Kenntnis erlangt, aufgrund derer er die – nur noch verfahrensgegenständliche – Verdachtskündigung auszusprechen beabsichtigt. Insoweit ist weder schriftsätzlich noch im Rahmen der ausführlichen Anhörung mit Beweisaufnahme des damaligen Vorgesetzten der Beteiligten zu 2) vorgetragen und für das Gericht erkennbar, welche neuen Tatsachen oder Verdachtsmomente das Gespräch am 19. Mai 2020 gebracht haben soll. Vielmehr stützt der Antragsteller seine Verdachtskündigung auf bereits seit Oktober 2019 vorhandene Zweifel. Verdachtsverstärkende Momente im Gespräch vom 19. Mai 2020 vermag das Gericht nicht zu erkennen. In welcher Weise erst im Gespräch klargeworden sei, „dass durch den geschilderten Ablauf der Geburt kein Arbeitsunfall eingetreten sein konnte“, so die Vertreterin des Antragstellers in der Anhörung am 24. Januar 2023, blieb für das Gericht nicht ersichtlich. Gerade auch die daraufhin erfolgte Beweisaufnahme brachte für das Gericht keine verdachtsverstärkenden Momente ans Licht.
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2. Ungeachtet des Fristablaufs liegen die Voraussetzungen für eine Verdachtskündigung zudem nicht vor. Der Antragsteller hat im Verfahren nicht hinreichend darlegen können, dass dringende Verdachtsgründe für das Vortäuschen eines Arbeitsunfalls durch die Beteiligte zu 2) bestehen.
33
a) Fest steht nach der Beweisaufnahme durch die Kammer, dass es zum fraglichen Zeitpunkt zu einer Entkalbung gekommen ist, bei der unmittelbar im Nachgang die Beteiligte zu 2) gegenüber ihrem Vorgesetzten jedenfalls berichtete, das Kalb sei verdreht gewesen. Für das Gericht ist nachvollziehbar, dass beim Drehen eines schweren Kalbs eine Schulterverletzung eintreten kann.
34
b) Zwar ist dem Antragsteller zuzugestehen, dass darüber hinaus Ungenauigkeiten und Widersprüchlichkeiten im Vortrag der Beteiligten zu 2) in Bezug auf die genaue Lage des Kalbs bestehen und fraglich ist, ob eine Hinterendlage vorgelegen hat, die die Beteiligte zu 2) ohne Hilfe weiterer Kollegen bewältigen konnte. Daraus ergibt sich aber nicht, dass sich die Beteiligte zu 2) bei der Entkalbung, die unstrittig stattgefunden hat, nicht die diagnostizierte Zerrung der linken Schulter zugezogen haben kann, zumal zu diesem Zeitpunkt bereits eine Vorbelastung der Schulter bestand, wie die weitere Diagnostik ergab. Die Beweisaufnahme hat jedenfalls nicht hinreichend ergeben, dass die Schilderung der Beteiligten zu 2), sich bei der Entkalbung die Schulter verdreht zu haben, nicht der Wahrheit entspricht.
35
c) Fraglich ist vorliegend auch nicht die Schulterverletzung an sich, sondern der Auslöser und das zeitliche Auftreten. Alternative Auslöser sind aber nicht ersichtlich. Die Zweifel am kausalen Zusammenhang zwischen Entkalbung und Schulterverletzung sind nicht derart ausgeprägt, dass von einem dringenden Verdacht des Vortäuschens eines Arbeitsunfalls auszugehen ist.
36
(1) Die zeitliche Ungenauigkeit, ob die Entkalbung am 16. oder 17. Oktober 2019 stattgefunden hat, konnte hinsichtlich anscheinend unrichtiger Ohrmarken aufgeklärt werden und ist insoweit nicht von Belang.
37
(2) Das Fehlen der Eintragung im Verbandbuch begründet keinen Zweifel an einer Verletzung bei der Entkalbung. Es mag vorschriftswidrig gewesen sein, den Vorfall nicht einzutragen, auch wenn nichts aus dem Verbandskasten entnommen wurde. Einen Beleg für einen nicht stattgefundenen Arbeitsunfall stellt dies nicht dar.
38
(3) Dass die Beteiligte zu 2) erst am 21. Oktober 2019 telefonisch und am 22. Oktober persönlich beim Durchgangsarzt vorstellig wurde, belegt nicht, dass sie sich die Verletzung nicht bereits am 17. Oktober 2019 oder 16. Oktober 2019 zugezogen hat. Ein Abwarten über einzelne Tage bis zu einer ärztlichen Konsultation, ggf. in der Hoffnung auf eine Besserung, erscheint dem Gericht durchaus nicht alltagsfremd, zumal die Beteiligte zu 2) einer dienstplanmäßigen freien Zeit entgegensehen konnte.
39
(4) Soweit zweifelhaft gesehen wird, dass die Beteiligte zu 2) mit einer solchen Verletzung nicht noch ihren Dienst in den Tagen darauf hätte verrichten können, mögen Zweifel bestehen. Diese reichen jedoch nicht für eine Verdachtskündigung aus.
40
Inwieweit die Beteiligte zu 2) gewisse Arbeiten in Schonhaltung oder doch mit Unterstützung ihrer Tochter, wenngleich diese nicht gesichtet worden sein soll – was aber tatsächlich deren Anwesenheit noch nicht gänzlich ausschließt – ausgeübt hat, ggf. auch in der Hoffnung, die Schmerzen würden nur vorübergehend sein, ist nicht bewiesen. Die vom Antragsteller an sich erbetene Stellungnahme des betriebsärztlichen Dienstes zu den bereits im Oktober/November 2019 bestehenden Zweifel, ob und warum die Beteiligte zu 2) mit der behaupteten Schulterverletzung vom 16./17. Oktober 2019 bis zum 20. Oktober 2019 weiterarbeiten konnte, ist insoweit gerade unterblieben. Dies geht zu Lasten des Antragstellers.
41
(5) Dass die Krankschreibung dann erst am 31. Oktober 2019 erfolgte – in der Zwischenzeit hatte die Beklagte zu 2) dienstplanmäßig frei –, lässt sich mit der zwischenzeitlich erfolgten MRT-Untersuchung zeitlich hinreichend erklären.
42
Wegen Fristablaufs sowie Fehlen der Voraussetzungen für eine Verdachtskündigung ist die vom Beteiligten zu 1) versagte Zustimmung zur durch den Antragsteller beabsichtigten außerordentlichen Kündigung der Beteiligten zu 2) somit nicht i.S.v. Art. 47 Abs. 2 Satz 2 BayPVG zu ersetzen.
43
Eine Kostenentscheidung ist nicht veranlasst. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei.