Inhalt

VGH München, Beschluss v. 27.04.2023 – 19 CE 23.133
Titel:

Zumutbarkeit der Nachholung des Visumverfahrens

Normenketten:
AufenthG § 25 Abs. 5, § 36 Abs. 2, § 60a Abs. 2 Satz 1, § 104c
GG Art. 6
EMRK Art. 8
VwGO § 123
Leitsatz:
Unternimmt ein ausreisepflichtiger Ausländer mit Familie im Inland (Lebensgefährtin und zwei ein und zwei Jahre alte Söhne) keinerlei Mitwirkungshandlungen, um die Visumerteilung von hier aus vorzubereiten und damit die Trennungszeit von seiner hier lebenden Familie auf lediglich wenige Tage zu reduzieren, kann auch eine daraus ggf. resultierende Trennungszeit im Bereich von sieben Monaten ausnahmsweise noch als zumutbar angesehen werden. (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Ivorischer Staatsangehöriger, Kleinkinder (1 und 2 Jahre alt) mit (teilw.) subsidiären Schutzstatus, Visumnachholung (keine) Mitwirkungshandlungen, Duldung, Visumverfahren, Nachholung, Mitwirkung, Kleinkinder, besondere Härte, rechtliche Unmöglichkeit
Vorinstanz:
VG Würzburg, Beschluss vom 17.01.2023 – W 7 E 22.1880
Fundstelle:
BeckRS 2023, 8737

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 1.250,00 € festgesetzt.
IV. Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung des Prozessbevollmächtigten für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.

Gründe

1
Der Antragsteller, ein am ... 1990 geborener ivorischer Staatsangehöriger, verfolgt mit der Beschwerde sein einstweiliges Rechtsschutzbegehren, den Antragsgegner zu verpflichten, vorläufig von Abschiebungsmaßnahmen gegen ihn abzusehen und den Antragsgegner des Weiteren zu verpflichten, ihm auf die Dauer von vorläufig drei Monaten eine Duldungsbescheinigung auszustellen und eine Erwerbstätigkeit zu gestatten, weiter.
2
Der 2017 nach Deutschland eingereiste Antragsteller ist nach negativem Abschluss seines Asylverfahrens seit 3. Juli 2018 ausreisepflichtig. Er ist Vater zweier in Deutschland aufenthaltsberechtigter Kinder (geboren am ... 2021 und ... 2022), die wie die Kindesmutter beide ebenfalls die ivorische Staatsangehörigkeit haben und für die er gemeinsam mit der Mutter sorgeberechtigt ist. Der Antragsteller war wegen fehlender Reisedokumente bis zum 29. August 2022 fortlaufend im Besitz einer Duldung gem. § 60b bzw. § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG. Am 13. Juli 2021 stellte er einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gem. § 25 Abs. 5 AufenthG, über den noch nicht entschieden wurde, und legte Anfang November 2021 einen am 30. September 2021 ausgestellten und bis 29. September 2026 gültigen ivorischen Reisepass vor. Am 8. November 2022 wurde die am 29. August 2022 abgelaufene Duldung des Antragstellers als erloschen gestempelt und dem Antragsteller mitgeteilt, dass kein Duldungsgrund mehr vorliege und ihm die Ausübung der Erwerbstätigkeit nicht gestattet sei. Mit Schreiben vom 9. November 2022 wurde dem Antragsteller mitgeteilt, dass die Ablehnung seines Antrags beabsichtigt sei, da nach Vorlage des Reisepasses keine tatsächliche Unmöglichkeit der Ausreise mehr vorliege und die Ausreise auch aus rechtlichen Gründen nicht unmöglich sei. Die vorübergehende Ausreise zum Zweck der Durchführung des erforderlichen Visumverfahrens sei auch in Anbetracht seiner Familienverhältnisse und der Beziehung zu seinen zwei kleinen Söhnen zumutbar, da seine Abwesenheit bei entsprechender Mitwirkung seinerseits und Duldungserteilung, bis der Termin für die Visumbeantragung unmittelbar bevorstehe, nur wenige Tage bis Wochen betrage. Daraufhin erklärte der Bevollmächtigte des Antragstellers am 24. November 2022, dass der Antragsteller den Termin zur Rückkehrberatung am 8. Dezember 2022 wahrnehmen und sich zur Nachholung des Visumverfahrens bereit erklären werde. Um die familienfreundliche Ausgestaltung des Visumverfahrens und Erteilung einer Duldung mit Gestattung zur Erwerbstätigkeit werde gebeten und die örtliche Ausländerbehörde müsse bereit sein, eine Vorabzustimmung zu erteilen und die Urkundenprüfung vorzunehmen. An dem Termin zur Beratung über die Nachholung des Visumsverfahrens am 8. Dezember 2022 wurde der Antragsteller u.a. darauf hingewiesen, dass die Aufenthaltsdauer im Ausland von seiner Mitwirkung abhänge. Bei Mitwirkung sei mit einer Aufenthaltsdauer im Ausland von ca. 5-10 Werktagen (Einholung Vorabzustimmung, Durchführung einer Urkundenüberprüfung) zu rechnen. Ohne Mitwirkung betrage die Aufenthaltsdauer im Ausland mindestens 7 Monate (Bearbeitung des Antrags mindestens drei Monate, Urkundenüberprüfung weitere drei Monate oder wesentlich länger, Wartezeit auf den Termin 2-4 Wochen). Weiterhin wurde er darüber informiert, dass er bei Vorlage der Erklärung der freiwilligen Ausreise, dem Antrag der Vorabzustimmung und Urkundenüberprüfung eine neue Duldung beantragen könne, womit er dann eine Beschäftigungserlaubnis beantragen könne. Am 12. Dezember 2022 teilte der Bevollmächtigte des Antragstellers mit, dass dieser zwar Interesse an der Nachholung des Visumverfahrens habe, er ihm aber wegen des bevorstehenden Inkrafttretens des Chancen-Aufenthaltsrechts gem. § 104c AufenthG – das ihm ein Aufenthaltsrecht ohne Visumverfahren ermögliche – nicht mehr empfehlen könne, der Nachholung des Visumverfahrens zuzustimmen. Am 12. Januar 2023 wurde ein Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gem. § 104c AufenthG gestellt, da der Antragsteller die zeitlichen Voraussetzungen erfülle.
3
Den am 7. Dezember 2022 gestellten Eilantrag des Antragstellers, den Antragsgegner zu verpflichten, vorläufig von Abschiebungsmaßnahmen gegen den Antragsteller abzusehen und den Antragsgegner des Weiteren zu verpflichten, dem Antragsteller auf die Dauer von vorläufig drei Monaten eine Duldungsbescheinigung auszustellen und ihm eine Erwerbstätigkeit zu gestatten, hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 17. Januar 2023 abgelehnt. Der Antragsteller habe einen Anordnungsanspruch nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG nicht glaubhaft gemacht. Er habe weder einen Anspruch auf eine sogenannte Verfahrensduldung im Hinblick auf seine Anträge nach § 104c Abs. 1 AufenthG (weil der Antragsteller im Zeitpunkt der behördlichen bzw. gerichtlichen Entscheidung nicht – mehr – geduldet sei) und § 25 Abs. 5 AufenthG (weil u.a. ein Anspruch auf Absehen von der Nachholung des Visumverfahrens im Wege einer Ermessensreduzierung auf Null gem. § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG nicht glaubhaft gemacht wurde) noch einen Anspruch auf Duldung wegen einer Unmöglichkeit der Abschiebung aus rechtlichen Gründen im Hinblick auf den verfassungsrechtlich gewährleisteten Schutz der Familie nach Art. 6 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK (weil eine vorübergehende Beendigung seines Aufenthalts zur Durchführung des Visumverfahrens – bei entsprechender Vorbereitung (Einholung einer Vorabzustimmung, Urkundsüberprüfung von Deutschland aus) sei von einer Zeit von 5 – 10 Arbeitstagen für ein Visumverfahren in der Elfenbeinküste auszugehen, bei fehlender Mitwirkung des Antragstellers sei von einer Wartezeit von in der Regel drei Monaten auszugehen – zumutbar wäre). Im Ergebnis bestünden aus Sicht des Gerichts keine Anhaltspunkte dafür, dass dem Antragsteller nicht grundsätzlich eine Aufenthaltserlaubnis zu humanitären Zwecken erteilt werden könnte. Da der Antragsteller keinen Anspruch auf Erteilung einer Duldung habe, habe er auch keinen Anspruch auf eine mit der Duldung im Zusammenhang stehende Erlaubnis der Erwerbstätigkeit.
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Hiergegen richtet sich die Beschwerde des Antragstellers. Zur Begründung wird ausgeführt, dass der Antragsteller derzeit noch in einer Gemeinschaftsunterkunft von der Kindesmutter, der subsidiärer Schutz zuerkannt worden sei und die im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG sei, getrennt lebe. Er sei sorgeberechtigter Vater zweier Kleinkinder; das 2021 geborene Kind sei im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis gem. § 25 Abs. 2 AufenthG, für das 2022 geborene Kind sei eine Aufenthaltserlaubnis nach § 33 AufenthG beantragt worden. Im Verfahren W 7 K 22.1881 verfolge der Antragsteller die Erlaubnis zur privaten Wohnsitznahme außerhalb der staatlichen Gemeinschaftsunterkunft bei seiner Familie in K.. Der Antragsteller habe sich ursprünglich bereit erklärt, die Rückkehrberatung der zentralen Ausländerbehörde in Anspruch zu nehmen und ein Visumverfahren zum Familiennachzug nachzuholen, allerdings unter der Voraussetzung einer familienfreundlichen Ausgestaltung. Bis zur Ausreise müsse ihm eine Duldung mit Gestattung zur Erwerbstätigkeit ausgestellt werden, damit er sich die Flug- und Reisekosten selbst ansparen könne. Zudem müsse die örtliche Ausländerbehörde bereit sein, eine Vorabzustimmung zu erteilen und eine Urkundenprüfung vorzunehmen. Die Urkundenprüfung dürfe nicht der Botschaft überlassen werden. Im Hinblick auf das neue Chancen-Aufenthaltsrecht habe der Antragsteller seine Bereitschaft zur Nachholung des Visumverfahrens widerrufen. Er erfülle die zeitlichen Voraussetzungen einer Chancen-Aufenthaltserlaubnis gemäß § 104c Abs. 1 AufenthG. Persönliche Ausschlussgründe, etwa Straffälligkeit, stünden nicht entgegen. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts habe der Antragsteller Anspruch auf Erteilung einer Duldung, nachdem die zentrale Ausländerbehörde seine Duldung nach Vorlage des Reisepasses als erloschen gestempelt habe. Denn ein Visumverfahren könne dem Antragsteller aus den folgenden Gründen nicht zugemutet werden: mit einer Vorabzustimmung zum Familiennachzug zur Ausübung der elterlichen Sorge und des Umgangsrechts durch die örtliche Ausländerbehörde sei nicht zu rechnen. Denn es bestehe kein Anspruch auf Elternnachzug zu einem ausländischen Kind nach § 36 Abs. 1 AufenthG. Zum einen seien die Kinder nicht im Besitz einer Niederlassungserlaubnis. Zum anderen halte sich die Kindesmutter als personensorgeberechtigter Elternteil bereits im Bundesgebiet auf. Schließlich sei der Lebensunterhalt nicht gesichert. Abgesehen davon seien die örtlichen Ausländerbehörden in der Regel nicht bereit, eine Urkundenprüfung des Reisepasses vorzunehmen. Sie würden die Urkundenprüfung vielmehr der deutschen Auslandsvertretung im Visumverfahren überlassen, die in der Regel sechs Monate in Anspruch nehme. Eine familienfreundliche Ausgestaltung des Visumverfahrens von kurzer Dauer, wie vom Verwaltungsgericht unterstellt, sei konkret nicht zu erwarten. Nach Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 Abs. 2 EMRK bestehe somit ein rechtliches Ausreisehindernis im Sinne des § 60a Abs. 2 AufenthG. Der Antragsteller habe Anspruch auf Erteilung einer Duldung und erfülle die tatbestandlichen Voraussetzungen einer Chancenaufenthaltserlaubnis gemäß § 104c Abs. 1 AufenthG. Unter dem Gesichtspunkt des effektiven Rechtsschutzes komme dem Antrag auf Erteilung einer Chancen-Aufenthaltserlaubnis im vorliegenden Fall durchaus schon eine aufschiebende Wirkung zu.
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Mit weiterem Schriftsatz vom 26. Januar 2023 wurde ergänzend vorgetragen, dass, ebenso wie in Nigeria, auch die Elfenbeinküste zu den afrikanischen Staaten gehören würde, die eine Urkundenüberprüfung erforderten. Die Urkundenprüfung könne aber nur im Wege der Amtshilfe, d.h. auf Antrag der Ausländerbehörde, bei der Auslandsvertretung stattfinden. Im Rahmen einer Vorab-Zustimmung für die Nachholung eines Visumverfahrens würde jedoch die Ausländerbehörde keine Urkundenüberprüfung durchführen lassen. Urkundenüberprüfungen im Wege der Amtshilfe würden nur beim Standesamt stattfinden, nicht jedoch bei der Ausländerbehörde für die Nachholung eines Visumverfahrens. Eine Auskunft bei der Ausländerbehörde der Stadt A. werde dies bestätigen.
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Mit weiterem Schriftsatz vom 27. Januar 2023 wurde weiter ergänzend im Hinblick auf die Vorgaben des BVerfG vom 9. Dezember 2021 – 2 BvR 1333/21 sowie die Rechtsprechung des BayVGH vom 7. Dezember 2021 – 10 BV 21.1821 vorgetragen, dass im vorliegenden Fall – anders als im Fall des oben erwähnten 10. Senats – keine Zusage der örtlichen Ausländerbehörde zu einer Vorabzustimmung vorliege. Es fehle damit an der Grundlage einer vom BVerfG geforderten Prognose über den zumutbaren Zeitraum einer vorübergehenden Trennung. Nicht jede nur vorübergehende Trennung sei schon vereinbar mit dem Schutz der Familie. Die Vorabzustimmung nach § 31 Abs. 3 AufenthV setze einen Nachzugsanspruch voraus, der einfachrechtlich nach § 36 Abs. 1 AufenthG nicht gegeben sei. Der in der Rechtsprechung des 10. Senats pauschal unterstellte verfassungsrechtliche Anspruch aus § 36 Abs. 2 AufenthG werde in der Praxis, auf die es nach der Rechtsprechung des BVerfG entscheidend ankomme, weder bei den Ausländerbehörden im Rahmen der Vorabzustimmung noch bei den deutschen Auslandsvertretungen im Visumverfahren umgesetzt. Die sich daraus ergebenden Unsicherheiten und Verzögerungen seien weder mit dem Familienschutz noch mit dem Wohl eines Kleinkindes vereinbar.
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Nachdem der Antragsgegner mit Schriftsatz vom 8. Februar 2023 umfangreich erwidert hatte, nahm der Antragsteller mit Schriftsatz vom 23. Februar 2023 dazu Stellung und ließ ausführen: grundsätzlich sei vorauszuschicken, dass der Antragsteller aufgrund der neuen Regelung zum Chancen-Aufenthaltsrecht gemäß § 104c AufenthG seine ursprüngliche Bereitschaft zur Nachholung eines Visumverfahrens nicht weiterverfolgt habe. Sollte sich herausstellen, dass sein Antrag auf Erteilung einer Chancen-Aufenthaltserlaubnis abgelehnt werden müsste, sei der Antragsteller weiterhin bereit, den Familiennachzug im Visumverfahren nachzuholen. Dann werde er auch bei der Ausländerbehörde der Stadt A. eine Vorabzustimmung zum Familiennachzug und eine Urkundenprüfung seines Reisepasses beantragen. Nach Lage der Dinge komme jedoch für den Antragsteller die Erteilung einer Chancen-Aufenthaltserlaubnis durchaus noch in Betracht. Durch die Stempelung der Duldungsbescheinigung als erloschen vom 8. November 2022 sei der geduldete Aufenthalt nicht unterbrochen worden. Denn der Antragsteller sei nach Vorlage seines Reisepasses nicht vollziehbar (automatisch) abschiebbar gewesen. Zum einen seien die tatsächlichen Voraussetzungen für eine Abschiebung noch nicht gegeben gewesen. Insbesondere sei noch kein Flug gebucht worden. Zum anderen sei die zentrale Ausländerbehörde aus denselben verfassungsrechtlichen Gründen, die einen Familiennachzug im Visumverfahren gemäß § 36 Abs. 2 AufenthG zwingend erfordern würden, daran gehindert gewesen, den Antragsteller von seiner Familie auf unabsehbare Zeit zu trennen. Der Antragsteller hätte somit Anspruch auf den Fortbestand seiner Duldung. Ebenso wenig sei der Aufenthalt des Antragstellers durch einen Grenzübertritt nach Frankreich und eine unerlaubte Wiedereinreise unterbrochen worden. Der Strafbefehlsantrag der Staatsanwaltschaft habe sich als unbegründet erwiesen und sei abgelehnt worden. Der Antragsteller sei am Abend des 20. November 2020 mit dem Flixbus lediglich nach S. gefahren, um dort in den Morgenstunden des 21. November 2020 anzukommen und eine Bekannte zu besuchen. Am 21. November 2020 sei er mit einem TGV aus Paris kommend nach A. zurückgefahren. Auf dieser Rückfahrt sei der Antragsteller kontrolliert worden. Aufgrund seiner Fahrkarte habe er jedoch nachweisen können, dass er den Zug erst in S. bestiegen gehabt habe. Ein Grenzübertritt habe somit nicht stattgefunden.
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Die zulässige Beschwerde hat keinen Erfolg. Die in der Beschwerdebegründung dargelegten Gründe, auf die der Verwaltungsgerichtshof nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO seine Prüfung des Beschwerdevorbringens im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes zu beschränken hat, rechtfertigen keine Abänderung der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung und folglich auch keine Aussetzung aufenthaltsbeendender Maßnahmen.
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Es ist kein auf vorübergehender Aussetzung der Abschiebung durch Erteilung einer Duldung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG gerichteter Anordnungsanspruch (§ 123 Abs. 1, 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO) glaubhaft gemacht. Auch unter Berücksichtigung des Beschwerdevorbringens ergibt sich nicht, dass dem Antragsteller (vorläufig) eine Duldung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG zu erteilen bzw. eine Erwerbstätigkeit zu gestatten wäre. Ein durch eine einstweilige Aussetzung der Abschiebung zu sichernder Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104c Abs. 1 oder § 25 Abs. 5 AufenthG besteht nicht (1., 2.). Ein Abschiebungshindernis wegen rechtlicher Unmöglichkeit nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ergibt sich auch nicht aus den ausländerrechtlichen Schutzwirkungen nach Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK (3.).
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1. Es ist nichts dafür ersichtlich, dass es im vorliegenden Fall aus Rechtsschutzgründen (Art. 19 Abs. 4 GG) ausnahmsweise geboten wäre, dem Antragsgegner die Abschiebung des Antragstellers vorläufig zu untersagen, weil ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104c Abs. 1 AufenthG durch eine Duldung im Wege einer einstweiligen Anordnung zu sichern wäre:
11
Wie das Verwaltungsgericht zutreffend dargelegt hat, erfüllt der Antragsteller die Voraussetzungen des § 104c Abs. 1 AufenthG insofern nicht, weil er nach dem 29. August 2022 kein „geduldeter Ausländer“ mehr war, da zu diesem Zeitpunkt seine Duldung erloschen war und eine Verlängerung deswegen nicht mehr erfolgte, da nach Vorlage des ivorischen Passes des Antragstellers insoweit keine Duldungsgründe mehr vorlagen. Darüber hinaus hat der Antragsgegner zutreffend darauf hingewiesen, dass der Antragsteller auch nicht die zeitlichen Voraussetzungen des § 104c AufenthG erfüllt. Dazu hätte er sich am Stichtag 31. Oktober 2022 seit fünf Jahren ununterbrochen geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis im Bundesgebiet aufhalten müssen. Zwar ist der Antragsteller am 12. Juli 2017 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist, jedoch endete die Gültigkeit seiner letzten Duldung bereits mit Ablauf des 29. August 2022, sodass der Antragsteller sich am Stichtag 31. Oktober 2022 zwar seit mehr als fünf Jahren im Bundesgebiet aufgehalten hat, jedoch am Stichtag 31. Oktober 2022 nicht mehr geduldet war.
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Soweit der Antragsteller noch vorträgt, dass nach dem 29. August 2022 zumindest noch materielle Duldungsgründe vorgelegen hätten und er deshalb Anspruch auf den Fortbestand seiner Duldung gehabt hätte, ist dies nicht zutreffend (s. nachfolgend 3.).
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2. Auch die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG wegen rechtlicher Unmöglichkeit der Ausreise kommt – wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausführt – nicht in Betracht. Zwar darf grundsätzlich nach § 10 Abs. 3 Satz 1 AufenthG einem unanfechtbar abgelehnten Asylbewerber – wie dem Antragsteller – ein Aufenthaltstitel nach Maßgabe von Kapitel 2 Abschnitt 5 des AufenthG und damit auch nach Maßgabe des in diesem Abschnitt enthaltenen § 25 Abs. 5 AufenthG erteilt werden. Allerdings steht die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach dieser Vorschrift im Ermessen der Ausländerbehörde. Der Antragsteller hat jedoch nicht glaubhaft gemacht, dass hinsichtlich dieser Ermessensentscheidung eine sog. Ermessensreduzierung auf Null vorliegt. Eine derartige Ermessensreduzierung ergibt sich insbesondere nicht aus Art. 6 GG oder Art. 8 Abs. 1 EMRK (vgl. sogleich unter 3.).
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3. Ein Anspruch auf die beantragte Aussetzung der Abschiebung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG im Hinblick auf den verfassungsrechtlich gewährleisteten Schutz der Familie nach Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK ist – wie das Verwaltungsgericht zutreffend festgestellt hat – nicht glaubhaft gemacht.
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Nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, solange seine Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird.
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Die Abschiebung des Antragstellers ist hier nicht deshalb aus rechtlichen Gründen unmöglich, weil sie mit der erforderlichen überwiegenden Wahrscheinlichkeit den Schutz der Familie nach Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK in unverhältnismäßiger Weise beeinträchtigen würde.
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Art. 6 GG vermittelt keinen unmittelbaren Anspruch auf Einreise und Aufenthalt im Bundesgebiet. Dies gilt auch für den Nachzug zu berechtigterweise in Deutschland lebenden Familienangehörigen. Allerdings sind die Ausländerbehörden verpflichtet, bei ihren Entscheidungen die bestehenden familiären Bindungen eines Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, zu berücksichtigen und sie entsprechend ihrem Gewicht in den behördlichen Erwägungen zur Geltung zu bringen (vgl. BVerfG, B.v. 10.5.2008 – 2 BvR 588/08 – juris). Ebenso wenig wie Art. 6 GG gewährleistet Art. 8 Abs. 1 EMRK ein Recht des Ausländers, in einen bestimmten Mitgliedstaat einzureisen und sich dort aufzuhalten. Ein Staat ist vielmehr berechtigt, die Einreise von Ausländern in sein Hoheitsgebiet und ihren Aufenthalt dort nach Maßgabe seiner vertraglichen Verpflichtungen zu regeln (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte – EGMR –, U.v. 18.10.2006 (Üner) Nr. 46410/99 – juris). Maßnahmen im Bereich der Einwanderung können jedoch das Recht auf Achtung des Familienlebens berühren. Eingriffe sind unter den Voraussetzungen des Art. 8 Abs. 2 EMRK statthaft und müssen ein ausgewogenes Gleichgewicht zwischen den gegenläufigen Interessen des Einzelnen und der Gesellschaft herstellen. Dabei ist eine Abwägung nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip durchzuführen (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 30.3.2010 – 1 C 8.09 – juris m.w.N. zur Rechtsprechung des EGMR).
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Im Hinblick auf die Schutzwirkungen aus Art. 8 Abs. 2 EMRK ist vorliegend auch zu berücksichtigen, dass der Aufenthalt des Antragstellers im Bundesgebiet bislang allein auf dessen Willen beruhte und zu jedem Zeitpunkt unsicher war, was gegen die Eröffnung des Schutzbereichs des Art. 8 Abs. 1 EMRK sprechen kann (vgl. EGMR in seinen Entscheidungen „Ghiban“, 16.9.2004 – Nr. 11103/03 – juris, NVwZ 2005, 1046 und „Draghan“, 7.10.2004 – Nr. 33743/03 – juris, NVwZ 2005, 1043; zum geringen Gewicht von Aufenthaltszeiten wegen der Durchführung von Asylverfahren im Rahmen des Art. 8 EMRK vgl. U.v. 8.4.2008 – Nnyanzi – Bw. – Nr. 21878/06 Rn. 76).
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Die aufenthaltsrechtlichen Schutzwirkungen aus Art. 6 GG entfalten sich nicht schon aufgrund formalrechtlicher familiärer Bindungen; entscheidend ist vielmehr die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern (vgl. BVerfG, B.v. 12.5.1987 – 2 BvR 1226/83 – juris Rn. 87; B.v. 8.12.2005 – 2 BvR 1001/04 – juris Rn. 17 ff. m.w.N; B.v. 23.1.2006 – 2 BvR 1935/05 – juris Rn. 16.). Bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen, die den Umgang mit einem Kind berühren, ist maßgeblich auch auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist. Dabei ist grundsätzlich eine umfassende Betrachtung geboten, bei der auf der einen Seite die familiären Bindungen zu berücksichtigen sind, auf der anderen Seite aber auch die sonstigen Umstände des Einzelfalles (vgl. BVerfG, B.v. 5.6.2013 – 2 BvR 586/13 – juris, Rn. 12 m.w.N.).
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Bei der vorzunehmenden Bewertung der familiären Beziehungen verbietet sich eine schematische Einordnung und Qualifizierung als entweder aufenthaltsrechtlich grundsätzlich schutzwürdige Lebens- und Erziehungsgemeinschaft oder Beistandsgemeinschaft oder aber als bloße Begegnungsgemeinschaft ohne aufenthaltsrechtliche Schutzwirkungen, zumal auch der persönliche Kontakt mit dem Kind in Ausübung eines Umgangsrechts unabhängig vom Sorgerecht Ausdruck und Folge des natürlichen Elternrechts und der damit verbundenen Elternverantwortung ist und daher unter dem Schutz des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG steht. Nicht entscheidend ist, ob eine Hausgemeinschaft vorliegt und ob die von einem Familienmitglied erbrachte Lebenshilfe auch von anderen Personen erbracht werden könnte. Der Annahme einer familiären Lebensgemeinschaft steht nicht entgegen, dass ein Elternteil nur ausschnittsweise am Leben teilnimmt und keine alltäglichen Erziehungsentscheidungen trifft. Der spezifische Erziehungsbeitrag eines Elternteils wird durch die Betreuung des Kindes durch den anderen Elternteil nicht entbehrlich. Die Entwicklung eines Kindes wird nicht nur durch quantifizierbare Betreuungsbeiträge der Eltern, sondern auch durch die geistige und emotionale Auseinandersetzung geprägt. Es kommt jedoch darauf an, ob die vorhandenen Kontakte in ihrer Bedeutung für das Verhältnis zum Kind dem auch sonst Üblichen entsprechen und auf diese Weise die Vater-Kind-Beziehung gelebt wird. Erforderlich ist daher, dass der Sorgeberechtigte nach außen erkennbar in ausreichendem Maße Verantwortung für die Betreuung und Erziehung seines minderjährigen Kindes übernimmt (BayVGH, B.v. 17.12.2018 – 10 CE 18.2177 – juris Rn. 19; B.v. 28.7.2015 – 10 ZB 15.858 – juris Rn. 5). Es kommt darauf an, ob zwischen dem Ausländer und seinem Kind auf Grund des gepflegten persönlichen Umgangs ein Eltern-Kind-Verhältnis besteht, das von der nach außen manifestierten Verantwortung für die leibliche und seelische Entwicklung des Kindes geprägt ist (VGH BW, U.v. 20.9.2018 – 11 S 240/17 – juris Rn. 80; U.v. 5.8.2002 – 1 S 1381/01 – juris, Rn. 19). Rechtliche Schutzwirkungen entfalten Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 Abs. 1 EMRK nur dann, wenn im konkreten Einzelfall eine tatsächliche Verbundenheit zwischen dem Elternteil und seinem Kind besteht, die eine hinreichende Konstanz der Beziehung erwarten lässt und auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist (BVerfG, B.v. 5.6.2013 – 2 BvR 586/13 – juris Rn. 14). Die Folgen einer vorübergehenden Trennung haben insbesondere dann hohes, gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechendes Gewicht, wenn ein noch sehr kleines Kind betroffen ist, das den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen kann (BVerfG, B.v. 1.12.2008 – 2 BvR 1830/08 – juris Rn. 33). Zu berücksichtigen ist, dass der persönliche Kontakt des Kindes zu seinen Eltern und der damit verbundene Aufbau und die Kontinuität emotionaler Bindungen zu Mutter und Vater in der Regel der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes dienen (BVerfG, B. v. 9.12.2021, 9.12.2021 – 2 BvR 1333/21 – juris Rn. 48).
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Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe ist festzuhalten: Da der Antragsteller betreffend seine Beziehung zu der Kindesmutter und den gemeinsamen Kindern bislang nichts dargelegt hat, muss offenbleiben, ob eine aufenthaltsrechtlich schutzwürdige Lebens- und Erziehungsgemeinschaft vorliegt. Es ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, ob – und wenn ja, in welchem Umfang – der Antragsteller Verantwortung für die Betreuung und Erziehung seiner minderjährigen Kinder übernommen hat. Auch fehlt es an Ausführungen dazu, dass die Kindesmutter allein nicht – mehr – in der Lage wäre, ihren Kindern die erforderliche Fürsorge wie bisher zu gewähren bzw. warum (zusätzliche) Betreuungsmaßnahmen durch den Antragsteller vorliegend zwingend erforderlich wären.
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Aber selbst bei Unterstellung insbesondere eines hinreichenden Maßes an wahrgenommener Elternverantwortung durch den Antragsteller würde sich vorliegend weder aus Art. 6 GG noch aus Art. 8 Abs. 1 EMRK ergeben, dass eine Beendigung des Aufenthalts des Antragstellers zur Durchführung des Visumverfahrens unzulässig wäre:
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Es ist mit dem verfassungsrechtlichen Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 GG grundsätzlich vereinbar, einen Ausländer auf die Einholung des erforderlichen Visums zu verweisen. Der mit der Durchführung des Visumverfahrens üblicherweise einhergehende Zeitablauf ist von demjenigen, der die Einreise in das Bundesgebiet begehrt, regelmäßig hinzunehmen (BVerfG, B.v. 22.12.2021 – 2 BvR 1432721 – juris Rn. 43, B.v. 9.12.2021 – 2 BvR 1333/21 – juris LS 2a, Rn. 47 m.w.N., B.v. 10.5.2008 – 2 BvR 588/08 juris, B.v. 17.5.2011 – 2 BvR 5625/10 – juris). Allein das Bestehen einer familiären Lebensgemeinschaft führt ebenso wenig dazu, regelmäßig von der Unzumutbarkeit der Einhaltung des Visumverfahrens auszugehen, wie der Umstand, dass kleine Kinder (hier: ein und zwei Jahre alte) Kinder betroffen sind, da es im Verantwortungsbereich des Ausländers liegt, die Ausreisemodalitäten und den Ausreisezeitpunkt in Absprache mit der zuständigen Ausländerbehörde so familienverträglich wie möglich zu gestalten (vgl. BayVGH, B.v. 3.9.2019 – 10 C 19.1700 – juris Rn. 5 m.w.N., B.v. 19.6.2018 – 10 CE 18.994 – juris Rn. 5). Für den Antragsteller bedeutet dies grundsätzlich, dass er als ohne das erforderliche Visum eingereister Asylbewerber nach erfolglosem Abschluss seines Asylverfahrens grundsätzlich – nicht anders als jeder andere Ausländer – ein Sichtvermerkverfahren im Heimatland durchzuführen hat, um einen asylunabhängigen Aufenthaltstitel zu erlangen.
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Ist von einer persönlichen Verbundenheit zwischen Elternteil und Kind auszugehen, ist eine Prognose anzustellen, mit welcher Trennungszeit bei Nachholung eines Visumverfahrens tatsächlich zu rechnen wäre. In die Prognose der Trennungszeit ist insbesondere einzubeziehen, wie lange ein Visumverfahren voraussichtlich dauern würde und welche Auswirkungen ein derartiger Auslandsaufenthalt des Ausländers für die Familie hätte (vgl. BVerwG, U.v. 30.7.2013 – 1 C 15/12 – juris). Diesbezüglich muss die Dauer des Visumverfahrens absehbar und insbesondere auch geklärt sein, ob die grundsätzliche Möglichkeit zum Familiennachzug besteht (vgl. BayVGH, U.v. 7.12.2021 – 10 BV 21.1821 – Rn. 40 m.w.N.; OVG SH, B.v. 3.1.2022 – 4 MB 68/21 – juris). Bei dieser Prognose ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts neben „einfachrechtlichen Unsicherheiten“ (bezogen auf den in Betracht kommenden familiären Aufenthaltstitel) eine eventuell fehlende Mitwirkung des Betroffenen im Visumverfahren ebenso zu berücksichtigen (BVerfG, B.v. 9.12.2021 – 2 BvR 1333/21 – juris Rn. 52 ff.). Denn die tatsächliche Dauer des Visumverfahrens hängt entscheidend von der Mitwirkung des Ausländers ab. Eine fehlende Mitwirkung kann daher auch längere Wartezeiten rechtfertigen. Zudem würde es die Erkenntnisfähigkeit von Behörden und Gerichten überfordern, bei der Prognose über die Dauer des Visumverfahrens und der damit verbundenen Trennung des Ausländers von seinem in Deutschland aufenthaltsberechtigten Kind eine präzise Vorstellung davon zu entwickeln, mit welcher Trennungszeit tatsächlich im Falle der Duldungsversagung zu rechnen wäre, wenn der Ausländer nicht das in seiner Sphäre Liegende beiträgt, um das Verfahren zu betreiben und zu einem zeitnahen Abschluss zu bringen (vgl. BVerfG, B.v. 9.12.2021, a.a.O. Rn. 59). Der Ausländer hat es in diesem Zusammenhang durch die Gestaltung seiner Ausreise auch selbst in der Hand, die für die Durchführung des Visumverfahrens erforderliche Dauer seiner Abwesenheit im Bundesgebiet möglichst kurz zu halten, indem er beispielsweise – unter Mitwirkung der zuständigen Ausländerbehörde – deren Vorabzustimmung nach § 31 Abs. 3 AufenthV einholt (vgl. BayVGH, B.v. 19.6.2018 – 10 CE 18.993 – juris Rn. 5). Im Rahmen der Prognose der voraussichtlichen tatsächlichen Trennungszeit ist darüber hinaus wegen des erforderlichen Antrags auf Erteilung eines Visums die Wartezeit auf einen Termin zur Antragstellung ebenso zu berücksichtigen (BVerfG, B.v. 9.12.2021 – 2 BvR 1333/21- juris Rn.60) wie ein möglicherweise infolge der Abschiebung eintretendes Einreise- und Aufenthaltsverbot.
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Im Rahmen der Abwägungsentscheidung (ob eine vorübergehende Trennung in Anbetracht der prognostischen Trennungszeit zumutbar ist) ist zu berücksichtigen, dass die Regelungen in § 5 Abs. 2 Satz 1 Nrn. 1 und 2 AufenthG dem Schutz wichtiger öffentlicher Interessen dienen. Die Pflicht zur Einreise mit dem erforderlichen Visum soll gewährleisten, dass die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug vor der Einreise geprüft werden können, um die Zuwanderung von Personen, die diese Voraussetzung nicht erfüllen, von vornherein zu verhindern. Dabei dürfen auch generalpräventive Aspekte Berücksichtigung finden, damit das Visumverfahren seine Funktion als wichtiges Steuerungsinstrument der Zuwanderung wirksam erfüllen kann. § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG wirkt dem Anreiz entgegen, nach illegaler Einreise Bleibegründe zu schaffen mit der Folge, dieses Verhalten mit einem Verzicht auf das vom aus Ausland durchzuführende Visumverfahren zu honorieren. Die bewusste Umgehung des Visumverfahrens darf nicht folgenlos bleiben, um dieses wichtige Steuerungsinstrument der Zuwanderung nicht zu entwerten. Ausnahmen von der Visumpflicht nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG sind daher prinzipiell eng auszulegen (BVerwG, U.v. 10.12.2014 – 1 C 15/14, U.v. 11.1.2011 – 1 C 23/09 – jeweils juris). Auch Ausländer, die als Asylbewerber eingereist sind und deren Asylantrag erfolglos geblieben ist, müssen einen asylunabhängigen Aufenthaltstitel im Sichtvermerkverfahren einholen, wenn sie nicht aus anderen Gründen davon befreit sind oder den Aufenthaltstitel ausnahmsweise nach der Einreise einholen dürfen (BVerwG, U.v. 3.6.1997 – 1 C 1/97 – NVWZ 1998, 187; Hailbronner, AuslR, Stand: 5/2021 § 5 AufenthG Rn. 53). Auch kann sich in der Abwägungsentscheidung zu Lasten des Ausländers auswirken, dass er Einfluss darauf hat, rechtzeitig einen Termin bei der Auslandsvertretung zu vereinbaren, die Vorabzustimmung zu erreichen und durch freiwillige Ausreise dem Einreise- und Aufenthaltsverbot zu entgehen bzw. auf dessen Verkürzung nach § 11 Abs. 4 AufenthG hinzuwirken (BVerfG, B.v. 9.12.2021 – 2 BvR 1333/21 – juris Rn. 61).
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Das Verwaltungsgericht hat ausgeführt, dass im Ergebnis keine Anhaltspunkte dafür bestünden, dass dem Antragsteller nicht grundsätzlich eine Aufenthaltserlaubnis zu „humanitären“ Zwecken erteilt werden könnte. Der Antragsgegner hat im Beschwerdeverfahren dargelegt, das Verwaltungsgericht habe die Durchführung eines Visumverfahrens für einen Aufenthaltstitel (zu humanitären Zwecken; richtig sei wohl: zu familiären Zwecken) im Hinblick auf Art. 6 GG für zumutbar gehalten. Er hat den Ausführungen des Verwaltungsgerichts nicht widersprochen, so dass der Senat im hiesigen Eilverfahren zu Gunsten des Antragstellers zu Grunde legt, dass auch der Antragsgegner (wie wohl auch das Verwaltungsgericht) vom (möglichen) Vorliegen einer außergewöhnlichen Härte im Sinne des § 36 Abs. 2 AufenthG ausgeht, zumal der Antragsgegner in der Beschwerdeerwiderung ausdrücklich darauf hinweist, dass die besonderen Schutzwirkungen aus Art. 6 Abs. 1 und 2 GG und deren hohes Gewicht von den zuständigen Behörden und Verwaltungsgerichten bei der Auslegung und Anwendung von § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen seien. Daher treffe die Befürchtung des Antragstellers, die Auslandsvertretung könne das Vorliegen einer außergewöhnlichen Härte gemäß § 36 Abs. 2 AufenthG (trotz Vorabzustimmung) verneinen, nicht zu. Der Senat ist daher der Auffassung, dass vorliegend für den Antragsteller die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 36 Abs. 2 AufenthG grundsätzlich in Betracht kommt.
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„Einfachrechtliche Unwägbarkeiten bzw. Unsicherheiten“ vermindern die Wahrscheinlichkeit, dass dem Antragsteller tatsächlich ein Visum nach § 36 Abs. 2 AufenthG erteilt werden wird, nicht entscheidend. Der Antragsgegner hat im Beschwerdeverfahren ausgeführt, dass die Kindsmutter und jedenfalls der ältere Sohn des Antragstellers den subsidiären Schutzstatus besäßen, sodass ein Familienleben offenkundig nicht in der Elfenbeinküste geführt und die familiäre Lebenshilfe des Antragstellers für seine kleinen Söhne nur in Deutschland erbracht werden könnte. Hinsichtlich der „hohen Hürden“ (vgl. BVerfG, B.v. 9.12.2021 – 2 BvR 1333/21 Rn. 53) der Erteilung eines Visums nach § 36 Abs. 2 AufenthG sei zu berücksichtigen, dass eine außergewöhnliche Härte in diesem Sinne grundsätzlich voraussetze, dass der schutzbedürftige Familienangehörige ein eigenständiges Leben nicht führen könne, sondern auf die Gewährung familiärer Lebenshilfe dringend angewiesen sei und dass diese Hilfe in zumutbarer Weise nur in Deutschland erbracht werden könne (BVerwG, U.v. 30.7.2013 – 1 C 15.12 – juris Rn. 23): Ein entsprechendes Angewiesen sein könne sich für sehr kleine Kinder ergeben, die aufgrund ihres Alters ständiger Pflege und Betreuung und deshalb der Einbindung in die familiäre Lebensgemeinschaft bedürften. Diese besonderen Schutzwirkungen aus Art. 6 Abs. 1 und 2 GG und deren hohes Gewicht seien von den zuständigen Behörden und Verwaltungsgerichten bei der Auslegung und Anwendung von § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Dem hat der Antragsteller nichts mehr entgegengesetzt.
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Es sind auch keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass im vorliegenden Fall die Befürchtung des Antragstellers, dass eine familienfreundliche Ausgestaltung des Visumverfahrens von kurzer Dauer, wie vom Verwaltungsgericht unterstellt, konkret nicht zu erwarten sei, zutreffend sein könnte. Vielmehr ergibt sich aus dem Vermerk über den Termin bei der Ausländerbehörde über die Rückkehrberatung des Antragstellers am 8. Dezember 2022 (Bl. 807 ff.), dass bei Mitwirkung des Antragstellers (Einholung Vorabzustimmung, Durchführung einer Urkundenüberprüfung) mit einer Aufenthaltsdauer im Ausland von lediglich ca. 5-10 Werktagen zu rechnen sei.
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Die konkrete Berechnung der prognostischen Dauer des Visumverfahrens des Antragstellers im Herkunftsland durch das Verwaltungsgericht hat der Antragsteller nicht substantiiert angegriffen. Das Verwaltungsgericht geht bei einer entsprechenden Mitwirkung und Vorbereitung (Einholung einer Vorabzustimmung, Urkundenüberprüfung von Deutschland aus) von einer Zeit von 5 bis 10 Arbeitstagen für ein Visumverfahren in der Elfenbeinküste aus. Gleichzeitig könne eine fehlende Mitwirkung des Antragstellers entgegen seiner Mitwirkungspflicht nach § 82 AufenthG grundsätzlich auch längere Wartezeiten rechtfertigen, die vorliegend nach Mitteilung der Deutschen Botschaft in Abidjan in der Regel drei Monate betrage, was das Verwaltungsgericht ebenfalls noch als zumutbar ansah. Allerdings hat das Verwaltungsgericht dabei nicht berücksichtigt, dass die Aufenthaltsdauer im Ausland bei fehlender Mitwirkung mindestens sieben Monate beträgt (Bearbeitung des Antrags mindestens drei Monate, Urkundenüberprüfung weitere drei Monate oder wesentlich länger, Wartezeit auf den Termin 2-4 Wochen), was jedoch dem Antragsteller bereits an dem Termin zur Beratung über die Nachholung des Visumsverfahrens am 8. Dezember 2022 von der Ausländerbehörde mitgeteilt worden war. Darüber hinaus wäre auch noch das Einreise- und Aufenthaltsverbot (30 Monate) aus dem ablehnenden Asylbescheid zu berücksichtigen, welches jedoch nach § 11 Abs. 4 AufenthG gegebenenfalls verkürzt werden könnte.
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Der Senat hält jedoch im Hinblick darauf, dass der Antragsteller bislang keinerlei Mitwirkungshandlungen unternommen hat, um die Visumerteilung von hier aus vorzubereiten und damit die Trennungszeit von seiner Familie auf lediglich wenige Tage zu reduzieren, eine daraus ggf. resultierende Trennungszeit im Bereich von sieben Monaten im vorliegenden Einzelfall im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK unter Berücksichtigung des Wohles der in den Jahren 2021 und 2022 geborenen Söhne ausnahmsweise noch als zumutbar an. Unter Berücksichtigung des Alters der Kinder des Antragstellers, die bereits damit umzugehen hatten, dass der Vater während ihrer besonders sensiblen Kleinkindphase nicht mit Ihnen in einer gemeinsamen Wohnung gewohnt hat, und der Möglichkeit des Führens und der Aufrechterhaltung eines medialen Kontaktes zu ihnen, ist in dieser Zeit nicht zu erwarten, dass die Kleinkinder des Antragstellers die räumliche Trennung als endgültigen Verlust erfahren könnten, auch wenn es bei Kleinkindern in diesem Alter wohl eher nicht möglich ist, Ihnen die Hintergründe für die vorübergehende Abwesenheit des Vaters zu vermitteln. Andererseits ist jedoch zu berücksichtigen, dass der Antragsteller seit Jahren vollziehbar ausreisepflichtig ist. Er hatte es bereits seit geraumer Zeit durch die Gestaltung seiner Ausreise selbst in der Hand, die für die Durchführung des Visumverfahrens erforderliche Dauer seiner Abwesenheit im Bundesgebiet möglichst kurz zu halten, indem er sich vorab für einen Termin für die Visumbeantragung hätte registrieren lassen sowie sich gegebenenfalls um eine Vorabzustimmung der zuständigen Ausländerbehörde nach § 31 Abs. 3 AufenthV hätte bemühen können. Darüber hinaus ist es Aufgabe des bislang insoweit völlig untätigen, verweigernden Antragstellers, seine Lebensgemeinschaft mit der Kindsmutter sowie insbesondere den Kleinkindern glaubhaft zu machen. Dies gilt insbesondere dann, wenn er eine Visumerteilung erst von seinem Heimatland aus betreibt, weil er eine entsprechende Glaubhaftmachung in dem Verfahren im Bundesgebiet bislang versäumt hat. Sollte der Antragsteller noch eine entsprechende Lebensgemeinschaft glaubhaft machen, geht der Senat – wie bereits ausgeführt – von der grundsätzlichen Möglichkeit der Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 36 Abs. 2 AufenthG aus. Soweit daher eine Trennungszeit im Bereich von 7 Monaten nicht ausgeschlossen ist, ist zu berücksichtigen, dass zeitliche Verzögerungen maßgeblich aus der fehlenden Mitwirkung des Antragstellers resultieren.
31
Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller etwa einen unersetzbar notwendigen Beitrag zur Bewältigung eines familiären Alltags leisten würde, auf den seine Kleinkinder auch nicht temporär verzichten könnten, sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.
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Es liegt mithin in der besonderen Verantwortung des Antragstellers, zusammen mit dem anderen Elternteil die ggf. aufgrund seiner Verweigerungshaltung längere Abwesenheit familien- und kindeswohlverträglich (so wie es grundsätzlich auch Eltern tun müssen, die eine berufsbedingte Trennung eines Elternteils vom Kind bewältigen müssen, wie z.B. Soldaten im Auslandseinsatz, Seeleute, Entwicklungshelfer) zu gestalten (vgl. Dietz, NVwZ-Extra 2022, 1 ff.). Wenn die durch die Nachholung des Visumverfahrens einhergehende Trennung des Antragstellers von seinen Kindern einen längeren Zeitraum als die reine Bearbeitungszeit des Visumverfahrens beansprucht, so beruht dies (und eine dadurch etwaig eintretende bzw. stärkere Beeinträchtigung des Kindeswohls) vorliegend auf der eigenverantwortlichen Entscheidung des Antragstellers, zumutbare Mitwirkungshandlungen wie die online zu bewerkstelligende Registrierung bei der Deutschen Botschaft oder die Stellung eines Antrags auf Vorabzustimmung nicht zu erfüllen. Bei verweigerter Mitwirkung im Visumverfahren gebietet es Art. 6 Abs. 1 GG nicht, das öffentliche Interesse an der Einhaltung des Sichtvermerkverfahrens gänzlich zurückzustellen, da dies keinen schonenden Ausgleich der familiären Belange des Ausländers und der gegenläufigen öffentlichen Interessen mehr bedeuten würde (vgl. BayVGH, U.v. 7.12.2021 – 10 BV 21.1821 – juris Rn. 42; B.v. 30.7.2021 – 19 ZB 21.738 – juris).
33
Schon aus den genannten Gründen kommt auch eine Prozesskostenhilfegewährung nicht in Betracht.
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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 161 Abs. 1, 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 2 GKG i.V.m. dem Streitwertkatalog für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.
35
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).