Inhalt

LG München I, Beschluss v. 03.04.2023 – 35 O 7934/22
Titel:

Bayerisches Oberstes Landesgericht, Kapitalanleger-Musterverfahren, Elektronisches Dokument, Schuldverschreibungen, Kapitalmarktinformation, Elektronischer Rechtsverkehr, Schadensberechnung, Vorlagebeschluß, Insolvenztabelle, Insolvenzordnung, Doppelberücksichtigung, Bürgerliche Rechtsstreitigkeit, Aussetzungsbeschlüsse, Tatsächliche Vermutung, Streitgegenständliche Forderung, Sofortige Beschwerde, Parteivorbringen, Qualifizierte elektronische Signatur, Substantiierung, Gesamtschuldner

Schlagworte:
Insolvenztabelle, Schadensersatzanspruch, Kapitalmarktinformation, Kursdifferenzschaden, Musterverfahren, Geschäftsberichte, tatsächliche Vermutung
Fundstelle:
BeckRS 2023, 55920

Tenor

1. Das Verfahren wird gemäß § 8 Abs. 1 KapMuG im Hinblick auf das Kapitalanleger-Musterverfahren Aktenzeichen 101 KAP 1/22 des Bayerischen Obersten Landesgericht ausgesetzt.
2. Die Klagepartei wird darauf hingewiesen, dass die anteiligen Kosten des Musterverfahrens zu den Kosten des Rechtsstreits gehören, wenn die Klage nicht innerhalb von einem Monat ab Zustellung dieses Aussetzungsbeschlusses zurückgenommen wird, § 24 Abs. 2 KapMuG.
3. Die Höhe des Anspruchs, der von den Feststellungszielen des Musterverfahrens betroffen ist, beträgt 59.229,80 € (§ 8 Abs. 4 KapMuG).

Gründe

1
Die Klägerin begehrt die Feststellung, dass ihr für die im Insolvenzverfahren vor dem angemeldete Forderung ein Insolvenzgläubigerrecht im Insolvenzverfahren über das Vermögen der zur laufenden Nummer zusteht.
2
Die Klägerin ist ein österreichischer Fondsanbieter . Die Klägerin erwarb Anteile an einer Schuldverschreibung der () im Zeitraum 09.09.2019 bis 18.06.2020, 10:43 Uhr.
3
Diese Anleihe hatte die am 11.09.2019 begeben in Höhe von 500.000.000,00 €. Die Stückelung betrug 100.000 € (vgl. Anlage K3).
4
Bei der handelte es sich um ein im Jahre 1999 gegründetes Unternehmen, welches sich auf die Erbringung von Zahlungsdienstleistungen spezialisiert hatte.
5
Am 25.08.2020 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen der nachdem zuvor, nämlich im Juni 2020 der Verdacht aufgekommen war, dass die ihre Bilanzen in erheblichem Umfang manipuliert habe, konkret, dass sie eine Summe von 1,9 Milliarden €, angeblich vorhanden auf Treuhandkonten, in die Bilanz aufgenommen habe, die tatsächlich jedoch nicht existiere.
6
Die Klägerin meldete mit Schreiben vom 13.10.2020 bei dem Beklagten Forderungen in Höhe von insgesamt 5.365.764,39 € zur Insolvenztabelle an. Diese wurden in der Insolvenztabelle unter der laufenden Nummer 476 erfasst. Die Klägerin trägt vor, ihr stehe ein Kursdifferenzschaden zu, wie auf Seite 59/65 der Klageschrift ausgeführt. Die Klägerin ist der Ansicht, ihr stünden Ansprüche gegen die gemäß §§ 97,98 WpHG, §§ 862, 31 BGB, § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 331 Nr. 1, 2 HGB und § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 264a StGB zu. Der Beklagte ist der Ansicht, die Klage sei unschlüssig und auch unbegründet. Er habe der Anmeldung der streitgegenständlichen Forderungen im Prüftermin zurecht gemäß § 179 Abs. 1 Insolvenzordnung widersprochen.
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Die geltend gemachten Schadensersatzansprüche seien weder dem Grunde nach, noch in der geltend gemachten Höhe berechtigt.
8
Die Berücksichtigung und Feststellung der Ansprüche der Käufer der Schuldverschreibungen würde zu einer Vervielfachung der Ansprüche führen, jedenfalls aber sei eine Feststellung der Forderungen gemäß § 44 Insolvenzordnung analog unzulässig.
9
Das Landgericht München I hat im Verfahren 3 OH 2767/22 am 14.03.22 einen Vorlagebeschluss gemäß § 6 KapMuG erlassen und das Verfahren dem Bayerischen Obersten Landesgericht vorgelegt. Das Aktenzeichen des Bayerischen Obersten Landesgericht lautet 101 KAP 1/22. Der Vorlagebeschluss ist im Bundesanzeiger veröffentlicht.
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Das Verfahren war nach § 8 Abs. 1 KapMuG im Hinblick auf das vor dem Bayerischen Obersten Landesgericht anhängige Musterverfahren 101 KAP 1/22 auszusetzen. Der Anwendungsbereich des § 1 KapMuG ist eröffnet (1.). Die im Musterverfahren vorgelegten Fragen sind vorgreiflich (2.).
11
Die Klage ist auch schlüssig (3.).
12
1. Der Anwendungsbereich nach § 1 Abs. 1 KapMuG ist vorliegend eröffnet.
13
Gemäß § 1 Abs. 1 KapMuG ist dieses Gesetz anwendbar in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten, in denen ein Schadensersatzanspruch wegen falscher, irreführender oder unterlassener Kapitalmarktinformationen geltend gemacht wird. Öffentliche Kapitalmarktinformationen sind nach Abs. 2 Informationen über Tatsachen, Umstände, Kennzahlen und sonstige Unternehmensdaten, die für eine Vielzahl von Kapitalanlegern bestimmt sind und einen Emittenten von Wertpapieren oder einen Anbieter von sonstigen Vermögensanlagen betreffen.
14
Für die Anwendbarkeit ist es unerheblich, dass es sich vorliegend um eine Tabellenfeststellungsklage handelt, also ein Schadensersatzanspruch nur mittelbar geltend gemacht wird. Entscheidend ist, ob sich ein Bezug zu einer öffentlichen Kapitalmarktinformation herstellen lässt und die Rechtsfolge insofern auf Schadensersatz gerichtet ist (vgl. Gängel/Huth/Gansel, KapMuG, 4. Aufl. 2013, § 1, Rn 10-13). Das ist hier zu bejahen. Auch die Prozessökonomie gebietet insofern eine weite Auslegung, da zahlreiche für den hiesigen Rechtsstreit wesentliche Fragen bereits im Musterverfahren geklärt werden.
15
2. a. Das Musterverfahren 101 KAP 1/22 des Bayerischen Oberlandesgerichts ist auch vorgreiflich. Die Klägerin argumentiert maßgeblich mit der aus ihrer Sicht fehlenden Ordnungsgemäßheit der genannten Geschäftsberichte, die sich unter anderem aus dem aus Klägersicht fehlenden sog. TPA-Geschäft ergibt (vgl. Bl. 49 ff.). Der Vorlage-Beschluss des Landgerichts München I vom 14.03.2022 stellt seinerseits – unter anderem – auf die Geschäftsberichte der für das Jahr 2014, 2015, 2016 und 2017 ab.
16
b. Der Rechtsstreit ist auch nicht aus anderweitigen Gründen entscheidungsreif, ohne dass es auf die Feststellungsziele des genannten KapMuG-Verfahrens ankäme.
17
Insbesondere die Gefahr einer Doppelberücksichtigung im Sinne von § 44 InsO vermag das Gericht nicht zu erkennen. Nach dieser Norm können der Gesamtschuldner und der Bürge eine Forderung, die sie durch eine Befriedigung des Gläubigers künftig gegen den Schuldner erwerben könnten, im Insolvenzverfahren nur dann geltend machen, wenn der Gläubiger seine Forderung nicht geltend macht. Ein derartiger Fall liegt hier nicht vor. Auch eine analoge Anwendung ist nicht geboten. Der Erfüllungsanspruch aus der Anleihe unterscheidet sich erheblich von einem auf Rückübertragung und Naturalrestitution gerichteten Schadensersatzanspruch.
18
Eine Abhängigkeit des Rechtsstreits von den Feststellungszielen ist daher gegeben.
19
3. Die Klage ist auch schlüssig. Die Klagepartei hat die für eine Haftung der notwendigen Tatsachen ausreichend vorgetragen. Dies gilt auch bezüglich der Kausalität. Hinsichtlich der Kausalität besteht eine tatsächliche Vermutung, dass die Klagepartei die Anleihe nicht erworben hätte, wenn die korrekte Geschäftsberichte herausgegeben hätte.
20
Nach der Rechtsprechung des BGH beruhen tatsächliche Vermutungen auf Erfahrungssätzen, die – je nach ihrer Aussagekraft und Stärke – einen für die Beweisführung bedeutsamen Anscheins- oder Indizienbeweis für die behauptete Tatsache begründen können. Eine tatsächliche Vermutung erfordert als Indizienbeweis für eine behauptete Tatsache die Gesamtwürdigung aller Umstände (BGH, Urteil vom 29. September 2021, Gz. VIII ZR 111/20).
21
Ein Sachvortrag zur Begründung eines Klageanspruchs ist schlüssig und damit als Prozessstoff erheblich, wenn die Partei Tatsachen vorträgt, die in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet sind, das geltend gemachte Recht als in ihrer Person entstanden erscheinen zu lassen. Das Gericht muss anhand des Parteivortrags beurteilen können, ob die gesetzlichen Voraussetzungen der an eine Behauptung geknüpften Rechtsfolge erfüllt sind. Genügt das Parteivorbringen diesen Anforderungen an die Substantiierung, kann der Vortrag weiterer Einzeltatsachen nicht verlangt werden. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, welche Angaben einer Partei zumutbar und möglich sind. Falls sie keinen Einblick in die Geschehensabläufe hat und ihr die Beweisführung deshalb erschwert ist, darf sie auch vermutete Tatsachen unter Beweis stellen. Sie ist grundsätzlich nicht gehindert, Tatsachen zu behaupten, über die sie keine genauen Kenntnisse hat, die sie aber nach Lage der Dinge für wahrscheinlich hält (BGH, Versäumnisurteil vom 4.2.2021 – III ZR 7/20).
22
Gemessen an diesem Maßstab erweist sich der klägerische Vortrag als schlüssig. Dies gilt auch hinsichtlich der Schadensberechnung und der Darstellung der Tatbestandsmerkmale des § 826 BGB.