Inhalt

AG Nürnberg, Endurteil v. 24.03.2023 – 22 C 6651/22
Titel:

Begründeter Entschädigungsanspruch nach der Fluggastrechteverordnung aufgrund von Verspätung

Normenkette:
FluggastrechteVO Art. 2, Art. 3
Leitsätze:
1. Zweck der FluggastrechteVO ist es, durch die Entschädigungspflicht Flugunternehmen dazu zu bewegen, vermeidbare Unannehmlichkeiten für Flugpassagiere zu verhindern oder zumindest zu reduzieren und durch Verzögerungen dennoch entstandene Unannehmlichkeiten abzumildern. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
2. Auf einen kurzen Zwischenstopp legt der Flugpassagier bei seiner Flugbuchung regelmäßig keinen Wert, er will grundsätzlich das Endziel möglichst zügig erreichen. Ein kurzer Zwischenstopp beruht in der Regel also auf organisatorischen und technischen Gründen auf Seiten der Fluggesellschaft. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Entschädigungsansprüche, Verspätung, Flugschein, selbständige Flüge, Flugstrecke, Zielort
Fundstelle:
BeckRS 2023, 6390

Tenor

Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 2.400,00 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 16.08.2022 zu zahlen.
Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.Das Urteil ist für die Klägerin gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
Beschluss.
Der Streitwert wird auf 2.400,00 € festgesetzt.

Tatbestand

1
Die Parteien streiten um Entschädigungsansprüche nach der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste (im Folgenden: „FluggastrechteVO“).
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Die Zedenten … buchten für den 06.06.2022 einen Flug mit der Flugnummer … von Nürnberg (NUE) nach Istanbul (IST), einen weiteren Flug mit der Flugnummer … am 16.06.2022 von Istanbul (IST) nach Antalya (AYT), einen weiteren Flug mit der Flugnummer … am 16.06.2022 von Antalya nach Istanbul und einen Flug mit der Flugnnumer … am gleichen Tag von Istanbul nach Nürnberg.
3
Die Flüge wurden im Rahmen eines Buchungsvorganges bei einem TUI Reisebüro gebucht. Auf den Flugtickets (Blatt 14 ff. der Akte) sind die Flugdaten tabellarisch untereinander aufgeschlüsselt wie folgt:
„von Nürnberg nach Istanbul, Flugnr. …, 06. Juni Abflug …Uhr, Ankunft …Uhr, von Istanbul nach Antalya Flugnr. …, 09. Juni, Abflug … Uhr, Ankunft … Uhr, von Antalya nach Istanbul, Flugnr. …, 16. Juni, Abflug … Uhr, Ankunft … Uhr, von Istanbul nach Nürnberg, Flugnr. …, 16. Juni, Abflug … Uhr, Ankunft … Uhr Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf Blatt 14 ff. der Akte Bezug genommen.“
4
Der Flug von Nürnberg nach Istanbul sollte planmäßig um … Uhr in Nürnberg starten und um … Uhr in Istanbul landen. Die Beklagte war ausführendes Luftfahrtunternehmen. Die Entfernung von Nürnberg nach Istanbul beträgt nach der Großkreisberechnungsmethode 1678 km. Der Flug landete jedoch erst um … Uhr, mithin mit einer Verspätung von 3 Stunden und 45 Minuten. Der weitere Flug von Istanbul nach Antalya am 09.06.2022 wie auch die übrigen Flüge am 16.06.2022 wurden planmäßig durchgeführt.
5
In der Folge traten die Zedenten ihre möglichen Forderungen an die Klägerin ab. Mit Schreiben vom 01.08.2022 setzten die Klägervertreter der Beklagten Frist zur Zahlung von 2400 € bis zum 15.08.2022. Die Beklagte zahlte bis dato nicht.
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Die Klägerin ist der Ansicht, dass ihr Entschädigungsansprüche nach der FluggastrechteVO zustehen.
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Die Klägerin beantragt daher:
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 2400 € zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz ab dem 16.08.2022 zu bezahlen.
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Die Beklagte beantragt,
Die Klage wird abgewiesen.
9
Die Beklagte ist der Meinung, dass es sich um einen einheitlichen Flug von Nürnberg über Istanbul nach Antalya gehandelt habe. Die Verspätung sei damit aufgeholt worden und keine Entschädigungspflicht eingetreten.
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Hinsichtlich des weiteren Sachvortrages wird Bezug genommen auf die gewechselten Schriftsätze, die eingereichten Anlagen und den protokollierten Sachvortrag.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage ist begründet.
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1. Aufgrund der Verspätung des Fluges von Nürnberg nach Istanbul stehen der Klägerseite Entschädigungsansprüche nach der FluggastrechteVO zu.
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Vorliegend handelt es sich nicht um einen einheitlichen Flug von Nürnberg nach Antalya, sondern vielmehr um mehrere nach der FluggastrechteVO gesondert zu beurteilende Flüge – von Nürnberg nach Istanbul, von Istanbul nach Antalya und von Antalya über Istanbul nach Nürnberg.
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a) Der Begriff des Fluges ist in der FluggastrechteVO selbst, insbesondere in Artikel 3, nicht näher definiert.
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Der Begriff des Endzieles hingegen ist unter Artikel 2 beschrieben „als Zielort auf dem am Abfertigungsschalter vorgelegten Flugschein bzw. bei direkten Anschlussflügen dem Zielort des letzten Fluges“.
16
Die im hiesigen Falle vorgelegten Tickets lassen insoweit keine eindeutigen Schlüsse zu. Wie Staudinger in Staudinger/Keiler, Fluggastrechte-Verordnung, Fluggastrechte-VO Art. 2 Rn. 20 zu Recht ausführt, ist der Flugschein für die Frage, ob es sich um einen oder um mehrere selbstständige Flüge i.S.d. Art. 3 FluggastrechteVO handelt, bedeutungslos. Denn der Kunde hat regelmäßig keinen Einfluss darauf, ob bei einer Flugstrecke mit Anschlussflügen das Ticket für die gesamte Strecke bereits am Startflughafen oder für die Anschlussflüge erst am Flughafen der Zwischenlandung ausgehändigt wird. b)
17
Der EuGH beschreibt einen Flug als „im Wesentlichen um einen Luftbeförderungsvorgang, der somit in gewisser Weise eine „Einheit“ dieser Beförderung darstellt, die von einem Luftfahrtunternehmen durchgeführt wird, das die entsprechende Flugroute festlegt (Urteil vom 10. Juli 2008, Rs. Emirates Airlines, C-173/07, Rn. 40). Weiter hat er ausgeführt, dass die Flugroute ein wesentliches Element des Fluges ist, der nach einem von dem Luftfahrtunternehmen im Voraus aufgestellten Flugplan durchgeführt wird (Urteil vom 19. November 2009, Rs. Sturgeon u. a., C-402/07 und C-432/07).
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Grundsätzlich legt der EuGH dem Begriff des einheitlichen Fluges in seiner verbraucherfreundlichen Rechtsprechung weit aus, wie bspw. in der Rs. Wegener (Urteil vom 31.05.2018, Az. C-537/17): „Der Begriff „Endziel“ wird in Art. 2 Buchstabe h der Verordnung Nr. 261/2004 definiert als der Zielort auf dem am Abfertigungsschalter vorgelegten Flugschein bzw. bei direkten Anschlussflügen der Zielort des letzten Fluges des betreffenden Fluggasts (Urteil vom 26. Februar 2013, Folkerts, C-11/11, Rn. 34 und 35). Aus dem Begriff „letzter Flug“ folgt, dass der Begriff „direkte Anschlussflüge“ so zu verstehen ist, dass er zwei oder mehr Flüge bezeichnet, die für die Zwecke des in der Verordnung Nr. 261/2004 vorgesehenen Ausgleichsanspruchs von Fluggästen eine Gesamtheit darstellen, so wie der Flug mit Anschlussflügen in der Rechtssache Folkerts (Urteil vom 26. Februar 2013, C-11/11, Rn. 17 und 18). Eine solche Gesamtheit liegt vor, wenn zwei oder mehrere Flüge Gegenstand einer einzigen Buchung waren, so wie in der Rechtssache Folkerts.“
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Die segmentbezogene Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes hat der EuGH damit in der Rs. Wegener endgültig verworfen.
20
c) Nach überzeugender Ansicht von Steinrötter in BeckOGK, Stand 01.02.2023, FluggastrechteVO Art. 3 Rn. 93, 94, ist als systematisches Argument zunächst Art. 2 lit. h heranzuziehen. Die Definitionsnorm des „Endziels“ beziehe sich (u.a.) auf den „Zielort des letzten Fluges“ bei „direkten Anschlussflügen“. Ein direkter Anschlussflug schade damit der Aufrechterhaltung eines einheitlichen Fluges eindeutig nicht, während Anschlussflüge, welche man nicht mehr als „direkt“ qualifizieren kann, als separat zu beurteilende Flüge anzusehen seien. So bleibe festzuhalten, dass der Verordnungsgeber in bestimmten Fällen offenbar von der separaten Betrachtungsweise, welche auch die Rs. Schenkel im Ausgangspunkt (insoweit zurecht) prägt, abweiche. Allerdings könne man die Bedeutung des Art. 2 lit. h auch strikt auf Art. 7 f. begrenzen, da nur dort der Begriff des „Endziels“ Verwendung findet. Offen bleibe zunächst des Weiteren, was unter einem direkten Anschlussflug zu verstehen ist. Es liege nahe, einen zeitlichen Faktor für die Beschreibung „direkt“ heranzuziehen. Allerdings werde man keine fixe Zeitvorgabe, auch keine zeitliche Höchstgrenze ansetzen können. Das Regelwerk gebe hierfür auch keinerlei Anhaltspunkte. Der Rechtsanwender müsse daher eine Einzelfallbetrachtung unter Berücksichtigung des Sinn und Zwecks des Sekundärrechtsaktes vornehmen. Angemessen erscheine es dabei, eine zügige Weiterreise zu fordern. Diesem Erfordernis sei bei der Wahl des nächstmöglichen Anschlussfluges zweifellos Genüge getan. Eine derart straffe (und mitunter stressige) Reisefortführung sei aber nicht conditio sine qua non für die Erfüllung dieses Kriteriums. So sei vor dem Hintergrund, dass der Reisende auf dem Umsteigeairport besonders schutzwürdig erscheint und für die Zwischenlandung als solche regelmäßig nicht verantwortlich ist, eine wertende Bestimmung angezeigt: Entscheidend müsse sein, ob die Weiterreise oder der Aufenthalt als solcher (Stop-Over) den Schwerpunkt der Zwischenlandung bildet. Im letztgenannten Fall handele es sich im Grunde – auch aus der Sicht des Reisenden – nicht um eine Zwischenlandung, sondern ein gezieltes Anfliegen dieser Destination. Der Reisende könne insoweit kaum damit rechnen, gleichwohl noch europäisch induzierte Fluggastrechte geltend machen zu dürfen, wenn es um Störungen beim Weiterflug von einem außereuropäischen Airport geht. Indizien für einen geplanten (Kurz) Aufenthalt, welcher den Weg zur Einordnung als „direkter Anschlussflug“ verstellt, seien etwa das Verlassen des Flughafenbereiches, Übernachtungen, Besichtigungen von Sehenswürdigkeiten, Abhalten von Geschäftsterminen, private Treffen mit am Umsteigeort domizilierten Personen. Nimmt der Passagier nicht den nächstmöglichen, sondern erst den darauffolgenden Anschlussflug sei dies oft, aber nicht per se schädlich. Hier bedürfe es einer Einzelfallprüfung dahingehend, ob es dem auf dem fremden Flughafen möglicherweise überforderten Fluggast in concreto zumutbar war, unter Inkaufnahme von hohem Zeitdruck und Stress den nächsten Flug zu nehmen. Ab der Wahl des erst drittmöglichen Anschlussfluges oder aber in Fällen, in denen der zweitmögliche Flug den Gesamtflug zeitlich deutlich verlängert, sei ein einheitlicher Flug aber i.d.R. zu verneinen.
21
d) Vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung und den zitierten Überlegungen in der Literatur ergibt sich vorliegend Folgendes:
22
Sinn und Zweck der FluggastrechteVO sind vorrangig zu beachten. Zweck der FluggastrechteVO ist es, durch die Entschädigungspflicht Flugunternehmen dazu zu bewegen, vermeidbare Unannehmlichkeiten für Flugpassagiere zu verhindern oder zumindest zu reduzieren und durch Verzögerungen dennoch entstandene Unannehmlichkeiten abzumildern.
23
Ausgangspunkt der verbraucherfreundlichen Rechtsprechung des EuGH (insbesondere in der Rs. Sturgeon) war das Bestreben der Fluggesellschaften, faktische Annullierungen als große Verzögerungen auszulegen und damit der nach dem Verordnungstext nur für Annulierungen geltenden Entschädigungspflicht nach Art. 7 der FluggastrechteVO zu entziehen. Weitergeführt hat der EuGH dann seine verbraucherfreundliche Rechtsprechung in den o.g. Rs. Folkerts und Rs. Wegener bei einheitlich gebuchten Flügen mit Umsteigeverbindung. Dies allerdings unter der Erwägung, dass der Flugpassagier regelmäßig keinen Einfluss auf die Gestaltung der Flugroute hat und es ihm nur auf ein pünktliches Erreichen des Endzieles ankommt – gleich ob mit oder ohne Zwischenlandung.
24
Auf einen kurzen Zwischenstopp legt der Flugpassagier bei seiner Flugbuchung regelmäßig keinen Wert, er will grundsätzlich das Endziel möglichst zügig erreichen. Ein kurzer Zwischenstopp beruht in der Regel also auf organisatorischen und technischen Gründen auf Seiten der Fluggesellschaft.
25
Nach dem Klägervortrag und nach Aktenlage ist vorliegend aber von einem geplantem mehrtägigen Zwischenaufenthalt auszugehen – zu touristischen oder anderen privaten Zwecken. Denn grundsätzlich hätte erfahrungsgemäß auch am gleichen Tag eine Weiterbeförderung nach Antalya stattfinden können – wenn dies von den Passagieren gewünscht gewesen wäre. Von der insoweit sekundär darlegungspflichtigen Beklagten wurde auch nicht vorgetragen, dass eine frühere Weiterbeförderung nach Antalya vom Flugplan her nicht möglich gewesen wäre. Auf der Rückreise war eine direkte Umsteigeverbindung Antalya – Istanbul – Nürnberg am gleichen Tage jedenfalls ohne Weiteres möglich.
26
Dieser Zwischenaufenthalt wurde aufgrund der Verspätung des ersten Fluges vertragswidrig verkürzt.
27
Kommt der Flug in Istanbul deutlich verspätet an, sind Unannehmlichkeiten für den Passagier, welche vermeidbar gewesen wären, bereits entstanden und nach Sinn und Zweck der FluggastrechteVO durch Entschädigungszahlungen zu kompensieren – völlig unabhängig von einer deutlich späteren Weiterbeförderung.
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2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO, die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit auf § 709 ZPO. Die Zinsentscheidung ergibt sich aus §§ 280, 286, 288 BGB.