Titel:
Unwirksamkeit der Rechtsmittelbeschränkung bei ungenügenden Feststellungen zum Verwendungskontext einer möglichen Beleidigung
Normenketten:
StGB § 185, § 193
GG Art. 5 Abs. 1
Leitsätze:
Genügen die Feststellung des erstinstanzlichen Gerichts nicht, um darauf unter Beachtung der verfassungsgerichtlichen Vorgaben zur Meinungsfreiheit eine Verurteilung wegen Beleidigung zu stützen, darf das Berufungsgericht nicht von einer zulässigen Beschränkung ausgehen. Es muss in diesem Fall eigene Feststellungen zum Anlass der Äußerungen, zu deren Hintergründen sowie zum genauen Wortlaut treffen und prüfen, ob sich der Angeklagte unter Berücksichtigung von § 193 StGB strafbar gemacht hat. (Rn. 3 – 14)
Bei den Bezeichnungen „schwul“ und „Lügner“ ist nicht von vorne herein eine Einordnung als Schmähkritik zulässig, sondern es bedarf näherer Feststellungen zum Verwendungskontext (Ergänzung zu OLG Celle BeckRS 2015, 19099). (Rn. 12 – 13) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Beleidigung, Schmähkritik, schwul, Lügner, Kontext, Wahrnehmung berechtigter Interessen
Vorinstanz:
LG Regensburg, Urteil vom 22.06.2022 – 4 Ns 708 Js 26512/20
Fundstellen:
StV 2023, 588
LSK 2023, 7006
BeckRS 2023, 7006
Tenor
I. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Regensburg vom 22.06.2022 mit den zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben.
II. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Strafkammer des Landgerichts Regensburg zurückverwiesen.
Gründe
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Das Amtsgericht Straubing hat am 27. September 2021 den Angeklagten wegen Beleidigung in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Monaten verurteilt. Hiergegen haben der Angeklagte sowie die Staatsanwaltschaft, jeweils beschränkt auf den Rechtsfolgenausspruch, form- und fristgerecht Berufung eingelegt. Das Landgericht Regensburg hat mit Urteil vom 22. Juni 2022 die Berufung des Angeklagten als unbegründet verworfen und auf die Berufung der Staatsanwaltschaft unter Verwerfung der Berufung im übrigen den Rechtsfolgenausspruch dahin abgeändert, dass der Angeklagte zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt wird.
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Gegen dieses Urteil richtet sich die frist- und formgerecht eingelegte Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung des sachlichen Rechts rügt. Die Generalstaatsanwaltschaft München hat die Verwerfung der Revision als unbegründet beantragt.
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Die gemäß §§ 333, 341 Abs. 1, §§ 344, 345 StPO zulässige Revision des Angeklagten hat mit der erhobenen Sachrüge jedenfalls vorläufigen Erfolg und führt zur Aufhebung des angefochtenen Berufungsurteils mit den zugrundeliegenden Feststellungen (§ 349 Abs. 2, § 353 Abs. 1 und 2 StPO) und Zurückverweisung der Sache (§ 354 Abs. 2 Satz 1 StPO). Denn das Landgericht ist rechtsfehlerhaft von der Wirksamkeit der Beschränkung der Berufungen des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft auf den Rechtsfolgenausspruch gemäß § 318 StPO ausgegangen, ohne weitere Feststellungen zum Tatvorwurf zu treffen. Dies hat das Revisionsgericht aufgrund der Sachrüge von Amts wegen zu prüfen, weil im Falle der Unwirksamkeit der Beschränkung die Berufungskammer als Tatsacheninstanz eigene Feststellungen zum Schuldspruch hätte treffen müssen (vgl. BayObLG, Beschluss vom 18. März 2021 – 202 StRR 19/21, juris Rn. 3).
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1. Eine Beschränkung der Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch ist grundsätzlich zulässig. Dies gilt allerdings dann nicht, wenn die dem Schuldspruch im angefochtenen Urteil zugrunde liegenden Feststellungen tatsächlicher oder rechtlicher Art unklar, lückenhaft, widersprüchlich oder so knapp sind, dass sich Art und Umfang der Schuld nicht in dem zur Überprüfung des Strafausspruchs notwendigen Maße bestimmen lassen und die erstinstanzlichen Feststellungen deshalb keine ausreichende Grundlage für die Entscheidung des Berufungsgerichts sein können (st. Rspr., grundlegend BGHSt 62, 155, juris Rn. 20 m.w.N.; Meyer-Goßner/Schmitt StPO 65. Aufl. § 318 Rn. 16 ff.; KK/Paul StPO 8. Aufl. § 318 Rn. 7 ff., jeweils m.w.N.) oder unklar bleibt, ob sich der Angeklagte überhaupt strafbar gemacht hat (BGHSt 62, 155 a.a.O.; BayObLG, Beschluss vom 26. Februar 2020 – 202 StRR 4/20 –, juris Rn. 4).
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2. Die knappen Feststellungen des Amtsgerichts genügen nicht, um darauf eine Verurteilung wegen Beleidigung (§ 185 StGB) zu stützen. Denn die Ausführungen berücksichtigen nicht die Vorgaben der ober- und höchstrichterlichen Rechtsprechung zur Meinungsäußerungsfreiheit und zur Rechtfertigung nach § 193 StGB (vgl. dazu BVerfG, stattgebender Kammerbeschluss vom 9. Februar 2022 – 1 BvR 2588/20 –, juris; BVerfG, Beschluss vom 16. Oktober 2020 – 1 BvR 1024/19-, juris; BayObLG, Beschluss vom 7. September 2020 – 206 StRR 220/20-, juris; OLG Bamberg, Beschluss vom 25. November 2013 – 3 Ss 114/13 –, juris Rn. 6; OLG Nürnberg, Beschluss vom 4. Oktober 2007 – 2 St OLG Ss 160/07 –, juris). Das Landgericht wäre daher gehalten gewesen, eigene Feststellungen zu treffen (vgl. OLG Bamberg, Rn. 5 f.; OLG Nürnberg, Rn. 12 f. jew. aaO.)
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a) Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG gibt jedem das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten. Grundrechtlich geschützt sind damit nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts insbesondere Werturteile, also Äußerungen, die durch ein Element der Stellungnahme gekennzeichnet sind. Dass eine Aussage polemisch oder verletzend formuliert ist, entzieht sie nicht dem Schutzbereich des Grundrechts (st. Rspr., vgl. BVerfG, stattgebender Kammerbeschluss vom 9. Februar 2022 – 1 BvR 2588/20 –, juris Rn. 21 m.w.N.; vgl. zum hohen Stellenwert der Meinungsfreiheit auf europäischer Ebene auch EGMR NJW 1999, 1321). Das Grundrecht selbst findet jedoch nach Art. 5 Abs. 2 GG seine Schranken in den allgemeinen Gesetzen, zu denen auch § 185 StGB zählt (BVerfG a.a.O. Rn. 20). Eine strafgerichtliche Verurteilung wegen eines ehrverletzenden Werturteils setzt im Regelfall eine abwägende Gewichtung der Beeinträchtigungen voraus, die der persönlichen Ehre auf der einen und der Meinungsfreiheit auf der anderen Seite drohen (st. Rspr., vgl. BVerfG a.a.O. Rn. 23 m.w.N.). Dieser Einzelfallabwägung bedarf es nur dann nicht, wenn die herabsetzende Äußerung die Menschenwürde eines anderen antastet oder sich als Schmähung oder Formalbeleidigung darstellt (BVerfG a.a.O. Rn. 21, 22 m.w.N.).
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aa) Um eine Formalbeleidigung handelt es sich bei besonders krassen, aus sich heraus herabwürdigenden Schimpfwörtern, die nicht nur in der Hitze einer Auseinandersetzung, sondern mit Vorbedacht verwendet wurden (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 19. Mai 2020 – 1 BvR 2397/19 –, juris Rn. 21). Das maßgebliche Kriterium der Unzulässigkeit der Äußerung ist in diesem Fall nicht der fehlende Sachbezug einer Herabsetzung, sondern die kontextunabhängig gesellschaftlich absolut missbilligte und tabuisierte Begrifflichkeit und damit die spezifische Form dieser Äußerung (BVerfG a.a.O.).
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bb) Bei der Schmähkritik handelt es sich um eine überzogene oder auch ausfällige Kritik, bei der nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund steht (BVerfG a.a.O. Rn. 18). Herabsetzungen in der Ehre sind, auch wenn sie besonders krass und drastisch sind, dann nicht als Schmähung anzusehen, wenn sie ihren Bezug noch in sachlichen Auseinandersetzungen haben. Die Einordnung als Schmähung setzt daher voraus, dass eine Äußerung keinen irgendwie nachvollziehbaren Bezug mehr zu einer sachlichen Auseinandersetzung hat und es bei ihr im Grunde nur um das grundlose Verächtlichmachen der betroffenen Person als solcher geht. Es sind dies Fälle, in denen eine vorherige Auseinandersetzung erkennbar nur äußerlich zum Anlass genommen wird, um über andere Personen herzuziehen oder sie niederzumachen, vornehmlich im Bereich der Privatfehde (vgl. BVerfG a.a.O. Rn. 19). Die Qualifikation einer ehrenrührigen Aussage als Schmähkritik durch den Tatrichter erfordert daher eine umfassende Berücksichtigung von Anlass und Kontext der Äußerung (st. Rspr., vgl. BayObLG, Beschluss vom 26. November 2020 – 202 StRR 86/20-, juris Rn. 32).
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cc) Die Einordnung der Äußerung als Angriff auf die Menschenwürde, Schmähkritik oder Formalbeleidigung ist vom Tatrichter klar kenntlich zu machen und in einer auf die konkreten Umstände des Falles bezogenen Weise zu begründen (vgl. BVerfG a.a.O. Rn. 23). Nimmt der Tatrichter eine Schmähkritik an, erweist es sich in der Regel als unerlässlich, die für diese Beurteilung maßgebenden Gründe im Urteil unter Auseinandersetzung mit objektiv feststellbaren Umständen des Falles nachvollziehbar darzulegen. Insbesondere muss das Gericht deutlich machen, warum aus seiner Sicht ein gegebenenfalls vorhandenes sachliches Anliegen des Äußernden in der konkreten Situation derart vollständig in den Hintergrund tritt, dass sich die Äußerung in einer persönlichen Kränkung erschöpft. Entsprechend ist bei der Formalbeleidigung festzustellen, dass die verwendete Beschimpfung das absolute Mindestmaß menschlichen Respekts verlässt und unabhängig von den Umständen grundsätzlich nicht mit der Meinungsfreiheit vereinbar sein kann (BVerfG a.a.O. Rn. 18 ff.).
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dd) Liegt kein Fall der Schmähung, der Formalbeleidigung oder des Verstoßes gegen die Menschenwürde vor, verlangt Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG bei Anwendung der Strafnorm von § 185 StGB auf Äußerungen zunächst eine der Meinungsfreiheit gerecht werdende Ermittlung des Sinns der infrage stehenden Äußerung (st. Rspr., vgl. BVerfG a.a.O. Rn. 15). Dazu sind grundsätzlich alle Begleitumstände und die gesamte konkrete Situation zu berücksichtigen. Wieweit eine Äußerung durch die Meinungsfreiheit gerechtfertigt sein kann, entscheidet sich anschließend nach Maßgabe einer Abwägung zwischen dem berechtigten sozialen Geltungsanspruch der betroffenen Person und der Meinungsfreiheit des Angeklagten. Der Tatrichter hat sich dabei umfassend mit den konkreten Umständen des Falls und der Situation, in der die Äußerung gefallen ist, auseinanderzusetzen (st. Rspr., BVerfG a.a.O. Rn. 26).
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b) Die Feststellungen des Amtsgerichts zum Sachverhalt und die Ausführungen zur rechtlichen Würdigung unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts des angefochtenen Urteils genügen diesen Anforderungen nicht.
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aa) Die Bezeichnungen „schwul“ und „Lügner“ verletzen weder die Menschenwürde noch stellen sie jeweils ein derart grobes, tabuisiertes Schimpfwort dar, dass sie als Formalbeleidigung gewertet werden könnten. Für eine Einordnung als Schmähkritik hängt die Beurteilung der Wirkung der Formulierungen maßgeblich von der jeweiligen Situation ab, in der die Worte verwendet wurden (vgl. OLG Celle, Urteil vom 27. März 2015 – 31 Ss 9/15 –, juris zu dem Begriff „Lügner“; OLG Köln, Beschluss vom 26. April 2022 – 15 W 15/22 –, juris zu dem Begriff „schwul“).
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bb) Hintergrund der vom Angeklagten verfassten Schreiben war ein Polizeieinsatz. Nach den bislang getroffenen Feststellungen kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Angeklagte annahm, bei dem Einsatz widerrechtlich verletzt worden zu sein, und dass es dem Angeklagten mit seinen Äußerungen nicht allein oder auch nur vorrangig darum ging, den Betroffenen persönlich zu diffamieren, sondern dass sich seine Wortwahl als Teil einer anlassbezogenen Auseinandersetzung darstellt, zumal die Äußerungen im Zusammenhang mit einem Behördenhandeln gefallen sind. Dabei muss auch bedacht werden, dass das Wort „schwul“ in unterschiedlichen Kommunikationszusammenhängen verschiedene Bedeutungen haben kann, und der Angeklagte möglicherweise die Bezeichnung „Lügner“ auf ein konkretes Verhalten des geschädigten Polizeibeamten bezog. Für eine Verurteilung wegen Beleidigung hätte es daher zwingend jeweils näherer Feststellungen zum Verwendungskontext bedurft.
14
c) Das Landgericht durfte somit nicht von einer zulässigen Beschränkung ausgehen und hätte eigene Feststellungen zum Anlass der Äußerungen, zu deren Hintergründen und den Inhalten der Schreiben sowie zum genauen Wortlaut treffen müssen.
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Aufgrund des aufgezeigten Rechtsfehlers ist auf die Revision des Angeklagten das angefochtene Urteil aufzuheben (§ 353 StPO) und die Sache gemäß § 354 Abs. 2 Satz 1 StPO zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere (kleine) Strafkammer des Landgerichts zurückzuverweisen. Die Entscheidung ergeht durch einstimmigen Beschluss gemäß § 349 Abs. 4 StPO.